Einleitung
Der Umgang mit den Ereignissen am Johann-Gutenberg-Gymnasium in Erfurt im April 2002 hat uns erneut ein Beispiel für die Wirksamkeit gesellschaftlicher Verdrängungsprozesse geliefert. Andere Themen haben die Tat des Robert Steinhäuser aus den Medien und dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, und es ist zu befürchten, dass erst der nächste Amoklauf die Fragen nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit solch entgrenzter Gewalt wieder auf die Tagesordnung setzen wird.
I. "Sind wir nicht alle ein bisschen Robert?"
In der Stadt begegnet mir ein junger Mann, der diesen Verdrängungsprozess offensichtlich nicht mitmachen möchte. Er trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck: "Erfurt - sind wir nicht alle ein bisschen Robert?" Was Erfurter Schüler und Studierende in elaboriertem Code in der Frankfurter Rundschau
II. Verinnerlichte soziale Kontrolle
Es ist nicht nur Glück, dass es bisher nicht dazu kam, sondern vor allem das Resultat von Selbstbeherrschung und Aggressionshemmung. Eine durch Verhaltenszumutungen des heutigen gesellschaftlichen Lebens hervorgerufene diffuse Wut wird durch verinnerlichte Hemmungen im Zaum gehalten. Die Sozialisation im Rahmen herkömmlicher Familien führt zur Ausbildung einer "inneren Selbstzwangapparatur" (Norbert Elias), die dafür sorgt, dass sich die Menschen in ihr oft trostloses Schicksal fügen und eher ein Leben in stiller Verzweiflung führen, als sich aufzulehnen. Sie haben, wie Heinrich Heine bemerkte, den Stock, mit dem man sie geschlagen hat, verschluckt.
Zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters hofften Akteure der französischen Revolution wie Robespierre auf "ein Meisterstück der Natur": die Ausbildung einer inneren Instanz, die den Menschen quasi reflexartig darüber belehrt, was das Richtige ist, das er zu tun, und was das Falsche, das er zu unterlassen habe. Die im Entstehen begriffene bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise verlangte nach neuen Formen der sozialen Integration - ohne permanente äußere Kontrolle und massiven Zwang. Wie schafft man es, dass Menschen arbeiten wollen und sich die Produkte ihrer Arbeit widerspruchslos wegnehmen lassen? Es wäre zu kostspielig und ineffizient, hinter jeden Arbeiter einen Polizisten zu platzieren, der ihn überwacht. Also musste die Polizei verinnerlicht werden und die Gestalt des Gewissens annehmen.
Die Psychoanalyse beschrieb die Verinnerlichung des zunächst äußeren Zwangs später als Bildung des Über-Ichs. Dieses bildet sich im Rahmen der patriarchalisch strukturierten Traditionsfamilie dadurch aus, dass sich das Kind - zunächst aus Furcht vor Strafe, später im günstigsten Fall aus Einsicht und freien Stücken - mit den Eltern identifiziert und ihre Ge- und Verbote in sich aufnimmt. In der Folge wird das Über-Ich auf andere Personen und Instanzen wie Lehrer, Schule, Vorgesetzte, Fabrik und die Inhaber politischer Macht übertragen, die von der familialen Vorunterwerfung profitieren und die Familie beerben. Die über weite Strecken herrschende Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft verdankt sich dem Umstand, dass das Über-Ich den verinnerlichten Staat und der Staat die Externalisierung des Über-Ich darstellt. Zwischen dem von Heinrich Mann beschriebenen Untertan und "seinem" Staat herrschte tiefes Einverständnis, Realitäts- und Identitätsstruktur waren eng miteinander verzahnt.
Nun gibt es wenig Grund dafür, diesen Zustand, der seit einiger Zeit in Auflösung begriffen ist, zu idealisieren. Außerhalb privilegierter bürgerlicher Familien bestand Erziehung häufig aus bloßer Unterwerfung und gewaltsamer Erzeugung von blinder Gehorsamsbereitschaft. Das buchstäbliche Einbläuen von Regeln und Verhaltensweisen brachte autoritäre, unsichere und ängstliche Menschen hervor, die ihre unterdrückte Wut auf Minoritäten verschoben. Das, was sie unter Schmerzen in sich begruben und dann ein Leben lang krampfhaft niederhielten, bekämpften sie an Menschen und Gruppen, die diese verdrängten Impulse vermeintlich oder real verkörperten.
Man könnte den Schwund elterlich-väterlicher Autorität und das Ende jener pädagogischen Paranoia, die man lange mit Erziehung verwechselte, also begrüßen, wenn etwas qualitativ Besseres und Menschlicheres an ihre Stelle getreten wäre. Tatsächlich befinden wir uns jedoch an der Schwelle zu einem erzieherischen Nirwana.
Mit dem Anbruch des konsumistischen Zeitalters, vollends aber mit dem Übergang zum System des "flexiblen Kapitalismus" (Richard Sennett) erweisen sich die "Produkte" familiärer Sozialisation als dysfunktional. Dem charakterlich geprägten Menschen mangelt es nicht selten an Konsumlust und Wendigkeit. Der autoritäre Untertan mit seiner zwanghaften Neigung zu Sparsamkeit und Routine war der erwünschte Sozialcharakter des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Massenabsatz von Waren und die veränderten Verhaltensanforderungen der Industrie verlangen nun nach einem Menschentyp, der süchtig konsumiert und beruflichen und örtlichen Veränderungen offen gegenübersteht. Der charakterlich geprägte und lebensgeschichtlich an ein Bündel von festen Eigenschaften fixierte Mensch musste durch den "flexiblen Menschen" abgelöst werden, der sich im Gleitflug den wechselnden Marktwinden überlässt und seine Bindungen an Menschen und Orte aufzugeben bereit ist.
III. Wieviel Flexibilität verträgt der Mensch?
Wer jetzt noch an erworbenem Besitz hängt, ihn hegt und pflegt, wer ein starkes Bedürfnis nach Identität, nach Stabilität der eigenen Orientierungen und Werthaltungen aufweist, droht zum Außenseiter zu werden und aus der Gesellschaft herauszufallen. "Charakter" wird zum Synonym für komische Figur, Sonderling, Kauz, Ich-Schwäche avanciert zur Tugend der Flexibilität. Es macht ja den Funktionswert kultureller Normen aus, dass sie den Menschen das Einfügen in die vorgefundene Wirklichkeit des Lebens erleichtern. Was aber, wenn diese Wirklichkeit sich dramatisch verändert und lebensgeschichtlich erworbene Normen und Werte irgendwann auf kein Lebensgelände mehr so richtig passen?
Vor allem ältere Menschen machen angesichts des forcierten gesellschaftlichen Wandels die Erfahrung, dass das, "was Hänschen gelernt hat, dem Hans nichts mehr nützt" (Peter Brückner). Sie verstehen wie Friedrich Hebbels Meister Anton die Welt nicht mehr, sind desorientiert, fühlen sich verstört und entwertet. Sie erleben die Verhaltenszumutungen des flexiblen Kapitalismus wie Voodoo-Imperative, als ein Zugleich von Wirklichkeits-, Erfahrungs- und Identitätsberaubung. Die Abstraktions- und Beschleunigungsschübe der Gegenwart bewirken eine massenhafte Desynchronisation von Realitäts- und Identitätsstruktur, die innere Gleichgewichtsstörungen und Schwindelgefühle hervorruft. Immer mehr menschen haben das Gefühl, dass der Film der äußeren Realität schneller läuft als der innere Text, den sie dazu sprechen. Sie sehnen sich nach stationären Zuständen und hoffen, dass eines Tages die äußere Realität wieder zu ihren inneren Texten passt. Manch einen treibt diese Sehnsucht in die Arme von Rechtspopulisten, die ihm Entlasten durch die Herstellung von Übersichtlichkeit und Einmaligkeit versprechen.
Wenn eingeschliffene Lebensmuster vor dem Zusammenbruch stehen und die lebendige Einbindung in die Gesellschaft verlorengeht, treten starke Spannungen auf, die den Einzelnen zerreißen können. Eingeübt in das passive Hinnehmen unerträglicher Zustände, schicken sich viele Menschen in ihren gestreckten sozialen Tod und ertragen, was sie nicht mehr aushalten, oft noch lang. Ihre Aggressionen werden in der Watte innerer Hemmungen stumpf und wenden sich nicht selten in Gestalt von Depression oder Krankheiten gegen die eigene Person.
IV. Psychische Deregulierung
Die tektonischen Beben, die durch die Wucht von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen ausgelöst werden, erschüttern nicht nur die tragenden Gerüste des Gesellschaftsbaus, sondern auch die tradierten Formen sozialer Integration und den Innenbau der Menschen. Was da mobilisiert und flexibilisiert wird, ist eben nicht nur die Ware Arbeitskraft. Von den neuen Funktionsimperativen des hochfluiden, globalisierten Kapitals dazu aufgefordert, sich permanent psychisch umzumontieren und auf die sich drehenden Winde des Marktes wendig und prompt zu reagieren, sind immer mehr Menschen genötigt, eine fragmentarische Identität auszubilden, die "borderlineartige" Züge trägt. Das, was man bislang für schwere Krankheitszeichen hielt und mit den Namen "narzisstische" oder "Borderline-Störung" belegte, droht zur sozialpsychologischen Signatur des "Neuen Zeitalters" zu werden. Die im Namen des Neoliberalismus betriebene Deregulierung von Sozialstaat, Wirtschaft und Gesellschaft scheint mit einer psychischen und moralischen Deregulierung einherzugehen, von der das Über-Ich, das Ich und seine Modi der Abwehr gleichermaßen betroffen sind. Die Menschen geraten in den Sog einer regressiven Entstrukturierung, die dazu führen kann, dass archaische Mechanismen wie Spaltung und Projektion die Überhand über die reifen Ich-Funktionen und Abwehrmechanismen gewinnen. Da gleichzeitig die Verwandlung von "Fremdzwängen in verinnerlichte Selbstzwänge" (Norbert Elias) nicht mehr mit ausreichender Zuverlässigkeit stattfindet, wächst die Neigung, intrapsychische Spannungen und Konflikte in die Außenwelt zu tragen und dort auszuagieren.
Die Markt- und Kapitallogik räumt nicht nur alle ihren expansiven Drang behindernden äußeren Barrieren und Kontrollen beiseite, sondern auch die im Inneren der Menschen. Der flexible Mensch soll alle Bindungen und Hemmungen ablegen, damit er zu allem fähig werde. So ist es denn auch. Man kann offensichtlich nicht beides zugleich haben: den hochflexiblen, wendigen, allseits anschlussfähigen Menschen und einen Fundus von verinnerlichten handlungsleitenden Normen und Werten. Daher ist damit zu rechnen, dass es vermehrt zu unkontrollierten Trieb- und Impulsdurchbrüchen kommt, die im Extremfall die Form einer völlig ungerichteten Aggressionsentladung, des Amoklaufs annehmen können.
V. Soziale und psychische Desintegration
Eine gut integrierte Gesellschaft, in der die maßgeblichen Werte von der Mehrheit geteilt werden, in der Psyche, Bewusstsein, Gefühls-, Affekt- und Denkneigungen der Individuen in die Funktionen und Gefüge des Systems einbezogen sind, wird Desintegrationserscheinungen in einzelnen ihrer Subsysteme, also beispielsweise eine konjunkturell bedingte Schrumpfung des Arbeitsmarktes, verkraften können. Das neuartige an den Krisen der Gegenwart ist ihr umfassender Charakter. Sie erfassen die Gesellschaft weit über ihren ökonomischen Sektor hinaus, durchdringen alle Poren und Schichten des Lebens und lassen die traditionellen Formen der Subjektausstattung erodieren. Als Marie Jahoda und ihre Kollegen Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts die psychischen und sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit im ehemaligen Fabrikdorf Marienthal untersuchten, stießen sie auf Interesselosigkeit, Apathie, Alkoholismus und Resignation. Die arbeitslos gewordenen Menschen glitten "allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere". Das sind bis heute die dominierenden Reaktionsformen auf Entwurzelungserfahrungen geblieben. Doch es mehren sich die in der Bevölkerung verstreuten "psychopathischen Schläfer". Werden psychisch labile und narzisstisch extrem verwundbare Menschen von gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen erfasst und in eine anomische Position gedrängt, kann es zu völlig unverhältnismäßigen, entgrenzten Reaktionen kommen. Die Gesellschaft liefert ihren pathologisch verzerrten Wahrnehmungen fortwährend Material, das ihre Projektionen und wiederentflammten frühkindlichen Spaltungsneigungen bestätigt. Kränkungen und Zurückweisungserfahrungen sammeln sich an, von denen keine in Vergessenheit gerät. Der Amoklauf von Eching und Freising im Februar 2002 demonstriert, dass Kündigungen von Arbeitsverhältnissen und schulisch zugefügte Demütigungen ein hochexplosives Gemisch aus Hass und Selbsthass freisetzen können, das sich schließlich in einem amokartig erweiterten Suizid entlädt.
Es geht eben, wenn Arbeit verloren geht, viel mehr verloren als Arbeit. Desintegration, Identitäts-, ja Existenzverlust drohen. Wenn das schon leidlich stabile Zeitgenossen in ihrem leib-seelischen Gleichgewicht erschüttert, wieviel mehr muss es jene treffen, die ohnehin Mühe haben, den Kopf über der Oberfläche der Realität zu halten und in ihr leidlich zu funktionieren? Die Funktion von Arbeit und sozialen Rollen, von Alltagsroutine und Gewohnheiten wird umso bedeutsamer, je prekärer das psychische Gleichgewicht eines Menschen ist. Arbeit zählt bei psychisch labilen und von Fragmentierung bedrohten Menschen mit einer großen narzisstischen Verletzbarkeit zu den Ich- und Selbst-Erhaltungsmechanismen. Eingeschliffene "Anpassungsmechanismen" entlasten Paul Parin zufolge von der ständigen Auseinandersetzung mit der Außenwelt, wie die Abwehrmechanismen dies gegenüber verpönten Triebregungen tun. Anpassungsmechanismen funktionieren wie Zahnräder, die das Ich mit der Außenwelt synchronisieren. Sie erweisen sich aber nur solange als Stabilisatoren der Ich-Organisation, solange sich die sozialen Verhältnisse, unter denen eine Person lebt, nicht einschneidend ändern. Passiert genau das, treten Verzahnungsmängel auf, die das Anpassungsgefüge ins Wanken bringen. Neue Ich-Synthesen müssen entwickelt, die Identität muss umgebaut werden, was häufig neurotische oder gar psychotische Symptombildungen zur Folge hat. Das psychische Gleichgewicht gefährdeter Menschen hing an äußeren Strukturen und Stützen, deren gleichbleibendes Fortbestehen ihnen ein relativ unauffälliges Leben ermöglichte. Schwere Persönlichkeitsstörungen, die im geregelten Alltag leidlich eingekapselt waren, brechen nun auf und schieben sich in den Vordergrund. Gelingt der Rückweg in die Normalität nicht, wird der aus der Welt gefallene Mensch mehr und mehr von seiner Tagtraumwelt aufgesogen. Er brütet über seinen inneren Unglücksvorräten, und seine ins Innere zurückgenommenen psychischen Energien drohen in den Bann eines "malignen Narzissmus" (Otto F. Kernberg) zu geraten, der in ihm den Entschluss wachsen lassen kann, seinen Abgang aus der Welt als grandiosen Rachefeldzug und als finales Feuerwerk zu inszenieren.
VI. Die "Bösen" sind wir los, das "Böse" ist geblieben
Was uns in Aufregung versetzt und ratlos macht, ist das gehäufte Auftreten von Taten, die sinn- und motivlos erscheinen. Der Hass, der hier zu Tage tritt, ist entweder vollkommen grundlos und "rein", oder er steht in keiner nachvollziehbaren Relation zu dem Anlass, der den Affekt auslöste.
"Wenn die Gewalt aus der Unterdrückung aufsteigt, dann der Hass aus der Entleerung", sagt Jean Baudrillard. Man müsse den Begriff des Abfalls und des Mülls verschieben und erweitern: "Das Schlimmste ist nicht, dass wir von Abfällen umgeben und überschwemmt sind, sondern dass wir selbst in Abfall verwandelt wurden."
Globalisierung: Was ist das? Wer steht dahinter, wer steuert sie, hat sie einen Sitz, eine Zentrale? Was verbirgt sich hinter den Kürzeln WTO, NAFTA, MAI, IWF, Weltbank? Wer hat entschieden, dass jetzt Globalisierung ist? Ist Globalisierung gut, schlecht, ein unabweisbares Verhängnis oder von allem ein bisschen? Für die Attentäter des 11. September symbolisierten die Türme des World Trade Center die Globalisierung, aber haben sie diese durch deren Zerstörung getroffen?
"Die Welt...", schrieb Theodor W. Adorno, "...nähert sich dem Bild, das der Verfolgungswahn von ihr entwirft." Die paranoide Regression scheint das psychologische Korrelat einer undurchschaubaren Welt zu sein, die keine sicht- und greifbaren Gegner mehr bereit hält. Die Menschen sind mehr und mehr in weitläufige, anonyme Prozesse eingespannt, die sie nicht durchschauen und beeinflussen können und die dennoch über ihr Schicksal entscheiden. Wenn der Internationale Währungsfond die Vergabe von Krediten an ein Land der Dritten Welt mit der Bedingung verknüpft, Sozialabgaben zu kürzen und Importzölle abzuschaffen, sterben dort in der Folge Tausende von Menschen. Wer aber erkennt den Zusammenhang?
Der "reine", frei flottierende Hass ist auch das Produkt personaler Entleerung und kaum auzumachender Verantwortlichkeit. Die "Bösen" sind wir los, das "Böse" ist geblieben, ließe sich eine Erfahrung betiteln, welche die aus Rumänien nach Deutschland emigrierte Herta Müller in einem ihrer Romane eine Figur formulieren lässt: "In dem anderen Land...", sagte Irene, "... habe ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr weh getan, täglich die Gründe zu sehen. ... Und hier...", sagte sie: "Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehen."
VII. Geräte-Sozialisation
"Wir waren bis zu dieser brutalen Wahnsinnstat eine ganz normale Familie", schreiben die Eltern von Robert Steinhäuser in einem offenen Brief. Dieser von den rat- und fassungslosen Eltern formulierte Satz lässt auch eine ganz andere, erschreckende Interpretation zu: Auch eine "ganz normale" Kindheit in einer nach außen "ganz normal" erscheinenden Familie kann Entbehrungen und Traumatisierungen bereithalten, die irgendwann eine destruktive Entwicklung in Gang setzen.
Immer mehr Familien, die "ganz normal" wirken, sind in Wirklichkeit geprägt von Indifferenz und Kälte: das bloße Nebeneinander von Einsamkeiten. Es mag sein, dass heutigen Kindern manches an körperlicher Rohheit und Misshandlung erspart bleibt. Aber was wie gewachsene Duldsamkeit und Verständnis den Kindern gegenüber aussieht, ist mitunter von Kindesaussetzung, Lieblosigkeit und mangelndem emotionalem Interesse kaum zu unterscheiden und grenzt an eine zeitgenössische Form von Kindesaussetzung. Hinter der gewachsenen Toleranz und Milde stehen oft Schwächen, Desorientierung und Verunsicherung der Eltern, deren eigener Wertehorizont instabil ist und die nicht wissen, woran sie sich in puncto Erziehung halten sollen. Vielfach ziehen sich Eltern deswegen aus dem Feld der Erziehung zurück und überlassen ihre Kinder sich selbst und der expandierenden Welt technischer Geräte. Aber auch Eltern, die sich ihren Erziehungsaufgaben verantwortungsvoll stellen und das Über-Ich ihrer Kinder strukturieren wollen, müssen registrieren, dass sie das Monopol auf Prägung ihres Nachwuchses längst eingebüßt haben und dass sie mit anderen, zum Teil mächtigeren Einflüssen konkurrieren müssen.
Die "psychische Geburt des Menschen" (Margaret S. Mahler) ist in all ihren Stadien einer Fülle von Schädigungsmöglichkeiten ausgesetzt, von denen hier nur einige Erwähnung finden können. Auch im Feld der Erziehung stoßen wir auf Aspekte von Entleerung. Kinder und Jugendliche wollen und müssen ausprobieren, wie weit sie gehen und die Grenzen verschieben können. Für ihren Selbst- und Weltbezug ist es wesentlich, dass sie dabei irgendwann an Grenzen stoßen, die ihnen Widerstand bieten und zu einer halbwegs realistischen Selbsteinschätzung verhelfen. Diese entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern nur in der Auseinandersetzung mit leibhaftig anwesenden Bezugspersonen, die dem Kind Gelegenheit geben, sich mit seinen Möglichkeiten und Grenzen vertraut zu machen. Nur so lernt das Kind, mit unerlässlichen Versagungen und Frustrationen umzugehen und ein realistisches Bild von den eigenen Möglichkeiten zu entwickeln. Gehen die kindlichen Suchbewegungen ins Leere, bleiben frühkindliche Phantasien von Allmacht und Grandiosität erhalten, die dann angesichts zwangsläufig erfahrener Enttäuschungen eine endlose Kette von Frustrationen und Kränkungen nach sich ziehen, die sich im Inneren ansammeln und irgendwann einen primitiven Racheimpuls auslösen und zum Ausbruch lang gestauter "narzisstischer Wut" führen können. Selbst kleine Enttäuschungen und Zurückweisungen, die anderen läppisch erscheinen mögen, werden als Signal einer drohenden narzisstischen Katastrophe bedeutet, gegen die Kampf mit allen Mitteln geboten ist. Nur wer Bedingungen "optimaler Versagung" und konturierte und konturierende Bezugspersonen vorfindet, wird psychische Strukturen ausbilden können, die zwischen Außen- und Innenwelt vermitteln, Orientierung ermöglichen und das Subjekt instand setzen, mit Enttäuschungen, Frustration und Kritik einigermaßen gelassen umzugehen.
"Ist denn da keiner und niemand und nichts? Was muss ich tun, damit jemand kommt und sich meiner Angst und Wut annimmt, die mich zu zerreißen drohen?", könnten viele heutige Kinder, die an ihre technischen "Spielzeuge" angekettet sind wie Platons Höhlenbewohner an ihre Bänke, fragen. Sie leben in einer "Echowelt" (Dorothea Dieckmann), die ihnen immer nur die eigene Stimme zurückwirft. Selbst wenn das pädagogische Engagement der Erwachsenen die Form von Strafe oder gar Schlägen annähme, wäre das immer noch leichter zu ertragen als vollkommene Indifferenz und eine berührungslose Leere, die sich im Innern der Kinder breit macht. Gewalt kann unter diesen Bedingungen zum verzweifelten Versuch werden, "zum Anderen vorzudringen" (Jessica Benjamin). Wenn alle noch tastenden kindlichen oder jugendlichen Hilferufe ins Leere gehen, stellt sich ein Gefühl des Existierens irgendwann nur noch ein, wenn "es kracht" oder gar Blut fließt.
Christoph Türcke hat gezeigt, dass auch der modische Trend, sich tätowieren oder piercen zu lassen, dieser Dynamik entspricht.
"Heute entscheidet in der Erziehung weniger die väterliche Brutalität ..., sondern eine bestimmte Art von Kälte und Beziehungslosigkeit, die die Kinder in ihrer frühen Kindheit erfahren", schrieb Theodor W. Adorno bereits 1962.
VIII. Ein moralisches Ozonloch
Die Moral hat im Über-Ich ihren Sitz. Nach allem, was wir eben diskutiert haben, darf es uns nicht wundern, wenn es um die Moral zunehmend schlecht bestellt ist. Kulturelle Normen und Werte werden nur dann verinnerlicht, wenn sie in der Auseinandersetzung mit leibhaftig anwesenden Eltern, die selber über verbindliche Orientierungen und eine leidlich stabile Identität verfügen, erfahrbar werden. Ein "Kollateralschaden" des flexiblen Kapitalismus besteht darin, dass er die Formen zu zerstören beginnt, in denen sich die bürgerliche Gesellschaft die menschliche Natur bislang angeeignet und einer zivilisatorischen Formung unterzogen hat. Richard SennettVgl. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 15 ff. hat gezeigt, dass Charakter- und Identitätsbildung der nachwachsenden Generationen aufs Höchste bedroht sind, wenn die Imperative des Marktes und einer auf Kurzfristigkeit basierenden Ökonomie in den familiären Raum eindringen und auf die Sozialisationsprozesse durchschlagen. Wie soll die kulturelle und moralische Transmission, die auf eine gewisse raum-zeitliche Kontinuität und Verlässlichkeit angewiesen ist, in einer hektischen und flüchtigen Welt vonstatten gehen? Wie sollen Eltern, die beruflich zu Flexibilität und Mobilität gezwungen sind, ihren Kindern langfristige Tugenden und Bindungsfähigkeit vorleben und vermitteln? Unter solchen Bedingungen werden außengeleitete, "driftende" Menschen heranwachsen, die immer ausschließlicher an den Kursgewinnen ihrer "Ich-Aktien" interessiert sind und ihren Mantel "nach jedem Wind hängen, bis sie selbst fast zu diesem Mantel werden" (Friedrich Nietzsche).
Der marktgängige und allseits kompatible Mensch "verkauft" sich am besten, wenn er Moral auf jenes Minimum schrumpfen lässt, das gerade noch vor strafrechtlicher Verfolgung schützt. Eine primär an den Zweckvorgaben des Marktes und der Maximierung des Shareholder Value orientierte Globalisierung produziert am gesellschaftlichen Wertehimmel ein sich stetig ausdehnendes moralisches Ozonloch.
IX. "Entinnerlichung" der sozialen Kontrolle
Existenzangst, narzisstische Krisen und Katastrophen gehören in einer Gesellschaft, die immer mehr Menschen signalisiert, dass sie sie nicht benötigt, zum Alltag. Unter der Voraussetzung einer verbreiteten psychischen Entstrukturierung droht bei wachsenden Anomieerfahrungen auch ein Anstieg des Aggressionspegels. Wenn wir nicht energisch gegensteuern und den hemmungslos gewordenen ökonomischen Prozess in eine neue Form solidarischer Gesellschaftlichkeit einbinden, drohen blinde Aggression und Amoklauf zur kriminellen Physiognomie des angebrochenen globalen Zeitalters zu werden.
Gesellschaften, die strukturell lernunfähig sind, reagieren auf einen Anstieg des Gewaltvolumens mit dem Ausbau ihres Polizeiapparats und einer Militarisierung der inneren Sicherheit. Mehr fällt ihnen nicht ein. Statt an die Ursachen von sozialer und psychischer Desintegration zu rühren und den Anomie- und Panikpegel zu senken, geben marktradikale Gesellschaften riesige Summen dafür aus, die Folgen der Desintegration repressiv zu bekämpfen und ihre Ursachen bestehen zu lassen.
Der prekäre soziale Frieden in der bürgerlichen Gesellschaft stützte sich auf eine geschichtlich entstandene Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwang. Manifeste Gewalt, die in der Phase der Herausbildung der "inneren Selbstzwangapparatur" (Norbert Elias) an der Tagesordnung war, konnte sich nach deren Durchsetzung in Strukturen und Institutionen zurückziehen, aus denen sie nur in den Fällen manifest hervortrat, wo die Verinnerlichung missglückte. Gewalt wurde im Alltag stumm und unsichtbar, ohne indessen verschwunden zu sein. In dem Maße nun, wie die Bedingungen für die Verwandlung von Fremd- in Selbstzwang sich auflösen und die innere Polizei des Gewissens ihren Dienst nicht mehr mit ausreichender Zuverlässigkeit versieht, muss die äußere Polizei, muss Fremdzwang wieder vermehrt in Erscheinung treten. Werden wir gegenwärtig nicht Zeugen des Übergangs des sozialen und demokratischen Rechtsstaats in einen "Präventionsstaat" (Heribert Prantl), der seinen Bürgern mit generalisiertem Misstrauen begegnet und sie unter permanente Beobachtung stellt? Die Disziplinargesellschaft, deren Mechanismen und Funktionsweisen Michel Foucault präzise beschrieben hat, entwickelt sich zur Kontrollgesellschaft. An die Stelle der inneren Stimme des Gewissens, das Handlungsmotive und Verhaltensweisen der Menschen auf ihre Sozialverträglichkeit durchmustert, treten das Auge der Überwachungskamera und "Prävention", die bereits im "Vorfeld des Verdachts" ein Zugreifen ermöglicht. Die hier angedeuteten Prozesse bilden den Hintergrund, vor dem sich die viel gepriesene "kopernikanische Wende" der Polizeiarbeit zur Strategie der "Null-Toleranz" vollzieht. Nicht nur in den USA scheint man entschlossen, die durch die Globalisierung aufgeworfenen neuen sozialen Fragen polizei- und justizförmig zu lösen. Die Ereignisse des 11. September 2001 hat man weltweit zum Anlass genommen, Gewalt- und Überwachungsapparate auszubauen, die die "Neue Weltordnung" gegen die Massen der aus ihr Herausgefallenen und ihre verzweifelten Ausbruchsversuche sichern sollen. Die neue US-Militärdoktrin betrachtet die ganze Welt als ein Vorfeld amerikanischer Interessen und Sicherheit und dehnt die Strategie der "Null-Toleranz" und der "Prävention" im Sinne einer Weltpolizei planetarisch aus.
X. Der Amoklauf des Geldes
Wir möchten uns im Spiegel von Amoklauf und Terror nicht selbst erkennen und neigen dazu, die entgrenzte Gewalt zu betrachten, als stamme sie von einem fremden Stern. Dabei ist es das wahnsinnig anmutende Bestreben der Amokläufer und Terroristen, möglichst viele Unbeteiligte in den eigenen Untergang mitzureißen, durchaus von dieser Welt. Der gewaltsame und menschenfeindliche Charakter einer auf Kälte, Konkurrenz und Gleichgültigkeit getrimmten Gesellschaft und ihre Tendenz zur Selbstzerstörung werden vom Amokläufer gleichsam aus der Abstraktion gerissen. Je unmittelbarer die Täter das Ergebnis ihrer und unserer gesellschaftlichen Verhältnisse sind, desto lauter ist unser Aufschrei.
Das Verhalten von Amokläufern weist eine mehr als nur formale Analogie zum Vorgehen der Global Player der Geldwelt auf, die sich mitunter wie Gurus von Selbstmordsekten verhalten. Sind die Strategen der "New Economy" nicht einem ähnlichen Muster gefolgt, als sie in ihren absehbaren Untergang möglichst viele Leichtgläubige mit hineinrissen? Setzen spekulierende Konzernchefs nicht das Vermögen ganzer Völker aufs Spiel?
Da werden im Namen des kurzfristigen Gewinns soziale Strukturen planiert, die über Jahrzehnte gewachsen sind und den Menschen Schutz vor den schlimmsten Auswüchsen des Kapitalprinzips boten. Da wird flexibilisiert, dereguliert und privatisiert, da werden Kosten gesenkt ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Folgen. Von den hoch entwickelten Ländern werden Rohstoffe und natürliche Ressourcen in ungebremstem Tempo verbraucht, und außer Kosmetik unternehmen sie nichts gegen die irreversible Schädigung der Biosphäre. Von der wertzynischen Motorik des Geldes werden sozialmoralische Polster und Traditionsbestände verzehrt, ohne die ein Gemeinwesen nicht existieren und menschliche Identitätsbildung nicht gelingen kann.
Ein hemmungslos gewordener Kapitalismus ist im Begriff, seine und unser aller Existenzbedingungen zu zerstören. Wenn alles Hemmende beseitigt ist, wird es auch nichts mehr geben, das trägt und zusammenhält. Eine Welt, die nur noch aus Märkten besteht, wird sich als nicht lebbar, ja nicht einmal funktionsfähig erweisen. Wenn es uns, den heute lebenden Menschen, nicht gelingt, das Steuer herumzureißen und die Gefahren des entfesselten Marktes zu stoppen, drohen wir am Ende Zeugen eines martwirtschaftlichen Schiffsuntergangs zu werden, von dem wir alle betroffen sind, nämlich als Opfer.