Einleitung
Seit Mitte 2008 liegen zwei Papiere vor, welche die europäische Migrationspolitik auf eine neue Basis stellen sollen. Sowohl die Kommission als auch die französische Ratspräsidentschaft der Europäischen Union (EU) haben Konzepte vorgelegt, auf deren Basis die Migration nach Europa umfassend geregelt werden soll. Der vorliegende Beitrag ordnet die aktuellen Vorschläge in das Mosaik der EU-Migrationspolitik ein und prüft, ob sich aus diesen neuen Entwicklungen ein Bild ergeben kann, das in sich stimmig ist und den Forderungen der EU-Bürger nach Effizienz und demokratischer Transparenz gerecht wird.
Mit ihren "zehn gemeinsamen Prinzipien" strebt die Kommission an, die bisher einzeln vorliegenden Mosaiksteine zu einem "kohärenten Bild" der Migrationspolitik zusammenzufügen.
Die aktuelle französische Ratspräsidentschaft stellt dagegen die Bedenken gegenüber irregulärer Migration in den Mittelpunkt ihrer Vorschläge. Sie strebt ein neues "Europäisches Einwanderungs- und Asylabkommen" an, durch das die Kommissionspläne Kontur gewinnen und in konkrete EU-Richtlinien münden sollen. Entsprechend vereinbarten die Innen- und Justizminister der EU bei einem ersten informellen Treffen am 7. und 8. Juli 2008 in Cannes, die Außengrenzen der Gemeinschaft zu stärken.
Im Zentrum des Programms, das der Europäische Rat am 15. Oktober 2008 verabschieden soll, steht der Ausbau der Grenzschutzagentur FRONTEX und des europäischen Asylsystems. Als dessen Rückgrat gilt die umstrittene, über fast drei Jahre hinweg verhandelte Richtlinie für die Rückführung sich illegal aufhaltender Einwanderer ("Rückführungsrichtlinie"), der Mitte Juni 2008 überraschend auch das Europäische Parlament zugestimmt hat
Tendenzen und Routen
Mit der weiteren Vergemeinschaftung reagiert die EU der 27 auf die Zuwanderung in einem Europa ohne Binnengrenzen, in dem Wanderung längst nicht mehr national kontrollierbar ist. An den 1792 offiziellen EU-Grenzposten gibt es jährlich 300 Millionen Grenzüberschreitungen Richtung EU. Davon entfallen etwa 160 Millionen auf EU-Bürgerinnen und -Bürger, 60 Millionen auf Drittstaatsangehörige ohne Visumpflicht und 80 Millionen auf Drittstaatsangehörige mit Visumpflicht.
Die Hauptrouten der afrikanischen Migranten führen von der Westküste Afrikas über Liberia, Sierra Leone, Guinea und Guinea-Bissau, den Senegal, Gambia, Mauretanien und die Westsahara bzw. die Nordküste Marokkos über See zu den Kanaren, aber auch über die Ostsahara und das Horn von Afrika und Libyen via Tunesien nach Lampedusa, Sizilien oder Malta. Allein auf den Kanarischen Inseln landeten im Jahr 2006 über 31 000 Migranten. 22 000 Einwanderer erreichten im selben Jahr die Küsten Italiens. Auch Griechenland und Zypern sind mit hohem Migrationsdruck von der türkischen Küste aus konfrontiert; so sprach Griechenland im Juli 2008 von 112 000 Migranten in den vergangenen 12 Monaten.
Gemeinsame Politik? In Grenzen!
Offenkundig lassen sich die verschiedenen Erwartungen an die Migrationspolitik nicht miteinander vereinbaren. Die Forderungen reichen von der Prävention von Fluchtbewegungen über die Grenzsicherung und Rückführung von sich irregulär aufhaltenden Personen und den Schutz der heimischen Arbeitsmärkte bis hin zur Förderung von Einwanderung zum Ausgleich demographischer und ökonomischer "Lücken", ja, zur Integration all jener, die bereits zugewandert sind. Daraus ein inhaltlich kohärentes Bild zu gestalten, ist nicht zuletzt deshalb kompliziert, weil diese Ziele verschiedene Ressorts berühren.
Angesichts fehlender Binnengrenzen und dem Bestreben, die Außengrenzen zu sichern und einen Lasten- oder Zuständigkeitsausgleich zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen, schälte sich das Politikfeld "Einwanderung" seit der im Amsterdamer Vertrag 1999 eröffneten Vergemeinschaftung als eines der gesetzgeberisch aktivsten heraus.
Als erste Teilbereiche wurden Flucht und Asyl "europäisch" reguliert. In einer ersten Phase zwischen 1999 und 2005 einigten sich die Mitgliedstaaten auf die Frage, welcher Staat jeweils für die Behandlung eines Asylbegehrens zuständig sein sollte und richteten finanzielle Ausgleichsfonds ein. Mit der bis heute umstrittenen Qualifikationsrichtlinie
Irreguläre Migration und Sicherung der Außengrenzen
Bereits das Schengener Abkommen (1985, in Kraft seit 1995) hatte der EG/EU durch die verstärkte Sicherung der Außengrenzen und die Errichtung eines gemeinsamen Informationssystems den Beinamen "Festung Europa" eingebracht. Ein gemeinsames Visasystem wurde allmählich aufgebaut, die Grenzschutzagentur FRONTEX in Warschau gegründet.
Seit ihrem "Global Approach to Migration" (2005) sieht die Kommission die EU in der Pflicht, ihre Politik stärker auf die Herkunftsländer auszurichten. Zum Teil geht es ihr darum, zusätzliche Kontrollen bereits in den Herkunfts- und Transitstaaten zu installieren oder diese auf die Nachbarstaaten abzuwälzen, mithin: die von ihr wahrgenommenen Bedrohungen der eigenen Sicherheit zu "ex-territorialisieren".
Legale Migration und Integration
Bereits seit fünf Jahren unternimmt die Europäische Kommission unter Verweis auf den demographischen Wandel und die Bedürfnisse der Arbeitsmärkte Vorstöße, auch die legale Zuwanderung und die Integration europäisch zu regeln.
Inhaltliche Kohärenzprobleme zwischen den Anforderungen der Arbeitsmigration und der externen Dimension von Migration bestehen hier ganz sicher in den oft angeführten Problemen vom "brain drain" versus "brain gain", welche die Kommission unter anderem durch die Erleichterung von Rücküberweisungen sowie durch gezielte Rückführungsprogramme mildern will. Vor dem größten Kohärenzproblem aber stehen Kommission und französische Präsidentschaft mit Blick auf die Kompetenzfrage der EU, die von den Mitgliedstaaten in Frage gestellt wird: Kaum äußerte sich der Rat der Innen- und Justizminister in Cannes zu diesem Thema, erfolgte erwartungsgemäß die Reaktion, dass eine gemeinsame Politik zur Wirtschaftsmigration unmöglich sei - aus Bayern.
Kompetenzverteilung als Hemmschuh
Die Kompetenzverteilung erschwert es noch zusätzlich, ein geschlossenes Bild von der Migrationspolitik der EU zu zeichnen - vertikal (zwischen den politischen Ebenen) wie horizontal (zwischen den beteiligten EU-Organen). In vertikaler Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass das Phänomen der Einwanderung wichtige Kernbereiche staatlicher Souveränität berührt: die Sicherung der Außengrenzen, die Fragen, wer einwandern darf und wer auf welche Weise an den Institutionen des Aufnahmelandes partizipieren soll, - Kompetenzen also, über welche die Mitgliedstaaten eifersüchtig wachen. Viele dieser Entscheidungen liegen bei den regionalen oder kommunalen Einheiten. Auch hier sind Blockaden einer weiteren Vergemeinschaftung an der Tagesordnung, und gerade die deutschen Bundesländer haben wiederholt auf Beibehaltung ihrer Kompetenzen beharrt.
Innerhalb des politischen Systems der EU haben sich in den vergangenen Jahren die Zuständigkeiten allmählich hin zu den supranationalen Organen verschoben. Zuständig für die Migrationspolitik sind die Europäische Kommission, welche als supranationales Organ die in den Fünfjahresprogrammen fixierten Leitlinien des Europäischen Rates in konkrete Gesetzesvorhaben gießt, der Rat der EU in der Formation der Innen- und Justizminister sowie das Europäische Parlament. Die Dominanz innerhalb der Migrationspolitik lag aber immer beim Ministerrat, wo auch weiterhin die Bereiche "Einwanderung von Arbeitskräften und Selbstständigen" und "Integration" koordiniert werden. Ein gravierendes institutionelles Hindernis für die Beschlussfassung stellt das Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat für diese Teilbereiche dar. Der Annahme von Richtlinien ist ein komplizierter Abstimmungsprozess vorgeschaltet, da jedem einzelnen Mitgliedstaat de facto ein Vetorecht zusteht. Der noch zur Ratifizierung ausstehende (von der Republik Irland im Juni 2008 bereits abgelehnte) Vertrag von Lissabon sieht eine "Passerelle-Klausel" vor. Sie erlaubt es, die qualifizierten Mehrheitsbeschlüsse vor allem auf Asyl, Einwanderung und die Kontrolle der Außengrenzen auszudehnen. Diese Regelung verbessert die Handlungsfähigkeit der EU und vermeidet Blockaden im Ministerrat, erhöht aber die Gefahr von "package deals" über Politikfelder hinweg, die sachlich nicht miteinander verbunden sind. Auch wenn die Dominanz der Minister im Rat damit aufgeweicht wird, gelang es diesen im Vertrag von Prüm (2005) außerhalb des EU-Rahmens Vereinbarungen zu treffen, die sie an der Kontrolle durch Parlament und Europäischen Gerichtshof vorbei durch die Hintertür zum Bestandteil der gemeinsamen Verträge erhoben.
Ein stimmiges Bild?
Insgesamt steht die EU-Migrationspolitik vor erheblichen inhaltlichen, internen und horizontalen bzw. vertikalen Kohärenzproblemen, deren Lösung angesichts divergierender Interessen und Ideen im Umgang mit Einwanderung größere Willensakte über einen längeren Zeitraum hinweg notwendig machen. Selbst innerhalb der stärker vergemeinschafteten Teilbereiche der Einwanderungspolitik wie der Asyl- und Flüchtlingspolitik besteht eine Tendenz zum "cherry-picking" bei der Umsetzung der meist auf Mindestnormen beschränkten Richtlinien. Geht es um die Kohärenz der Migrationspolitik, so müssen auch diese Unterbereiche noch sehr viel stärker aufeinander bezogen werden. So mag die EU zwar ein Schutzniveau für Flüchtlinge und Asylbewerber fixieren - sie muss aber zugleich die Zugangsmöglichkeiten zu diesem Schutz gewährleisten. Dasselbe gilt für eine stärkere Abstimmung von regulärer und irregulärer Migration, für die mit der Vorstellung einer zirkulären Migration noch kein konsistentes Konzept vorliegt und wo Probleme wie "brain drain" versus "brain gain" noch ungelöst sind.
Aus politikwissenschaftlicher Sicht dürfte sich in den kommenden Jahren die Schnittmenge an der Grenze von "Innen" und "Außen" interessant gestalten: Unterschiedliche Ideen und Ziele müssen in Einklang, Akteure unterschiedlicher Politikfelder zusammengebracht, institutionelle Kohärenz muss geschaffen werden. So werden sich sicherlich NGOs, die bislang auf Entwicklungspolitik konzentriert waren, auch der Migrationspolitik zuwenden. Angesichts von Bestrebungen, demokratische Kontrollmechanismen innerhalb der EU zu unterlaufen, wird es Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber auch der Wissenschaft sein, demokratische Transparenz einzufordern.
Vertikale Kohärenz herzustellen, bleibt angesichts mächtiger Veto-Spieler in den Bereichen Wirtschaftsmigration und Integration das schwierigste Unterfangen. Zwar hat die vergangene Dekade gezeigt, dass sich das Politikfeld zumindest in Teilen vergemeinschaften ließ. Aber in diesem "souveränitätsgeladenen" Feld lassen sich gemeinsame Regelungen nur festlegen, solange der legale Rahmen der Migrations- und Integrationspolitik flexibel bleibt und den Mitgliedstaaten relativ große Spielräume lässt. Die Europäische Kommission hat längst erkannt, dass sie auf nationale Eigenheiten und Eifersüchte Rücksicht nehmen und daher behutsam vorgehen muss. Das werden auch die Ratspräsidentschaften zu berücksichtigen haben. Mit dem "großen Wurf" in der Migrationspolitik ist wohl auch unter französischer Präsidentschaft nicht zu rechnen.