Um Autonomiebestrebungen im Keim zu ersticken, hat die chinesische Regierung in der Region Xinjiang ein flächendeckendes Überwachungs- und Internierungssystem eingerichtet. Peking verteidigt diese Maßnahmen als notwendig für die Bekämpfung extremistischer Tendenzen.
Nachdem die chinesische Regierung noch im August 2018 in einem Bericht an den UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung die Massenverhaftungen und Internierungslager in der autonomen Region Xinjiang (XAR=Xinjiang Autonomous Region) noch geleugnet hatte , änderte sie im Herbst 2018 ihr Vorgehen: In "Erziehungsanstalten" würden "durch Extremismus beeinflusste Menschen" von ihrem Denken befreit sowie mit "Fortbildungen" für eine bessere Zukunft ausgestattet, erklärte der "Volkskongress" der Autonomen Region Xinjiang.
Geflüchtete ehemalige Inhaftierte, investigative Journalisten und Wissenschaftler haben mit eindeutigen Fakten die Existenz eines umfassenden Überwachungs- und Internierungssystems nachgewiesen: Die im November 2019 durch das Internationale Konsortium für investigative Journalisten veröffentlichten "China Cables" enthielten zahlreiche Dokumente lokaler Behörden der nordwestlichen Region, die eine systematische Festnahme und "Umerziehung" insbesondere von Uiguren, aber auch von Kasachen und Kirgisen, belegen.
Ins Ausland geleakte Listen von Gefangenen (die "Karakax-Liste" vom Februar 2020 und die "Aksu-Liste" vom Dezember 2020) dokumentieren breit gefächerte und willkürliche Internierungskriterien: Schon Telefonate mit dem Ausland, das Anklicken bestimmter Webseiten, die Ausübung eigentlich legaler religiöser Praktiken oder die Tatsache, jünger als 30 Jahre zu sein, sind ausreichend für eine automatisierte Einstufung als "generell nicht vertrauenswürdig". Den ebenfalls durch zahlreiche lokale Dokumente belegten Bericht des Sinologen Adrian Zenz über eine Kampagne zu Zwangssterilisierung und den damit verbundenen Bevölkerungseinbruch stellt Peking in einem Bericht als Beitrag zu "Emanzipation" der uigurischen Frauen dar.
Viele liberale Demokratien kritisieren die Situation in Xinjiang und unterstützen das Anliegen uigurischer Aktivisten. So wurde der 2014 zu lebenslanger Haft verurteilte uigurische Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti wurde im Dezember 2019 durch das EU-Parlament mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet. 2020 und zuletzt im Januar 2021 veröffentlichten die USA u.a. ein "Gesetz zur Verhinderung uigurischer Zwangsarbeit" und beschlossen weitere Importverbote von Produkten aus der Region. Auch Sanktionen gegen ranghohe Beamte der Region wurden ausgeweitet. Kanada und Großbritannien haben ähnliche Importstopps und strengere Berichtspflichten für Unternehmen auf den Weg gebracht. Das EU-Parlament verabschiedete Mitte Dezember 2020 eine Resolution, in der sie die Zwangsarbeit in Xinjiang verurteilt. Auffällig ist, dass abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie phasenweise der Türkei, muslimische Länder die Position der chinesischen Regierung aktiv oder passiv mittragen.
Ursachen und Hintergründe
Wie in Tibet sind die Konflikte in Xinjiang durch ethno-politische Gegensätze bestimmt. Wachsende Religiosität und Autonomiebestrebungen unter Uiguren sowie die rigide Kontrollpolitik Pekings verschärfen den Konflikt weiter. Der 2004 aus verschiedenen Gruppen geformte Weltkongress der Uiguren mit Sitz in München setzt sich für das Recht auf politische Selbstbestimmung in "Ostturkistan" ein. Diese traditionell von Turkvölkern besiedelte Region umfasst Teile Afghanistans, Kasachstans, Kirgistans, Usbekistans und Westchinas.
Die uigurische Bevölkerung profitiert aufgrund mangelnden Zugangs zu Bildungs- und Kapitalressourcen sehr viel weniger von der wirtschaftlichen Entwicklung als die sich zunehmend in der Region ansiedelnden Han-Chinesen. Uiguren sind zudem einem pauschalen Misstrauen sowie zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt.
Jegliche Infragestellung der territorialen Zugehörigkeit Xinjiangs zu China ist aus Sicht der Regierung in Peking nicht nur politisch, sondern auch geostrategisch (Grenzen mit sechs Ländern) und wirtschaftlich unannehmbar. In der autonomen Region befinden sich rd. 30 % der kontinentalen Ölreserven und 34 % der Gasreserven Chinas. Die Region Xinjiang hat im Kontext der von Partei- und Staatschef Xi Jinping formulierten neuen "Seidenstraßeninitiative" ("One belt, one road") an geostrategischer Bedeutung noch zugenommen: Xinjiang ist für die Infrastrukturprojekte, die Chinas Güter, Standards und Einfluss via Zentralasien u.a. bis nach Europa bringen sollen, ein zentraler Korridor.
Medienberichte über Verhaftungen von Uiguren im Ausland und Verbindungen zu unterschiedlichen internationalen Terrornetzwerken haben den Konflikt zusätzlich verkompliziert und verschärft. Peking ist darüber besorgt, dass immer mehr Uiguren das Land verlassen – unter anderem, um sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS) oder der Islamischen Turkestan-Partei (Turkistan Islamic Party – TIP) anzuschließen. Ausländische Medien haben wiederholt von Uiguren unter extremistischen Kämpfern in Syrien berichtet.
Seit Anfang 2016 ist es lediglich zu kleinere Attacken und Schießereien in einzelnen Teilen der XAR gekommen. 2014-2015 erschütterten eine Reihe von Attacken an verschiedenen Orten Chinas gegen Behörden und Zivilisten die Bevölkerung (u.a. am 1. März 2014 am Bahnhof von Kunming in der Provinz Yunnan mit 34 Toten). Der IS hat nach der Hinrichtung einer chinesischen Geisel und Propagandavideos mit China als Zielscheibe Ende 2015 keine weiteren Drohsignale gesendet oder nachweislich Anschläge verübt.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Um eine umfassende Kontrolle über Xinjiang zu sichern, hatte Peking bereits 1954 die sog. Produktionsbrigaden ("bingtuan") ins Leben gerufen. Heute umfassen sie rund 2 Mio. Menschen, davon sind über 80 % Han-Chinesen. Mit autonomer Verwaltungsautorität über verschiedene Städte sowie eigener sozialer Infrastruktur ausgestattet, sollten sie das Grenzland wirtschaftlich erschließen und die Kontrolle über die Uiguren gewährleisten. Der Anteil der han-chinesischen Bevölkerung in Xinjiang ist von knapp 4 % 1947 auf über 40 % gestiegen.
Peking hat sich auch die regionale Entwicklung auf die Fahnen geschrieben. Besonders im Süden der Region sollen die Infrastruktur und der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen verbessert werden. Anfang Januar 2015 beschloss der Staatsrat ein Programm zur gezielten Förderung der Textilindustrie in der Region bis 2020. Durch den Ausbau des Sicherheitsapparates hat der seit August 2016 im Amt befindliche Parteisekretär Chen Quanguo einerseits neue Arbeitsplätze – auch für Uiguren – geschaffen. Unternehmer, die Produkte im Kontext von Sicherheit anbieten, verdienen gut. Andererseits werden die privatwirtschaftlichen Aktivitäten von Uiguren wie auch von Han-Chinesen durch vermehrte Kontrollen stark beeinträchtigt. Chen hat im Herbst 2017 angekündigt, u.a. durch hohe Gehälter und geschenkte Wohnungen 30.000 han-chinesische Lehrer und Angestellte zu rekrutieren, um die Zuwanderung und die Verbreitung der chinesischen Sprache zu fördern.
Seit dem 11. September 2001 hat die chinesische Zentralregierung den Terrorismus-Vorwurf benutzt, um den Wunsch nach uigurischer Selbstbestimmung pauschal zu diskreditieren. Als Reaktion auf die Unruhen im Juli 2009 tauschte Peking eine Reihe von hochrangigen Kadern in der Region aus und setzte zunehmend auf umfassende repressive Maßnahmen. Mit dem im Dezember 2015 verabschiedeten Anti-Terrorgesetz hatte China seine Politik auf eine deutlich verschärfte Rechtsgrundlage gestellt. Das Gesetz bietet mit einer sehr breiten Definition von Terrorismus den Behörden viel Raum für willkürliche und pauschale Repressionen gegenüber Uiguren.
Mit der Einsetzung des Parteisekretärs Chen Quanguo im August 2016 hat sich offensichtlich innerhalb der chinesischen Führung die Auffassung durchgesetzt, dass die Region aus der Sicht Pekings nur durch eine umfassende Assimilierung der kulturellen Identität der Uiguren sowie durch Indoktrinierung, systematische Überwachung und gewaltsame Einschüchterung unter Kontrolle zu bringen ist. Chen hat bereits auf seinem vorherigen Posten in Interner Link: Tibet den dort eskalierten Widerstand mit einem Konzept der systematischen Unterdrückung gestoppt.
Im Oktober (2018) verabschiedete der Volkskongress der autonomen Regierung Xinjiang rechtliche Bestimmungen, die eine "Umwandlung" von "durch Extremismus beeinflusste Menschen“ in "beruflichen Bildungs- und Erziehungsanstalten" legalisierten. Zur Erfassung von potenziellen "Verbrechen" und "verdächtigen Aktivitäten" haben Behörden eine integrierte Daten-Plattform (Integrated Joint Operations Platform – IJOP) geschaffen, die flächendeckend meist Handy-Daten speichert, auswertet und "verdächtige“ Personen automatisch markiert.
Nach Schätzungen von ausländischen Experten sind zwischen 1 und 3 Mio. Uiguren und andere muslimische Minderheiten in den Umerziehungs- und Straflagern mehrere Wochen oder Monate gegen ihren Willen interniert und während dieser Zeit oft mehrmals verlegt worden. Nach ihrer Entlassung werden Uiguren laut wissenschaftlichen Studien auf Basis lokaler Dokumente häufig in paramilitärisch überwachten Produktionsstätten zu Arbeiten im Niedriglohnsektoren, wie Baumwollpflücken oder Textilarbeiten, gezwungen.
Im September 2020 hatten chinesischen Behörden den von ausländischen Forschern dokumentierten drastischen Geburtenrückgang (von rund 15,88 pro 1000 Personen im Jahr 2017 auf 10,69 pro 1.000 Personen im Jahr 2018) und die gleichzeitige drastische Zunahme an Sterilisationen zugegeben. Die Behörden wiesen Vorwürfe von Zwang zurück und stellten dies als eine "erfolgreich durchgesetzte Familienplanungspolitik“ und "Befreiung und Emanzipation" von Frauen dar.
Geschichte des Konflikts
Ethnolinguistische Gruppen in China (mr-kartographie)
Nach der Festigung der chinesischen Herrschaft durch die Produktionsbrigaden und der Gründung der autonomen Region Xinjiang (1955) kam es regelmäßig zu Protesten. Bei einer Revolte im Gemeindeverwaltungsbezirk Baren im April 1990 starben 50 Menschen. Auf die erste großangelegte Verhaftungswelle von Uiguren 1996 folgte im Februar 1997 der Aufstand von Ghulja/Yinning, bei dem mindestens neun Menschen starben. Nach wiederholten Bombenattacken mit Todesopfern und Repressionsakten in den 1990er Jahren blieb die Lage von 2000 bis 2007 überwiegend ruhig. Eine Bombenattacke auf eine Polizeistation in der Stadt Kashgar unmittelbar vor Beginn der Olympischen Sommerspiele 2008, bei der 16 chinesische Sicherheitsbeamte getötet wurden, kündigte die bis heute anhaltende Eskalation des Konflikts an.
Die Unruhen im Juli 2009 haben dem Xinjiang-Konflikt eine neue Dimension verliehen. Am 5.7.2009 waren friedliche Demonstrationen von Uiguren in der Regionshauptstadt Ürümqi nach Zusammenstößen mit Sicherheitskräften zu gewalttätigen Attacken gegen han-chinesische Passanten eskaliert. Nach offiziellen Angaben starben 197 Menschen, mehr als 1.600 wurden verletzt. Tage vorher hatten u.a. uigurische Exil-Gruppen im Internet zu Demonstrationen aufgerufen. Die Demonstranten forderten die Aufklärung des Todes zweier uigurischer Wanderarbeiter, die bei Auseinandersetzungen in einer Spielzeugfabrik in Südchina Ende Juni ums Leben gekommen waren. Gerüchte um die Vergewaltigung einer uigurischen Wanderarbeiterin hatten zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen geführt.
Ähnlich wie im Tibet-Konflikt vertreten die uigurische und die chinesische Seite unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf die Geschichte Xinjiangs. Uiguren verweisen neben der Entstehung unabhängiger uigurischer Imperien in der Region des heutigen Xinjiang nach dem 8. Jh. besonders auf die Ausrufung der ersten Republik Ostturkistans durch Uiguren und andere Turkvölker im November 1933 im Gebiet um die Stadt Kashgar. Durch den Einfall von hui-chinesischen Warlords kam sie 1934 zu Fall. Von 1944 bis 1949 entstand mit sowjetischer Hilfe im Norden Xinjiangs die zweite Republik Ostturkistan, die durch die Ankunft der chinesischen Volksbefreiungsarmee zu Ende ging.
Aus Sicht der Uiguren haben die Chinesen damals den unabhängigen Staat gewaltsam besetzt. Für China war die Errichtung der 2. Republik Teil der kommunistischen Revolution. Die chinesischen Soldaten seien laut Beijing von den Uiguren als Befreier begrüßt worden. Auch verweist China auf die Zugehörigkeit der Region zum chinesischen Kaiserreich der Qing. 1882/84 schloss der damalige Kaiser Guangxu das Gebiet als Provinz mit dem Namen "Xinjiang" (Neues Land) dem Reich an.
Kristin Shi-Kupfer ist Professorin für Gegenwartsbezogene Sinologie an der Universität Trier und Senior Associate Fellow der Berliner Denkfabrik MERICS. Dort hat sie von Oktober 2013 bis Oktober 2020 den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien geleitet. Shi-Kupfer hat von 2007 bis 2011 als Korrespondentin für verschiedene deutschsprachige Medien aus China berichtet. Sie war u.a. im März 2008 in Lhasa, Tibet und 2009 bei den Unruhen in Urumuqi, Xinjiang als Berichterstatterin vor Ort.
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