Ob die Natur nur von Wert für den Menschen sei oder ob ihr auch ein eigener Wert zukomme, das ist die Grundfrage der Natur- und Umweltethik. Man kann diese Frage auch anders formulieren: Ist Naturschutz nur etwas, was wir den von der Natur abhängigen der Natur bedürftigen Menschen schulden, oder ist er auch etwas, was wir der Natur selbst schulden? Haben wir – kantisch gesprochen – nur Pflichten in Ansehung von oder auch Pflichten gegenüber der Natur? Hat nur der Mensch eine Würde? Oder gebührt auch der Natur: der Erde, den Meeren, den Wäldern, den Flüssen, den Pflanzen, den Tieren Ehrfurcht? Ist die traditionelle anthropozentrische Ethik angesichts ökologischer Krisenerfahrungen heute noch zu rechtfertigen, oder muss sie einer neuen physiozentrischen Ethik weichen? Je nachdem, welchem Teil der Natur Eigenwert beigemessen werden soll, unterscheidet man verschieden radikale Varianten des Physiozentrismus: den Pathozentrismus (leidende Natur), den Biozentrismus (lebendige Natur) und den radikalen Physiozentrismus (auch unbelebte Natur). Im Folgenden werden die wichtigsten physiozentrischen und anthropozentrischen Argumentationsstrategien und ihre jeweiligen Probleme angezeigt (vgl. ausführlicher Krebs).
Physiozentrische Argumente für Naturschutz
Das Leidens-Argument
Charakterisiert man Moral darüber, dass sie etwas mit dem gleichen Respekt vor dem guten Leben (den Empfindungen und Zwecken) aller zu tun hat, dann kann man argumentieren, dass ein gutes Leben, zumindest im Sinn von Empfindungswohl, auch Tiere führen können und es daher nicht einleuchtet, wieso sich der moralische Mensch nur um das gute Leben von anderen Menschen kümmern soll und nicht auch um das von Tieren. Der fühlenden Natur käme danach moralischer Eigenwert zu, sie wäre um ihrer selbst willen zu schützen, d.h. auch dann, wenn dies der Menschheit zum Nachteil gereicht, wie beim Verzicht auf leidvolle medizinische Tierversuche und leidvolle Tierhaltung. Dieses u.a. von Peter Singer, Tom Regan und Ursula Wolf vertretene "pathozentrische" Argument ist in der tierethischen Literatur allerdings umstritten.
Die zentralen Einwände gegen das Leidens-Argument sind zum ersten ein moraltheoretischer Einwand (das Argument beruhe auf einem utilitaristischen, mitleidsethischen oder aristotelischen Moralverständnis, haltbar sei aber nur das kontraktualistische oder kantische Moralverständnis, danach hätten nur Kontraktpartner oder Vernunftwesen moralischen Status, so Habermas und Tugendhat), zum zweiten ein sprachanalytischer Einwand (Moral handle von Interessen, und Interessen seien an das Vorliegen von Sprache gebunden, so Frey), zum dritten ein anti-egalitärer Einwand (gleiche Rücksicht auf Tiere sei menschenverachtend) und zum vierten der "Policing-Nature-Einwand" (das Argument führe zu der absurden Konsequenz, dass wildlebende Beutetiere vor Raubtieren zu schützen seien).
In Antwort auf den "Policing-Nature-Einwand" ist auf das erwartbar größere menschliche und tierische Leid hinzuweisen, das ein "Policing Nature" zur Folge hätte. Will der Anti-Egalitarist die Hierarchie Mensch – Tier nicht-speziezistisch begründen, d.h. nicht unter bloßem Verweis auf die Gattungszugehörigkeit, dann muss er auf Gründe zurückgreifen (wie Intelligenz oder Moralfähigkeit), die bereits im menschlichen moralischen Universum Hierarchien bedeuten, etwa die Hierarchie Personen – so genannte "Human Marginal Cases" (z.B. Schwerstgeistigbehinderte, Kleinkinder oder Föten). Gegen den sprachanalytisch verengten Interessenbegriff lässt sich ein weiter Interessenbegriff setzen, nach dem ein Wesen ein Interesse an etwas hat, wenn dies sein gutes Leben befördert. Den moraltheoretischen Einwand kann man, auch ohne sich auf das Terrain der Moraltheorie zu begeben, entkräften, indem man auf die Schwierigkeiten verweist, die sowohl der Kontraktualismus als auch der Kantianismus mit der Begründung moralischen Respekts für nicht-kontraktfähige und nicht-vernünftige "Human Marginal Cases" hat.
Das teleologische Argument
Dieses im deutschen Sprachraum vor allem von Hans Jonas und im englischen von Robin Attfield und Paul Taylor vertretene Argument schreibt der Natur im Ganzen oder zumindest der belebten Natur Zwecktätigkeit oder "Teleologie" zu und mahnt die Ausdehnung des moralischen Respekts für die Zwecke der Menschen auf die Zwecke der Natur an. Nach dieser Argumentation ist nicht nur das Töten von Tieren, sondern auch das Pflücken einer Blume moralisch problematisch.
Das Problem bei diesem Argument ist der Zweckbegriff. Man kann nämlich zwischen "funktionalen" und "praktischen Zwecken" unterscheiden. Einen funktionalen Zweck verfolgt z.B. ein Thermostat, wenn er eine bestimmte Raumtemperatur anstrebt. Einen praktischen Zweck verfolge z.B. ich jetzt, wenn ich diese Unterscheidung formuliere und hoffe, Sie damit zu überzeugen. Während mir daran liegt, meinen Zweck zu erreichen, ist es dem Thermostat – anthropomorph gesprochen – "egal", ob er seinen Zweck erreicht. Ist die so genannte Zwecktätigkeit der Natur im wesentlichen funktionaler Art – Krankheitserregern liegt z.B. auch nicht daran, dass sie Menschen und Tiere krank machen –, dann fällt sie nicht in den Bereich subjektiv guten Lebens, den Moral schützen will. Wer dies dogmatisch findet und moralischen Schutz auch auf objektiv oder funktional gutes Leben ausgedehnt wissen will, der muss sich klar machen, dass er damit auch die funktionale Zwecktätigkeit von Thermostaten, Autos und Kernkraftwerken unter moralischen Schutz stellte.
Das holistische Argument
Das vielleicht beliebteste Argument für den Eigenwert der Natur besteht in dem Verweis darauf, dass der Mensch doch Teil der Natur ist, dass sein Gedeihen mit dem Gedeihen des Naturganzen zusammengeht. Nur Dualisten, die den Menschen der Natur gegenüberstellen, könnten das eine gegen das andere ausspielen. Dieses falsche westliche, christliche, männliche dualistische Denken gelte es zu überwinden. Dann würde deutlich, dass der moralische Eigenwert des Menschen im Eigenwert der Natur besteht und umgekehrt. Vertreter dieses Argumentes sind die "Deep-Ecology-Bewegung" und ihr Vorreiter: Arne Naess, der "Ökofeminismus", z.B. bei Val Plumwood, und die "Landethik" im Gefolge von Aldo Leopold z.B. bei J. Baird Callicott, außerdem: Holmes Rolston und Klaus-Michael Meyer-Abich.
Das Problem mit dem holistischen Argument ist, dass der Satz, der Mensch sei Teil der Natur, notorisch vieldeutig ist. Wenn er z.B. nur bedeuten soll, dass der Mensch für sein Überleben und sein gutes Leben von der Natur abhängt, dann ist er sicher richtig, aber er begründet dann keinen moralischen Eigenwert der Natur, sondern nur einen anthropozentrisch motivierten Naturschutz. Wenn der Satz hingegen bedeuten soll, dass, wie in einem Symphonieorchester, das Florieren der Teile im Florieren des Ganzen besteht, dann drückt er angesichts von Aids-Viren, Sturmfluten, Eiszeiten etc. einen falschen Harmonismus aus und ist daher abzulehnen. Will der Satz schließlich die ontologische Unterscheidung zwischen Mensch und Natur aufheben, weil alles, was ist, nichts ist als ein Knoten im biotischen System oder ein Energiebündel im kosmischen Tanz der Energie, dann ist an die lebensweltlich doch sinnvollen Unterscheidungen zwischen Wesen, die fühlen können, handeln können, Verantwortung tragen können, und solchen, die dies nicht können, zu erinnern. Wie würde unser Leben aussehen, wenn wir ohne solche Unterscheidungen auskommen müssten?
Anthropozentrische Argumente für Naturschutz
Das Grundbedürfnis-Argument
Was praktische Naturschutzbelange angeht und nicht Argumentationslogik, ist Naturschutz vor allem deswegen so wichtig, weil die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse nach Nahrung, Obdach, Gesundheit hier und in der Dritten Welt, heute und in der Zukunft, auf dem Spiel steht. Aber das Grundbedürfnis-Argument ist nicht das einzige anthropozentrische Argument. Das Grundbedürfnis-Argument weist der Natur nur instrumentellen Wert zu (vgl. etwa Birnbacher).
Das ästhetische Argument
Einen Eigenwert der schönen und erhabenen Natur kann man mit Martin Seel zunächst darüber begründen, dass ästhetische Betrachtung, sei es von Kunst oder von Natur, eine zentrale menschliche Glücksmöglichkeit darstellt, also "eudaimonistischen" Eigenwert hat. Dann darüber, dass ästhetische Betrachtung, richtig verstanden, verlangt, dass man sich auf das Objekt der Betrachtung einlässt, es nicht für irgendwelche Zwecke instrumentalisiert. Wer ein Gemälde z.B. daraufhin anschaut, was für einen Preis es auf einer Auktion erzielen wird, betrachtet es nicht ästhetisch. In der ästhetischen Betrachtung hat das Objekt der Betrachtung Eigenwert.
Man kann zwar alles, selbst eine Streichholzschachtel oder einen Müllberg, ästhetisch betrachten, aber es gibt Objekte, die besonders zu ästhetischer Betrachtung einladen. Von diesen Objekten sagt man auch unabhängig von einem konkreten Akt ihrer Betrachtung, sie hätten ästhetischen Eigenwert. Der letzte Begründungsschritt muss nun nur noch konstatieren, dass es in der Natur eine unersetzbare Fülle von ästhetischem Eigenwert gibt, man denke an den Horizont des Meeres, bizarre Felsformationen, gewaltige Wasserfälle, idyllische Täler und zarte Rosen. Der Zerstörung dieser Natur durch immer mehr Straßen, Häuser und Fabriken gilt es entgegenzutreten, soll der Mensch nicht um eine seiner wichtigsten Glücksmöglichkeiten gebracht werden.
Das Heimat-Argument
Das ästhetische Argument ist nicht das einzige anthropozentrische Argument, welches der Natur einen eudaimonistischen Eigenwert zuerkennt. Das Heimat-Argument gründet in dem Eigenwert von Individualität oder Differenz, dem Bedürfnis – wie Hermann Lübbe es ausdrückt – "auf rechtfertigungsunbedürftige Weise ein Besonderer, ein Anderer Sein zu können". Natur muss zwar nicht, kann aber häufig Teil menschlicher Individualität sein. Gefragt, wer sie sind, geben viele Menschen u.a. die Landschaft an, aus der sie kommen. Wo Natur als Heimat Teil menschlicher Individualität ist, geht der eudaimonistische Eigenwert von Individualität über auf ihren Teil: Natur. Denn es macht keinen Sinn, dem, was einen Teil der Individualität ausmacht, nur einen instrumentellen Wert für die Individualität zuzuschreiben.
Das Argument vom Sinn des Lebens
Dieses Argument macht gewisse Einsichten der Weisheitslehren, etwa Meister Eckharts oder Dschuang Dsis oder auch der großen Weltreligionen, für die Frage nach dem richtigen Verhältnis des Menschen zur Natur fruchtbar. Danach ist es angesichts des Widerfahrnischarakters unseres Lebens nicht weise, den Sinn des Lebens in der Erfüllung bestimmter Lebensprojekte, z.B. der Karriere oder der Liebe einer Person, zu sehen. Diese Projekte können immer scheitern, und damit verlöre ein solches Leben seinen Sinn. Weise ist dagegen, wie Friedrich Kambartel ausführt, die Haltung, die das Leben selbst als den Sinn des Lebens begreift. Für die oder den Weisen hat das Leben selbst und alles, was dazugehört – andere Menschen, die Natur – einen Eigenwert oder eine "Heiligkeit". Wem es gelingt, sein Leben um seiner selbst willen zu leben, der erfährt die wahre Lebensfreude "beatitudo".
Fazit
Die Anziehungskraft des radikaleren Physiozentrismus beruht im Wesentlichen auf der Unfähigkeit eines instrumentell (auf das Grundbedürfnis-Argument) verkürzten Anthropozentrismus, dem Reichtum und der Tiefe unseres Naturverhältnisses gerecht zu werden. Daher verliert der radikale Physiozentrismus seine Anziehungskraft in dem Moment, in dem man beginnt, das Zwischenterrain des unverkürzten Anthropozentrismus und des gemäßigten Physiozentrismus zu erkunden. Auf der Basis dieser beiden Positionen lässt sich die ganze Bandbreite menschlicher Naturverhältnisse und Gefühle verstehen und rechtfertigen: das Gefühl der Ehrfurcht für die Heiligkeit der Natur, die nicht-instrumentelle Haltung, die die ästhetische Naturkontemplation auszeichnet, sowie die Abscheu gegen die Misshandlung von Tieren.
Literatur
Attfield, R., 1983. The Ethics of Environmental Concern, Oxford.
Birnbacher, D., 1988. Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart.
Callicott, J. B., 1987, The Conceptual Foundations of the Land Ethic. In: J. B. Callicott, (Hrsg.), Companion to a Sand County Almanac, Madison.
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Frey, R. G., 1979, Rights, Interests, Desires and Beliefs. In: American Philosophical Quarterly 16.
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Kambartel, F., 1989, Bemerkungen zu Verständnis und Wahrheit religiöser Rede und Praxis. In: F. Kambartel, Philosophie der humanen Welt, Frankfurt.
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Tugendhat, E., 1997, Wer sind alle? In: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik, Frankfurt.
Wolf, U., 1990. Das Tier in der Moral, Frankfurt.