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Expansion, Qualität, Gerechtigkeit | Indien | bpb.de

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Expansion, Qualität, Gerechtigkeit Herausforderungen des indischen Bildungssystems

Dr. Doris Hillger

/ 10 Minuten zu lesen

Indiens Regierung hat für den Bildungsbereich den wegweisenden Grundsatz "Expansion, Qualität, Gerechtigkeit" formuliert. Allerdings wurde bislang nur die Expansion erfolgreich gemeistert. Die Gewährleistung von qualitativen Mindeststandards in Schule, Hochschule und Berufsbildung ist dagegen bislang ebenso wenig gelungen wie die damit verbundene Sicherstellung von Chancengerechtigkeit. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Schulkinder in Uniform in Maharashtra
Foto: Rainer Hörig

Mit seinen mehr als 1,4 Millionen staatlich anerkannten Schulen, etwa 33.000 Colleges und 659 Universitäten ist das indische Bildungssystem heute eines der größten weltweit. Trotz des beeindruckenden Anstiegs der Einschulungszahlen und Übergangsraten in die weiterführenden Schulen sowie dem massiven Ausbau des Hochschulsystems steht es vor enormen Herausforderungen. Der Mangel an qualifizierten Lehrkräften sowie rückläufige Schülerleistungen in staatlichen Schulen und die daraus resultierenden steigenden Ausgaben der Haushalte für Bildung in Privatschulen werfen die Frage nach einem vernünftigen Verhältnis von Expansion und Qualität auf.

Bildung seit der Unabhängigkeit: Ein Überblick

Nach der Unabhängigkeit wurde der flächendeckende Zugang zu staatlicher Schulbildung in den Handlungsdirektiven zur indischen Verfassung (Directive Principles of State) als innerhalb von zehn Jahren zu erreichendes Ziel zentral- und bundesstaatlicher Politik festgeschrieben. Da aber Bildung in der föderalen Verfassung Indiens zunächst reine Länderaufgabe war und es den Bundesstaaten freigestellt war, eine Schulpflicht einzuführen, entwickelte sich das öffentliche Schulsystem in den ersten 40 Jahren der Republik höchst divergent. Dies ist zum einen auf die unterschiedlichen Ausgangslagen zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit zurückzuführen, zum anderen auf die Priorität, die die Landesregierungen sozialen Reformen im Allgemeinen und der Bildungspolitik im Besonderen zumaßen.

Alphabetisierungsraten – ausgewählte Bundesstaaten

BundesstaatAlphabetisierungsrate (%)
1951196119711981199120012011
Andhra Pradeshna21,1924,5735,6644,0860,4767,02
Bihar13,4921,9523,1732,3237,494761,8
Delhina61,9565,0871,9475,2981,6786,21
Gujarat21,8231,4736,9544,9261,2969,1478,03
Himachal Pradeshnananana63,8676,4882,8
Kerala47,1855,0869,7578,8589,8190,8694,0
Madhya Pradesh13,1621,4127,2738,6344,6763,7469,32
Maharashtra27,9135,0845,7757,2464,8776,8882,34
Rajasthan8,518,1222,5730,1138,5560,4166,11
Tamil Naduna36,3945,454,3962,6673,4580,09
Uttar Pradesh12,0220,8723,9932,6540,7156,2767,68
Indien gesamt18,3328,334,4543,5752,2164,8472,99


Quelle: Economic Survey 2012-13, Office of the Registrar General, 2012, Ministry of Home Affairs, Government of India und Zensus 2011

Um die Ausbildung der politischen Elite zu gewährleisten wurde früh ein Netz zentralstaatlich finanzierter und kontrollierter Schulen (Central Schools) aufgebaut, die vor allem für die Schulbildung der Kinder von Staatsdienern sorgen sollten. Neben den aus der christlichen Mission entstandenen Convent Schools bildeten sie lange das Rückgrat der Eliteausbildung in Indien. Seit den 90er Jahren verbreiteten sich private sogenannte internationale Schulen (International Schools), oftmals gegründet von Unternehmern oder Politikern, die inzwischen ebenfalls erheblich zur Ausbildung der Eliten beitragen.

Der Hochschulsektor entwickelte sich ähnlich: Die zentralstaatlich finanzierten Central Universities und Indian Institutes konnten sich aufgrund der vergleichsweise großzügigen finanziellen Ausstattung zu international konkurrenzfähigen Bildungs- und Forschungseinrichtungen entwickeln, während die Mehrzahl der von den Bundesstaaten getragenen State Universities und deren angeschlossene Colleges, die die Masse der Studierenden ausbilden, unter Unterfinanzierung und Mangel an qualifiziertem Lehrpersonal litten.

Struktur des Bildungssystems

Prägend für das indische Bildungssystem ist die Koexistenz verschiedener Schulformen – staatliche und private Institutionen einerseits sowie formale und nicht formale Institutionen andererseits. Seit 1986 gibt es eine landesweit verbindliche Grundstruktur der Schulbildung, die so genannte Zehn-Plus-Zwei-Struktur – zehn Jahre Schulausbildung bis zur Sekundarstufe und zwei Jahre Oberstufe. Zusätzlich gibt es berufsbildende Schulen, die Schüler nach Abschluss der Sekundarstufe auf den Eintritt in das Berufsleben vorbereiten (z.B. Polytechnische Schulen).

Der Abschluss der Oberstufe berechtigt zur Teilnahme an den Aufnahmeprüfungen der Universitäten, Technischen Hochschulen und Engineering Colleges. An den Universitäten und Colleges gibt es in der Regel dreijährige Bachelor-Studiengänge, darauf aufbauend zwei Jahre bis zum Master und weitere zwei bis drei Jahre bis zum Doktorgrad. An den Technischen Hochschulen führt das Studium meist nach vier Jahren zum Bachelor. Ferner gibt es Fernuniversitäten auf zentral- und bundesstaatlicher Ebene, die ein Studium neben der Erwerbstätigkeit ermöglichen.

(© Weltbank 2008)

Neben den beschriebenen Institutionen des formalen Bildungssystems haben sich diverse nicht-formale Strukturen entwickelt, die sich bis in den Hochschulbereich erstrecken. Nicht formale Institutionen staatlicher und privater Träger richten sich an Kinder und Jugendliche, denen aus verschiedenen Gründen – Erwerbstätigkeit, Arbeitsmigration der Familie oder Versorgung jüngerer Geschwister – der Besuch einer formalen Schule nicht möglich ist. Sie decken ebenfalls den Bereich Erwachsenenbildung ab.

Wirtschaftliche Öffnung und Bildungsreformen

Seit Ratifizierung der National Policy on Education 1986 ist Bildung eine gemeinsame Aufgabe von Zentralregierung und Bundesstaaten. Das Gesetz ermöglichte es, nationale Bildungsprogramme für rückständige Regionen durchzuführen, die zum größten Teil von der Zentralregierung finanziert und gesteuert wurden.

In der Folge der Zahlungsbilanzkrise von 1990 wurden als Teil des Bedingungspaketes für die Kredite von Weltbank und Internationalem Währungsfonds umfangreiche Reformen zur wirtschaftlichen Öffnung und zur Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltung angeschoben, die auch das Bildungssystem maßgeblich veränderten. Hatte die Zentralregierung bislang überproportional in die Sekundar- und Tertiärbildung investiert, so verschob sich nun der Fokus auf die Elementarbildung: zwischen 1990 und 2005 wuchs deren Anteil an den Gesamtausgaben von 14 auf über 50 Prozent. Die wichtigste Initiative war das von der Weltbank finanzierte District Primary Education Programme (DPEP). Dieses Projekt hatte Modellcharakter für viele der nachfolgenden Reformen des Schulbildungssektors.

Schulkinder in Uniform in Maharashtra
Foto: Rainer Hörig

Mit der Auflage des nationalen Bildungsprogramms "Bildung für alle" (Sarva Shiksha Abhiyan, SSA) zur Universalisierung der Elementarbildung im Jahr 2002 und den damit verbundenen Maßnahmen zur Sicherung der Infrastruktur übernahm die Zentralregierung die Kontrolle über den Aufbau des öffentlichen Schulsystems in den Bundesstaaten. Seither sind die Einschulungsraten flächendeckend weiter gestiegen. Rückläufig entwickelt haben sich die gravierenden Unterschiede zwischen dem Alphabetisierungsniveau in ländlichen und städtischen Gebieten einerseits sowie zwischen den Geschlechtern andererseits. So ist die Differenz zwischen ländlichen und städtischen Gebieten in den letzten zehn Jahren von 20 auf 15 Prozent gesunken, zwischen Männern und Frauen im Landesdurchschnitt von 22 auf 16 Prozent.

Die Einschulungsraten auf Grundschulebene sind inzwischen in allen Bundesstaaten sowohl für Mädchen als auch für Jungen bei annähernd 100 Prozent angekommen, nehmen jedoch in der Sekundarstufe deutlich ab. Die Übergangsrate von der Grundschule in die Mittelschule (Klasse 6-7) lag 2011 landesweit bei 87 Prozent, in der Sekundarstufe I (Klasse 8-10) waren es nur noch 71 Prozent.

Um den Zugang aller Haushalte zu einer Sekundarschule bzw. zur Oberstufe sicherzustellen hat die indische Zentralregierung 2009 das Nationale Programm für die Sekundarbildung (Rashriya Madhyamik Shiksa Abhiyan, RMSA) aufgelegt. Analog zum SSA wird zunächst auf die Aufstockung der Infrastruktur bestehender und den Aufbau neuer Sekundarschulen gesetzt, gleichzeitig sollen alle Schulen einem einheitlichen Prüfungsregime unterworfen werden. Im Sekundarschulsektor ist der Anteil der Privatschulen deutlich höher als im Elementarbereich, im Landesmittel waren es bereits 2008 etwa 53 Prozent.

Mit der Universalisierung der Elementarbildung sind zwei bedenkliche Trends verbunden: Seitdem im Jahr 2010 das Grundrechts auf Bildung (Right to Education, RTE) in Kraft getreten ist, ist ein messbarer Abfall der ohnehin schwachen Schülerleistungen vor allem in staatlichen Schulen zu verzeichnen. Dies führt zu einem Exodus aus dem staatlichen Schulsystem, der sowohl dem öffentlich wahrgenommenen Verfall staatlicher Schulen als auch dem langsam steigenden Einkommen der Landbevölkerung geschuldet ist. Mit der wachsenden Kluft zwischen dem Lernerfolg von Schülern in privaten und staatlichen Einrichtungen schrumpft die Chance auf Bildungsaufstieg der Kinder aus armen Familien, die sich die Aufwendung von Schulgebühren nicht leisten können.

Quantität auf Kosten von Qualität?

Ähnlich wie in Deutschland gab es auch in Indien lange keine systematischen Schülerleistungsstudien. Erst mit dem von der Nichtregierungsorganisation Pratham veröffentlichten Annual Status of Education Report (ASER) werden seit 2005 regelmäßig Leistungsstände im Lesen und Rechnen erhoben, sowohl in staatlichen als auch in privaten Schulen. Die Ergebnisse rüttelten die indische Öffentlichkeit auf: Der ASER Studie zufolge konnten landesweit nur 55 Prozent der Fünftklässler einen Text der Klassenstufe 2 fehlerfrei lesen und verstehen, während nur 35 Prozent eine einfache Divisionsaufgabe bewältigten. In privaten Schulen lag der Anteil im Schnitt 10 Prozent höher. Allerdings – und das ist wichtig zur Kenntnis zu nehmen – wird die ASER-Erhebung bislang nur in ländlichen Gebieten durchgeführt. Das Leistungsniveau in den größeren Städten dürfte aufgrund der Vielzahl privater, internationaler und zentralstaatlicher Schulen deutlich höher liegen.

Einen weiteren Hinweis auf die Qualität der Schulbildung unter Einbezug städtischer Schulen gibt die PISA Studie von 2009. Erstmals nahmen Schüler aus den Bundesstaaten Tamil Nadu im Süden und Himachal Pradesh im Norden des Landes an PISA teil. Beide gelten als Leistungsspitzen innerhalb Indiens, doch die Ergebnisse waren ernüchternd: Nur 11 bis 15 Prozent der getesteten Schüler und Schülerinnen erreichten die von der OECD definierte Basiskompetenz zur erfolgreichen Teilnahme am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben (OECD-Durchschnitt: 81 Prozent).

Wie der Annual Status of Education Report für 2012 zeigt, fiel das Kompetenzniveau in den letzten drei Jahren auf dem Land flächendeckend ab, wobei der Trend in Privatschulen deutlich schwächer ausgeprägt ist. Dies wird auf eine Reihe von Reformen zurückgeführt, die mit Inkrafttreten des RTE einsetzen. Sie sehen die Abschaffung der Jahresabschlussprüfung und Ersatz durch ein System der kontinuierlichen Evaluierung der Kinder vor. Zudem wurde das Sitzenbleiben in den Klassenstufen 1 bis 8 abgeschafft. Dies entspricht zwar dem Stand der internationalen bildungswissenschaftlichen Debatte, das Wegfallen des Lern- bzw. Lehrdrucks und die Überforderung der Lehrkräfte mit der kontinuierlichen Evaluierung führt jedoch offenbar dazu, dass der Lernerfolg sinkt.

In der Folge verschärft sich die Abwanderung aus den staatlichen Schulen: Im Mittel steigt auf dem Land seit 2010 der Anteil an Grundschülern, die Privatschulen besuchen, um 10 Prozent jährlich, und dürfte im Landesdurchschnitt inzwischen bei 40 Prozent liegen. In den Städten bedienen private Schulen je nach Bundesstaat zwischen 60 und 90 Prozent aller Schüler. Unter den Bedingungen eines derart gespaltenen Schulsystems ist das Grundrecht auf eine qualitativ anständige, kostenfreie Grundbildung für alle Kinder nicht mehr als Makulatur, zumal die Qualitätskomponente – also der Lernerfolg der Schüler – nicht einklagbar ist.

Massiver Ausbau des Hochschulsektors

Waren die letzten 15 Jahre geprägt von Investitionen in die Infrastruktur des Elementarbildungssektors, so hat sich im elften und zwölften Fünfjahresplan der Fokus deutlich auf die tertiäre Bildung und die Berufsausbildung verschoben. So defizitär das Schulsystem insgesamt auch sein mag, produziert es doch eine rasant wachsende Zahl an Schulabsolventen, die Jahr für Jahr auf den Arbeitsmarkt und in die Hochschulen drängen. Hinzu kommt die Demographie – die Hälfte der indischen Bevölkerung ist jünger als 25 Jahre.

Den jährlich etwa 13 Millionen Schulabsolventen und Schulabbrechern stehen etwa 3,5 Millionen Studien- und Ausbildungsplätze gegenüber. Um den Bedarf der Wirtschaft an qualifizierten Arbeitskräften zu decken strebt die Unionsregierung mit ihrem National Skill Development Program die Qualifizierung von 500 Millionen jungen Arbeitskräften und eine Erhöhung der Studierendenquote von momentan knapp 18 auf 30 Prozent bis 2022 an. Der hierzu erforderliche Ausbau der Studien- und Ausbildungsplätze soll nach dem Willen der Regierung auch durch massives privatwirtschaftliches Engagement realisiert werden.

Der Hochschulsektor hat bereits in den letzten sieben Jahren ein rasantes Wachstum erfahren: zwischen 2006 und 2013 entstanden rund 12.000 neue Colleges und 270 Universitäten, 65 Prozent davon im privaten Sektor. Über 60 Prozent aller Studierenden sind in privaten Colleges und Universitäten eingeschrieben. Wie im Schulsektor ist auch hier die Qualität der Einrichtungen höchst unterschiedlich.

Gemessen am jeweiligen Anteil an der Bevölkerung ergibt sich in puncto Zugang zum Hochschulsystem ein differenziertes Bild. Während der Anteil der Studierenden aus den unteren Kastengruppen (Scheduled Castes), die über Jahrzehnte im Fokus der Inklusionspolitik standen, sich mit 12,5 Prozent ihrem Bevölkerungsanteil angenähert hat, sind vor allem Angehörige der indischen Stammesbevölkerung (Schedules Tribes) und die muslimische Bevölkerung in den Hochschulen deutlich unterrepräsentiert. So waren 2011 nur jeweils etwas über 4 Prozent der Studierenden Angehörige der Scheduled Tribes (Bevölkerunganteil 8,6 Prozent) oder Muslime (Bevölkerungsanteil ca. 14 Prozent).

Mit Beginn der elften Planungsperiode (2007-2011) investierte die Zentralregierung massiv in den Ausbau der sogenannten Exzellenzzentren, indem nach regionalem Proporz unter anderem neun neue Indian Institutes of Technology (IITs) sowie fünf Indian Institutes of Science Education and Research (IISER) und 15 Central Universities aufgebaut wurden. Absolventen dieser Einrichtungen haben exzellente Karrierechancen auf dem indischen und dem internationalen Arbeitsmarkt. Ein Blick auf die Produktivitätsrate im indischen Wissenschaftssystem, gemessen an der Publikationsdichte sowie Anzahl der internationalen Kooperationen, zeigt, dass Indien in den letzten zehn Jahren einen deutlichen Anstieg seiner wissenschaftlichen Produktivität verzeichnen konnte. Deutschland ist hinter den USA wichtigster internationaler Kooperationspartner.

Dringend notwendige Reform der Berufsbildung

Die Masse der Studierenden wird jedoch nicht in den Exzellenzzentren, sondern in den bundesstaatlichen Universitäten und Colleges (State Universities / State Colleges) ausgebildet, die fast flächendeckend unter Unterfinanzierung und einem Mangel an qualifizierten Lehrkräften leiden. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass trotz steigender Absolventenzahlen ein Fachkräftemangel herrscht, da die große Masse der Studienabgänger nicht die adäquaten Qualifikationen für die wachsende Wirtschaft mitbringt. Die im Auftrag verschiedener internationaler und indischer Großkonzerne durchgeführte National Employability Study stuft die unmittelbare Beschäftigungsfähigkeit indischer Absolventen im Mittel bei unter 15 Prozent ein. Der Großteil der Absolventen braucht sektoren- und funktionsübergreifend eine intensive betriebliche Fortbildung, um in Unternehmen einsetzbar zu sein.

Vor diesem Hintergrund hat in den letzten zehn Jahren die lange politisch vernachlässigte Berufsausbildung verstärkt Aufmerksamkeit erfahren. Der Fokus liegt auf dem Ausbau des Netzes der berufsbildenden Schulen, der Überarbeitung der Lehrpläne und einer verbesserten Ausbildung der Ausbilder – letzteres unter verstärkter Beteiligung der Industrie und ausländischer Kooperationspartner – um Qualität und Reichweite der beruflichen Ausbildung zu stärken. Gleichzeitig soll über ein Netz an Community Colleges die an Schlüsselkompetenzen orientierte Weiterbildung unqualifizierter Erwerbstätiger in ländlichen Regionen vorangetrieben werden, um die Produktivität im informellen Sektor flächendeckend steigern zu können.

Ausblick

Betrachtet man die Formel "Expansion, Qualität, Gerechtigkeit", die die indische Regierung seit der elften Planungsperiode für alle drei Bildungssektoren ausgegeben hat, als ein Kontinuum, so wurde bislang vor allem die Expansion erfolgreich gemeistert. Indien hat jedoch sowohl bei der Gewährleistung von qualitativen Mindeststandards wie auch der Chancengerechtigkeit noch große Aufgaben vor sich.

Ausgehend von den Entwicklungen des Schulsektors in den letzten 25 Jahren steht zu befürchten, dass sich auch im tertiären und berufsbildenden Sektor ein ähnlich fragmentiertes Szenario etablieren wird, bestehend aus einer Vielzahl privater Anbieter unterschiedlichster Qualität, einem unter seinen Möglichkeiten bleibenden Netz staatlicher Institutionen und einem Parallelsystem informaler, dezentral organisierter Einrichtungen für die unterversorgte Landbevölkerung. Ohne eine Harmonisierung des Bildungssystems auf allen Ebenen wird sich Chancengerechtigkeit nicht verwirklichen lassen.

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Dr. Doris Hillger ist Regionalmanagerin für Indien/Südasien im OAV – German Asia-Pacific Business Association. Sie promovierte am GIGA Institut für Asienstudien zum Thema Bildungsgovernance in Indien und leitete von 2009 bis 2012 das Heidelberg Center South Asia der Universität Heidelberg in New Delhi.