Als die NSDAP mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 an die Macht kam, begann sie sogleich damit, die noch so junge rechtliche Gleichstellung der deutschen Jüdinnen und Juden mittels verschiedener gesetzgeberischer Schritte rückgängig zu machen. Dieser umfassende Entrechtungsprozess gipfelte in der Vertreibung und Ermordung der deutschen und europäischen Juden. Der Antisemitismus wurde wieder allgegenwärtig und begann erneut die Lebenswelt der deutschen Juden zu bestimmen – zunächst in alltäglichen Momenten wie Verbotsschildern, die sich gegen Juden auf Parkbänken richteten, alltäglichen Hetzereien in Zeitungen wie dem "Stürmer" oder im bereits im April 1933 erlassenen Verbot des Schächtens. Ziel war es, Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben hinauszudrängen wie sie der gesellschaftlichen Teilhabe Schritt für Schritt wieder auszuschließen.
Zwischen Ende November 1938 und dem 1. September 1939 ermöglicht Großbritannien rund 10.000 jüdischen Kindern aus dem NS-Herrschaftsbereich die Einreise. Die meisten sahen ihre Eltern nie wieder und überlebten als einzige ihrer Familien die Vernichtung. (© picture-alliance, picture alliance/AP Images | Kirsty Wigglesworth)
Zwischen Ende November 1938 und dem 1. September 1939 ermöglicht Großbritannien rund 10.000 jüdischen Kindern aus dem NS-Herrschaftsbereich die Einreise. Die meisten sahen ihre Eltern nie wieder und überlebten als einzige ihrer Familien die Vernichtung. (© picture-alliance, picture alliance/AP Images | Kirsty Wigglesworth)
In diesen Anfangsjahren gehörten die Ausgrenzung und Verdrängung der jüdischen Minderheit zu den NS-Leitprinzipien, das dementsprechende, schrittweise Vorgehen wurde von Zeitgenossen bereits als "kalter Pogrom" erkannt. Zu diesen frühen Regelungen gehörten erste Ausbürgerungen, zunächst auf Grundlage des Ausbürgerungsgesetzes vom Juli 1933. Dies führte die Möglichkeit ein, alle als illoyal angesehenen Staatsangehörigen sowie während der Weimarer Republik eingebürgerte Juden wieder auszubürgern. Dies traf vor allem tausende vorwiegend osteuropäische Juden, aber auch Prominente wie die Publizistin und politische Theoretikerin Hannah Arendt (1906–1975), die daraufhin schlagartig staatenlos wurden.
Der Machtantritt der Nationalsozialisten setzte auch der beschriebenen Veränderung und Auffächerung des jüdischen Berufsprofils ein schnelles Ende. Besonders einschneidend war das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, mit dem Juden nach nur einem Jahrzehnt Zugänglichkeit zum Staatsdienst wieder aus diesem ausgeschlossen wurden. Einzig eine aktive Beteiligung im Ersten Weltkrieg konnte deutsche Juden noch eine Zeit lang vor dieser rechtlichen Ausgrenzungspraxis und Verfolgung schützen. So waren verdiente Frontkämpfer, organisiert im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, zunächst von einigen Regelungen ausgenommen.
Die Kaliski-Waldschule in Berlin wurde von der jüdischen Pädagogin Lotte Kaliski nach einem koedukativen Reformkonzept als Privatschule gegründet und mehrheitlich von jüdischen Schülerinnen und Schülern besucht. In der NS-Zeit fanden sie dort zeitweilig Schutz und Ermutigung angesichts einer zunehmend feindlichen Umwelt. (© bpk)
Die Kaliski-Waldschule in Berlin wurde von der jüdischen Pädagogin Lotte Kaliski nach einem koedukativen Reformkonzept als Privatschule gegründet und mehrheitlich von jüdischen Schülerinnen und Schülern besucht. In der NS-Zeit fanden sie dort zeitweilig Schutz und Ermutigung angesichts einer zunehmend feindlichen Umwelt. (© bpk)
Mit Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze von 1935 veränderten sich obendrein die Kriterien, nach denen deutsche Juden gezählt wurden. Nach den neuen NS-Rassekriterien galten nun außer den 500.000 Juden, die Mitglieder jüdischer Gemeinden waren, auch diejenigen als Juden, die keiner Gemeinde angehörten oder längst christlich getauft oder zu ihrer jüdischen Zugehörigkeit vollständig auf Distanz gegangen waren. Die nationalsozialistische Rassenideologie unterschied zwischen "Voll-, Dreiviertel- und Halbjuden" und schuf zudem die Sondergruppe der "Mischlinge".
Die Gewalttätigkeit der NS-Politik trat etappenweise zutage. Einschneidend waren die Novemberpogrome, in denen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 Synagogen in Brand gesetzt und zerstört, tausende Geschäfte demoliert und unzählige Wohnungen verwüstet wurden. Etwa 100 Juden starben, zahlreiche wurden verletzt und rund 30.000 Jüdinnen und Juden wurden verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Vor allem nach den traumatischen Ereignissen während der Novemberpogrome nahm die Auswanderung deutscher Jüdinnen und Juden zu.
Wenige Monate zuvor hatte nach dem "Anschluss" Österreichs im schweizerischen Evian-les-Bains eine internationale Konferenz mit Vertretern einiger Einwanderungsländer stattgefunden. Doch mit nur wenigen Ausnahmen blieben die vertretenen Länder in ihrer Aufnahmepraxis restriktiv. Die USA behielten ihre Begrenzung der Einwanderungsquote auf jährlich 27.370 Immigrantinnen und Immigranten aus Deutschland und Österreich bei. In Lateinamerika fanden zwischen 1933 und 1943 etwa 10.000 Jüdinnen und Juden aus Deutschland und Österreich Zuflucht. Ab Dezember 1938 konnten zudem mit den "Kindertransporten" nach Großbritannien und Schweden etwa 15.000 jüdische Kinder gerettet werden.
Die jüdische Bevölkerung verringerte sich bis Kriegsausbruch infolge der starken Auswanderung um rund 250.000.
QuellentextEin kalter Pogrom
Ende März
Besuchsraum in einer Berliner SA-Kaserne. Den engen finstern Raum teilen zwei drahtmaschige Gitter, zwischen denen SA-Männer patrouillieren. An den Wänden Fahnenschmuck und Bilder nationaler Führer. Diesseits des Gitters drängt sich eine Menge von Besuchern jedes Alters und jedes Standes; untern ihnen fällt Frau Rosenfeld auf, die besonders erregt hin- und hergeht. Elisabeth, Dorothea und Martin treten ein. […]
Frau Rosenfeld: wendet sich erregt an einen SA-Mann Können Sie mir helfen, bitte, sagen, ob mein Mann Dr. Rosenfeld, hier ist? Dr. Eugen Rosenfeld. Ob er hier ist? Der SA-Mann mustert sie und wendet sich von ihr ab. […]
Frau Rosenfeld: sich an einen anderen SA-Mann wendend Bitte, wird mein Mann, Dr. Rosenfeld, in die Sprechstunde kommen? Bitte, sagen Sie mir, wird er wirklich kommen?
SA-Mann: mustert sie verächtlich und sagt halblaut Saujüdin!
Frau Rosenfeld: in höchster Erregung zu der neben ihr stehenden Elisabeth Sehen Sie, meine Dame, so hetzt man mich seit vier Wochen von einer Behörde zur andern! Vom Staatsanwalt zu einem SA-Kommando, von einer SA-Kaserne zum Gefängnis, vom Gefängnis zu einer andern SA-Kaserne! Überall stellen sie mir eine Sprecherlaubnis aus, und nirgends kommt mein Mann zur Sprechstunde! Sie verhöhnen mich nur …
Elisabeth: Beruhigen Sie sich; auch ich habe meinen Sohn vier Wochen lang vergeblich gesucht. Wir haben es jetzt alle schwer …
Frau Rosenfeld: Sie können sich aber nicht vorstellen, durch was für eine Schändlichkeit wir ins Unglück gekommen sind! Mein Mann ist Arzt. Einer seiner ältesten Patienten war ein kleiner Beamter, ein Justizsekretär mit einer zahlreichen Familie. Mein Mann hat die Frau dieses Menschen durch eine schwere Operation gerettet und die Kinder jahraus jahrein behandelt. Dieser Mensch kommt in den ersten Tagen nach dem Umsturz und sagt: "Die Juden sind doch eben solche Menschen wie wir; viele Juden sind sehr gute Menschen, wie Sie, Herr Doktor, was man jetzt mit ihnen aufführt, ist wahrhaftig eine Schande!" Und mein Mann ist so vertrauensvoll, ihm zu antworten: "Ja, was jetzt in Deutschland geschieht, ist nichts anderes als ein kalter Pogrom!" Und er hat doch die Wahrheit gesagt –
Elisabeth: Sprechen Sie nicht so laut! Die Wahrheit darf man nicht mehr sagen …
Frau Rosenfeld: In der gleichen Nacht dringt ein SA-Trupp bei uns ein. Sie reißen meinen Mann aus dem Bett und schlagen mit Gewehrkolben auf ihn ein, und bei jedem Kolbenhieb höhen sie: "Damit du’s weißt, Jud, wie ein kalter Pogrom schmeckt!" Dann schleppen sie ihn, so wie er ist, blutüberströmt und im Hemd, hinaus in die Winternacht. Unsre Wohnung wird versiegelt, das Vermögen beschlagnahmt. Ich würde mit dem Kind auf der Straße liegen, hätten uns nicht Freunde einen Unterschlupf gewährt. Was liegt an mir! Wenn sie ihn nur nicht erschlagen haben … Ein schrilles Glockenzeichen ertönt. […]
Ein wüster Lärm entsteht. Jenseits der Gitter strömen die Gefangenen herein und laufen das Gitter entlang, um die ihnen Zugehörigen zu finden, die ihrerseits diesseits des Gitters laufen und suchen. Die sich gegenseitig gefunden haben, klammern sich an das Gitter und versuchen, sich über die Entfernung schreiend zu verständigen. Man hört nichts als ein wirres Getöse. […]
Frau Rosenfeld: die wiederholt hin- und hergerannt ist Hier ist er nicht! Dort ist er auch nicht! Gott, o Gott, wo ist er? […]
Frau Rosenfeld: hat sich verzweifelt an einen SA-Mann gewendet Aber ich habe einen schriftlichen Besuchsschein vom Herrn Staatsanwalt! Hier! Hier steht der Name meines Manns! Bitte, bitte! Rufen Sie ihn doch ins Sprechzimmer!
Der SA-Mann: Det jeht mir eenen jrossen Dreckhaufen an! […]
Die Gefangenen, von den SA-Männern abgedrängt, beginnen sich zu entfernen, während laute Abschiedsworte durcheinander gellen. […]
Ein SA-Mann: die Letzten hinaustreibend Juden raus! Auf die Einbahnstraße nach Jerusalem!
Frau Rosenfeld: die bis jetzt durch das leere Gitter gestarrt hat Ich werde verrückt! Sie wirft sich verzweifelt vor dem SA-Mann nieder.
Frau Rosenfeld: Erbarmen Sie sich, bester Herr: Wo ist mein Mann? Haben Sie doch ein wenig Mitleid und sagen Sie mir: Wohin hat man meinen Mann gebracht?
Ein SA-Mann: höhnisch jüdelnd Den Itzig? Nu wohin? Ins Krematorium! Frau Rosenfeld bricht aufschreiend zusammen.
Max Zweig, 1892–1992, war ein österreichisch-israelischer Dramatiker, der als freier Schriftsteller in Wien und Berlin lebte. 1934 floh er vor den Nationalsozialisten nach Prag, von dort 1938 nach Tel Aviv.
Max Zweig, Der Moloch 1933. Schauspiel in fünf Akten, in: Die Dritte-Reich-Dramen, hg. mit einem Nachwort von Eva Reichmann, 2. unveränd. Aufl.; ©IGEL Verlag Literatur & Wissenschaft, Hamburg 2015, S. 7 ff.
Innerhalb von nur sechs Jahren hatte sich damit die jüdische Minderheit in Deutschland mehr als halbiert. Bis zum Auswanderungsverbot im Oktober 1941 konnten 300.000 Juden aus Deutschland emigrieren bzw. fliehen. Danach begann die letzte Phase der Judenverfolgung, die planmäßige Ermordung in den KZs und Vernichtungslagern.
Der jüdische Kulturbund wurde gegründet als Institution der Selbstbehauptung, um entlassenen jüdischen Kunstschaffenden eine Existenzgrundlage zu sichern. Er organisierte noch bis 1941 Konzerte. Im Bild eine Aufführung des „Bajazzo“, einer Oper von Ruggiere Leoncavallo, mit dem Orchester des Jüdischen Kulturbundes in Berlin 1940. (© Bildarchiv Pisarek /akg-images)
Der jüdische Kulturbund wurde gegründet als Institution der Selbstbehauptung, um entlassenen jüdischen Kunstschaffenden eine Existenzgrundlage zu sichern. Er organisierte noch bis 1941 Konzerte. Im Bild eine Aufführung des „Bajazzo“, einer Oper von Ruggiere Leoncavallo, mit dem Orchester des Jüdischen Kulturbundes in Berlin 1940. (© Bildarchiv Pisarek /akg-images)
Inmitten der Verfolgungsmaßnahmen bestand jüdisches Kulturleben dennoch fort. Im Interesse der Absonderung jüdischen Lebens war diesem von den NS-Behörden ein abgegrenzter Raum zugedacht, in dem die Rahmenbedingungen zunehmend eingeschränkt wurden. Im September 1933 gründete sich die Reichsvertretung der deutschen Juden unter Leitung von Rabbiner Leo Baeck (1873–1956), die erste Organisation überhaupt, die für alle deutschen Juden sprechen sollte. 1935 musste sie sich in "Reichsvertretung der Juden in Deutschland" umbenennen. Mit dieser nur auf den ersten Blick geringfügigen, von NS-Behörden angeordneten Umstellung wurde klar signalisiert: Sie sollten fortan keine "deutschen Juden", sondern nur noch "Juden in Deutschland" sein dürfen. Auch war die Mitgliedschaft in dieser Reichsvertretung (ab 1939: Reichsvereinigung) für jüdische Organisationen und Gemeinden verpflichtend. Damit wurde die Reichsvereinigung letztlich zu einem Kontroll- und auch Durchsetzungsorgan des NS-Staates. Dennoch war sie zugleich ein Rahmen, in dem jüdische Kulturarbeit weiter stattfinden konnte, von dem aber auch die zunehmend dringlicher werdenden sozialen Aufgaben wie etwa die Auswandererberatung organisiert wurden.
Eine explizit für die Fortführung jüdischen Kulturlebens gegründete Organisation – der Kulturbund Deutscher Juden, der 1939 in Jüdischer Kulturbund in Deutschland umbenannt und ebenfalls der Reichsvereinigung unterstellt wurde – organisierte noch bis 1941 Konzerte. Diese sind ein Beispiel für die Bemühungen der deutsch-jüdischen Minderheit, die Verfolgungszeit selbstbewusst und unter größtmöglicher Ausnutzung aller noch so verengten Spielräume selbst zu gestalten. Dies zeigte sich auch in den Auswandererlehrgütern der Hachschara (hebr. für Vorbereitung, Tauglichmachung), in denen junge Jüdinnen und Juden auf die Alija (hebr. für Aufstieg, Einwanderung in den Jischuw / nach Israel) vorbereitet wurden. Auch zionistisch ausgerichtete Organisationen erhielten unter steigendem NS-Verfolgungsdruck verstärkt Zulauf. Nach Palästina konnten bis zum Verbot der Auswanderung etwa 70.000 deutsche Jüdinnen und Juden auswandern. Hauptzielland waren die USA, doch Jüdinnen und Juden flohen überall dorthin, wo sie Aufnahme fanden.
Jüdinnen und Juden suchten verschiedene Auswege aus der NS-Verfolgung, manche schlossen sich Widerstandsgruppen an, andere entschieden sich, versteckt in den Untergrund zu gehen. Rund 10.000 bis 12.000 Jüdinnen und Juden überlebten auf diese Weise, davon allein rund 5000 in Berlin. Dieses Untertauchen unter schwierigsten Bedingungen, in völliger Abhängigkeit von den nicht-jüdischen Unterstützern und in ständiger Furcht vor Verrat oder Entdeckung, überlebten etwa ein Drittel der Versteckten.
Jugendliche KZ-Häftlinge vor einer Baracke in Buchenwald fünf Tage nach der Befreiung durch die Alliierten am 16. April 1945. Sie sammeln ihre Kräfte für den Weg in eine noch ungewisse Zukunft. (© bpk |Bayerische Staatsbibliothek |Archiv Heinrich Hoffmann)
Jugendliche KZ-Häftlinge vor einer Baracke in Buchenwald fünf Tage nach der Befreiung durch die Alliierten am 16. April 1945. Sie sammeln ihre Kräfte für den Weg in eine noch ungewisse Zukunft. (© bpk |Bayerische Staatsbibliothek |Archiv Heinrich Hoffmann)
Die meisten Jüdinnen und Juden, die auf deutschem Boden im Frühjahr 1945 befreit wurden, waren aufs Schwerste traumatisierte Überlebende der Todesmärsche. Diese begannen ab Anfang 1945 in den Konzentrations- und Vernichtungslagern im Osten, als die verbliebenen Häftlinge von der SS vor der näher rückenden Front immer weiter westwärts getrieben wurden. Schätzungen zufolge kamen bei diesem letzten Massenverbrechen des NS rund 60 Prozent der noch lebenden Häftlinge ums Leben. Für Buchenwald geht die Forschung davon aus, dass in den letzten vier Kriegswochen allein 10.000 Menschen auf diesen Todesmärschen umgekommen sind. Die Überlebenden wurden entlang der Front in Deutschland befreit und starben teilweise auch dann noch vor Erschöpfung. Sie blieben als Displaced Persons nach der Befreiung in den vier deutschen Besatzungszonen. Diejenigen, die weder in ihre Heimat zurückkehren wollten noch weiter nach Israel oder in andere Länder auswanderten, bildeten die Grundlage für die neu entstehende jüdische Gemeinschaft in West- und Ostdeutschland nach 1945 (siehe IzpB 348, Kapitel Nesselrodt).
QuellentextTodesmarsch
[…] Eines Morgens im Januar 1945 [wurden wir] von Lautsprecherbefehlen geweckt. In jenem groben deutschen Kommandoton, an den ich mich nie gewöhnen konnte, hieß es: "Das Lager wird geräumt!" Wir mussten uns mit unseren Decken und anderen Habseligkeiten vor der Baracke in Reih und Glied aufstellen. […] Als Nächstes wurde uns befohlen, durch das Haupttor von Birkenau zu marschieren. Auf der Straße vor dem Tor hatten sich bereits Tausende von Lagerinsassen in Reihen aufgestellt, immer etwa acht oder zehn Leute nebeneinander. "Kinder nach vorn!", kam der Befehl. […] Die Kolonne war so lang, dass es einige Zeit dauerte, bis wir ihren Anfang erreicht hatten. Es war eiskalt, und ein schneidender Wind fuhr durch unsere dünnen Kleider. Als wir Aufstellung genommen hatten und auf den Abmarsch warteten, bekamen wir eine Laib Schwarzbrot zugeworfen. Dann kam der Befehl: "Vorwärts, marsch!" Der Todestransport von Auschwitz hatte begonnen. […]
Die Straßen waren mit Schnee und Eis bedeckt, denn es war Januar, in einem typischen polnischen Winter. Als die Sonne langsam unterging, wurde es kälter und kälter. Die Bäume am Straßenrand schützten uns zeitweilig gegen den eisigen Wind, der uns entgegenwehte und unsere unzulängliche, dünne Häftlingskleidung durchdrang. […] Es wurde uns klar, dass die Kinder, die an der Spitze der Kolonne marschieren mussten, einen wesentlichen Nachteil gegenüber den Nächstfolgenden hatten, weil diese auf einer bereits festgetretenen Schneedecke gehen konnten. […]
Es war schon dunkel, als die SS der Kolonne Einhalt gebot. Wir bekamen die Erlaubnis, uns an Ort und Stelle zum Schlafen hinzulegen, entweder mitten auf die Straße oder in die Gräben links und rechts davon. Zu diesem Zeitpunkt waren einige in der Kolonne bereits gestorben. Wer nicht weitergehen konnte und sich entweder am Straßenrand hingesetzt hatte oder zusammenbrach, war von den SS-Wachen erschossen worden. Die Leichen wurden einfach in die Gräben geworfen. […] Je größer meine Müdigkeit wurde und je mehr mir die bittere Kälte und der Wind zusetzten, desto öfter fragte ich mich, ob es nicht leichter wäre, sich einfach am Straßenrand auszustrecken und sich töten zu lassen. Ich unterdrückte den Gedanken, sobald er in mir aufstieg und zwang mich, weiterzugehen. […]
Nach einem Marsch von drei Tagen erreichten wir Gleiwitz (Gliwice), ein etwa siebzig Kilometer von Birkenau entfernt liegendes Städtchen. […]
Eine Gruppe von SS-Männern stand in der Mitte des Platzes, der von einer großen Anzahl schwerbewaffneter SS-Wachen mit Hunden umringt war. Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass uns eine weitere Selektion erwartete: Diejenigen unter uns, die in der Lage waren, den Weg zur anderen Seite des Platzes im Laufschritt zurückzulegen, würden weiterleben, die anderen würden beseitigt werden. […] Wir blickten über den Platz und sahen Menschen, die versuchten, es zur anderen Seite zu schaffen; einige brachen auf dem Weg zusammen, andere ließen sich einfach fallen. Von Zeit zu Zeit rannten die Posten zu ihnen hin und schleppten die Unglücklichen an den Rand des Platzes. […] Wir konnten das unbändige Lachen der SS-Männer hören, als wir an ihnen vorbeikamen. Der Hass auf ihre Stimmen stärkte uns. Ein paar Minuten zuvor hätten wir es kaum für möglich gehalten, aber nun schafften wir es tatsächlich, quer über den Platz zur anderen Seite zu rennen.
[…] Als ich schon zu glauben begann, dass wir in Gleiwitz bleiben würden, kam der Befehl, das Lager zu verlassen und zu einem nahgelegenen Bahnhof zu marschieren. Dort erwarteten uns offene Waggons, wie man sie zum Transport von Kohle oder Sand verwendet. In diesen Waggons wurden wir mit so vielen Häftlingen zusammengepfercht, dass wir uns kaum noch bewegen konnten. […]
Nach ein, zwei Tagen gelang es uns, einen Platz in der Ecke des Waggons zu ergattern, was uns davor rettete, niedergetrampelt zu werden. Um uns herum waren viele Sterbende, und als unser SS-Posten gefragt wurde, was mit den Leichen geschehen sollte, sagte er, wir sollten sie hinauswerfen. Das geschah nun immer häufiger. Der Waggon leerte sich allmählich, bis es ohne weiteres möglich war, ihn von einem Ende zum anderen zu durchqueren. […]
Die Nächte im Waggon waren das nackte Grauen. Hunger und Kälte zermürbten die Menschen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. […]
Gerade als ich zu dem Schluss kam, dass es nur noch ein, zwei Tage dauern konnte, bevor auch ich sterben und meine Leiche aus dem Waggon hinausgeworfen würde, geschah ein Wunder. Der Zug fuhr in langsamem Tempo und mit häufigen Aufenthalten durch die Tschechoslowakei [ehem. Binnenstaat in Mitteleuropa auf dem Gebiet der heutigen Staaten Tschechien, Slowakei – Anm. d. Red.], als wir Leute auf den Brücken stehen sahen, unter denen wir hindurchfuhren. Es waren Männer, Frauen und Kinder. Sie winkten und riefen uns etwas zu, und dann begannen die Brotlaibe in unseren Waggon zu fallen. […] Ohne dieses tschechoslowakische Brot hätten wir nicht überlebt. […]
Nach einer Fahrt von über zehn Tagen erreichten wir Deutschland. […] Unser Ziel war das Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg. […]
Aber der Weg führte uns nicht direkt nach Sachsenhausen, sondern zunächst in die Flugzeugfabrik Heinkel. […] Ich hatte zunehmend Schwierigkeiten zu gehen, aber meine beiden Freunde halfen mir und stützten mich. Der Weg […] führte über Oranienburg. Die deutschen Bewohner starrten uns an oder drehten uns den Rücken zu, als wir an ihnen vorbeikamen. Ein paar Kinder bewarfen uns mit Steinen. Ich war erleichtert, als ich endlich den Eingang des Konzentrationslagers Sachsenhausen mit der Inschrift "Arbeit macht frei" erblickte.
Diese Parole, die in diesem Zusammenhang völlig aberwitzig klingt, war nicht aberwitziger als die Anordnung, die uns nach Sachsenhausen brachte. Im Januar 1945 kämpfte Deutschland um sein Überleben, und doch setzte das Naziregime seine rasch abnehmenden Ressourcen – Bahnanlagen, Treibstoff und Truppen – bereitwillig dafür ein, halbverhungerte und sterbende Häftlinge von Polen nach Deutschland zu bringen. […]
Thomas Buergenthal wurde am 11. Mai 1934 in L’ubochnˇa, in der heutigen Slowakei, geboren. 1940 bis 1944 lebte er im Ghetto Kielce und im Arbeitslager Henrykow. Im August 1944 kam er nach Auschwitz. Als eines von nur wenigen Kindern überlegte er den Todesmarsch von Auschwitz. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte er in die USA, wo er später Jura studierte. Von 2000 bis 2010 war er Richter am Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag.
Thomas Buergenthal, Ein Glückskind. Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebte und ein neues Leben fand. Aus dem Amerikanischen von Susanne Röckel, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH 2007, S. 105 ff.