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Gebrauchstiere und Tierfantasien. Mensch und Tier in der europäischen Geschichte

Peter Dinzelbacher

/ 15 Minuten zu lesen

Früher standen viele Menschen in einem unmittelbareren Kontakt zu Tieren als heute. Dennoch: Tiere wie fühllose Sachen zu behandeln, muss als Grundeinstellung des alteuropäischen Menschen qualifiziert werden.

Einleitung

Niemand wird glauben, es ließe sich auf den wenigen folgenden Seiten das Verhältnis des Menschen zur Tierwelt anders als in einigen ausgewählten Aspekten und differenzierter als in holzschnittartiger Manier darlegen.

Wie aber in der Geografie zu einer ersten Orientierung die kleinmaßstäblichen Übersichtskarten, auf denen eine Stadt zu einem Punkt zusammenschrumpft, genauso unentbehrlich sind wie die großmaßstäblichen Detailwerke, die jedes einzelne Haus dieser Stadt verzeichnen, so hat auch in der Geschichtsschreibung die generalisierende Übersicht ihre Berechtigung. In diesem Sinne sei sie für die Zeit vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert gewagt. Es ist evident, dass die genannten Beispiele beliebig vervielfacht und ergänzt werden könnten.

Realitäten

Das primäre Verhalten des Menschen gegenüber seinen Mitgeschöpfen war stets das Bestreben, sie seinen Bedürfnissen dienstbar zu machen. Sich von Tieren zu ernähren, ist dem Menschen biologisch vorgegeben, und seine beiden Eckzähne, eigentlich Fangzähne, erinnern an jene Phase der Phylogenese, in er seine lebende Beute noch ohne künstliche Hilfsmittel festhalten musste. Die Geschichte der Jagd - Schule für den Kampf und das Töten wie für erfolgsorientiertes Zusammenwirken - zeigt keine große Eigendynamik während der hier betrachteten Epochen. Feuerwaffen beispielsweise wurden zuerst für den Krieg entwickelt und erst sekundär zum Erlegen des Wildes angewandt. Wenigstens seit der Intensivierung des Ackerbaus im hohen Mittelalter (11. bis 13. Jahrhundert) wurde die Jagd auf Hochwild mehr und mehr ein Privileg des Adels, wie der Fleischgenuss generell eher den Oberschichten vorbehalten war. Dass in der Frühneuzeit von wohl allen Herrscherhäusern sehr gern Hof- und Schaujagden veranstaltet wurden, bei denen man weit über den Bedarf hinaus Tiere tötete, zeigt sowohl die Umfunktionierung eines einst lebensnotwendigen Verhaltens zur Unterhaltung und Demonstration des sozialen Ranges als auch die weitgehende Absenz ökologischer Planung.

Für das Insgesamt der Ernährung wesentlich wichtiger war die Haustierhaltung, wobei Kleinvieh lange auch von den Bürgern in den Städten gehalten wurde. Die Nutztiere waren kleiner als heute und deutlich weniger produktiv; von einer Kuh molk man im Mittelalter kaum ein Zehntel der Milch, die heute zu erhalten ist. Vieh züchteten neben den sesshaften Bauern ebenso die wandernden Hirten; zwischen ihnen kam es oft zu Konflikten. Ein schwieriges logistisches Problem stellten beispielsweise die bis zu 3000 Kilometer zurücklegenden Ochsenzüge des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit dar, wie sie in vielen Hundert zählenden Herden unter anderem von Ungarn bis Frankreich geführt wurden.

Generell wird man sich die Symbiose zwischen Mensch und domestiziertem Tier sehr intensiv vorstellen müssen: Im bäuerlichen Bereich war vielfach ein Zusammenleben im selben Raum oder unmittelbar angrenzend üblich (Hühner wurden noch bis vor Kurzem in der Bauernstube unter die Bänke gesperrt). Auf erstaunlich vielen Bilder von Kircheninnenräumen aus Renaissance und Barock sieht man Hunde frei im Sakralbau herumlaufen.

Durchaus gab es schon eine gezielte Zucht bei allen Haus- und Nutztieren, wobei nicht ästhetisch interessante, sondern leistungsfähige Rassen das Ergebnis sein sollten. Frühmittelalterliche Gesetze kannten bereits an die zehn nach Aufgaben differenzierte Hundetypen. Wie beim Obst- und Weinbau spielten auch hier die Klöster eine bemerkenswerte Rolle: Ihnen dürfte neben der Karpfenhaltung die Kaninchenzucht zu verdanken sein. Noch schwerer lastete die Hand des Menschen auf jenen Rassen, denen er Arbeit aufbürden konnte. Im agrarischen Bereich waren die Bedingungen für einige Tiere wohl in etwa artgerecht, die Schweine beispielsweise hatten viel Auslauf, da man sie in die Wälder trieb, wo sie sich ihr Futter, besonders Eicheln, selber suchten. Auch mag das gemeinsame Leben der bäuerlichen Familie mit den Tieren, von deren Gesundheit und Leistungsfähigkeit man abhing, einer schrankenlosen Ausnutzung Grenzen gesetzt und ein eher symbiotisches Verhältnis ermöglicht haben. Aber etwa zur Arbeit der Ochsen und Pferde vor dem Pflug verwendete man jahrhundertelang Joche, die nicht nur ergologisch sehr ungünstig waren, sondern die Tiere auch sinnlose Anstrengung und Schmerzen kosteten (siehe Abbildung 1 der PDF-Version).

Es ist kaum vorstellbar, was etwa an Reitpferden verbraucht wurde. Seit der Karolingerzeit bis zur Renaissance wurden Schlachten ganz vorwiegend zu Pferd ausgefochten, und bis zum Ersten Weltkrieg blieb die Kavallerie ein stets präsenter Truppenteil. Ungeachtet ihres Preises galten seine Tiere dem Ritter kaum mehr als seine Eisenwaffen; ein Pferd war selten ein Partner, sondern ein Nutzobjekt, mit dessen Wert man prahlen konnte. Ein extremer, aber symptomatischer Fall: Bei einem Adelstreffen verbrannte im 12. Jahrhundert ein Teilnehmer "aus Angeberei" vor aller Öffentlichkeit 30 seiner Pferde. Aber wie oft liest man auch in den Quellen, so und so viele Pferde seien von ihm zu Schanden geritten worden, wenn ein besonders schneller Reiter gelobt werden sollte, und wie vollkommen normal waren Tod und Verstümmlung von Pferden auf dem Schlachtfeld!

In der gesamten hier betrachteten Zeit, aber noch im frühen 20. Jahrhundert, ehe sie die Maschine endgültig unnötig machten, konnte man Tiere vielfältigst schwerste Arbeit für den Menschen verrichten sehen, Hunde unter Tage vor die Förderwagen gespannt oder Pferde in der ewigen Eintönigkeit der mechanischen Mühlen, vom Einsatz in der Landwirtschaft und im Verkehrswesen ganz abgesehen (siehe Abbildung 2 der PDF-Version).

Auch die Medizin schon vor Beginn der wissenschaftlichen Tierversuche benutzte diese Lebewesen bedenkenlos. Als Beispiel sei zitiert, was die heilige Hildegard von Bingen (die ihre naturkundlichen Einsichten auch dort, wo sie nachweisbar früheren Autoren entnommen sind, als göttliche Offenbarungen bezeichnete ) als Mittel gegen das Wechselfieber vorschreibt: Man nehme eine Maus, versetze ihr einen Schlag und binde sie zwischen die Schultern des Patienten, bis sie stirbt. So wird dieser Mensch geheilt sein. Ähnliche Rezepte waren in der Volksmedizin fast bis in die Gegenwart verbreitet.

Die ohnehin auf den natürlichen Machtverhältnissen basierende Überlegenheit des Menschen hätte auch ohne jeden ideologischen Überbau zu der faktisch zu beobachtenden Nutzung der Tiere in jeder Form geführt. Aber in Alteuropa wurde diese Einstellung noch zementiert durch die alle Lebensbereiche durchdringenden Vorgaben der christlichen Religion. Sie lieferte für die Nachdenkenden die Legitimation für jede Rücksichtslosigkeit: Hätte Christus die unreinen Geister in Schweine gebannt, die sich im Wasser des Sees Genezareth ersäufen mussten (Matthäus 8, 28ff.), wenn sie nicht an sich böse wären? Hatte der Apostel nicht betont, dass Gott sich keineswegs um Tiere kümmere (1 Korinther 9, 10)? Wie sehr eine solche Einstellung den Katholizismus geprägt hat, zeigt am besten das Verbot des seliggesprochenen Papstes Pius IX. (reg. 1846 bis 1878), in Rom einen Tierschutzverein zu errichten. Dagegen waren die ersten in Deutschland, die damals den Tierschutzgedanken aufnahmen, evangelische Pastoren, die sich auf eine Stelle des Alten Testaments beriefen (Sprüche 12, 10).

Tiere wie fühllose Sachen zu behandeln, muss als Grundeinstellung des alteuropäischen Menschen qualifiziert werden. Die Stellung des Tieres als res, als Sache im römischen Recht ist nur der juridische Ausdruck dieser Einstellung, ihre bis ins 20. Jahrhundert nachwirkende Legitimierung. Zwar scheint es nicht üblich gewesen zu sein, Kinder regelrecht zu Tierquälern zu erziehen, wie bei den Hopi- und Navajo-Indianern, aber Tiere als misshandeltes Spielzeug (wie der "Vogel am Faden") waren auch bei uns im Mittelalter und der Frühneuzeit ganz üblich.

Wenn es richtig ist, dass die Funktion der Spiegelneuronen uns angeboren ist, nämlich mit anderen Wesen Mitleid zu empfinden, dann muss man sich fragen, wieso diese Funktion in den hier betrachteten Epochen nur bei sehr wenigen Ausnahmen wirkte, wogegen heute doch die Mehrzahl der Europäer entsprechende Empfindungen kennt und berücksichtigt. Denn die Geschichte des Gebrauchs der Tiere ist zugleich eine Geschichte ihrer Qualen. Diese wurden ihnen zum Teil zugefügt aus schlichter Unkenntnis ihrer Bedürfnisse und Biologie, zum anderen Teil aber mit Absicht, da Tierquälerei ein weder gesellschaftlich, noch rechtlich und schon gar nicht religiös abgelehntes Verhalten war. Vielmehr zählte es zu den populären Vergnügungen: Ein Lieblingssport der Skandinavier war es, ihre Pferde zu blutigen Kämpfen aufeinander zu hetzen (in Norwegen bis in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts ), die Engländer taten dasselbe mit Hähnen und züchten spezialisierte Kampfhunde, Bulldoggen, für grausame Attacken gegen Stiere und Bären, in Frankreich pflegte man Katzenmassaker als Brauchtum. Wer weiß heute, dass sich in Wien zur Zeit Maria Theresias eine eigene Arena für Stierhetzen großer Beliebtheit erfreute?

Ansätze dazu, Tiere als fühlende Wesen zu betrachten, denen man keinen unnötigen Schmerz zufügen solle, entwickelten sich mit der Aufklärung und nicht zufällig in Parallele mit der Befürwortung der Abschaffung der gerichtlichen Tortur und der Emanzipation der Sklaven, fanden aber erst ab 1822 Eingang in die nationalen Gesetze (zuerst in England). Ob hier nicht auch ein Zusammenhang mit der Kampagne gegen das bisher allenthalben praktizierte strenge Wickeln der Kleinkinder und ihrem langsamen Erfolg anzunehmen ist?

Tierliebe hätte es also früher nicht gegeben? Zweifelsohne ja, aber es handelt sich zuallermeist um Beziehungen eines Einzelnen zu einem bestimmten Lebewesen, das an die Stelle eines menschlichen Gesprächspartner trat. Nicht zufällig wurde es im Mittelalter als Zeichen der Heiligkeit - also eines Ausnahmephänomens - angesehen, wenn jemand Mitleid für hungernde Vögel oder Waldtiere empfinden konnte. Ähnlich sollen sogar die wilden Tiere die "Milde" eines Herrschers erkannt haben und ihm zugelaufen sein, wie etwa ein Zeitgenosse von Kaiser Friedrich III. erzählt.

Während in einigen Teilen Europas Tiere immer noch öffentlich zur Belustigung gemartert werden (Spanien), ist allenthalben eine Einstellung entschwunden, die notwendigerweise die früheren Generationen entwickeln mussten, nämlich die, im Tier einen unheimlichen und grausamen Feind zu sehen. Es ist keine Übertreibung, sondern historische Tatsache, dass früher Wölfe in kalten Wintern in Dörfer und Städte einbrachen und Kinder aus der Wiege rissen oder Bären ganze Viehherden dezimierten; die Ausrottung solcher Tiere war verständlicher Selbstschutz, ihre künstliche Wiedereinführung in der Gegenwart ist unverantwortliche Machtdemonstration nach dem Motto: Was wir Menschen vernichtet haben, können wir auch neu beleben, wie es uns gerade beliebt. Wegen dieser Ideologie werden nun wiederum Herdentiere qualvoll gerissen, nur damit der ausschließlich menschliche Wert der Pluralität gefördert wird - dem Bären ist es völlig egal, ob er noch 20 seinesgleichen in der Region hat oder 2000. Wer heute die höheren Tiere als "Mitgeschöpfe" ansieht, kann die manipulierte Neuverbreitung von Raubtieren nicht wollen.

Vorstellungen

In allen Kulturen hat man die Tierwelt auch als Projektionsfläche für menschliche Ängste und Wünsche gebraucht, und tut es bisweilen noch immer, wie die eben genannten Bestrebung zeigen. Einer älteren Mentalität gehört das Tier als Träger einer religiösen Macht an (siehe Abbildung 3 der PDF-Version). Dass Tiere Erscheinungsformen einer Gottheit sind oder ihr zugeordnet werden, kennt man aus wohl allen polytheistischen Religionen. Äußerst verbreitet war auch die Opferung von Tieren und der Verzehr ihres Fleisches zur Ehren der Götter. Solche Traditionen wurden bei der Christianisierung unterdrückt; bei der Islands im Jahr 1000 beispielsweise scheint das Verbot, Pferdefleisch zu essen, von gleicher Wichtigkeit zu sein, wie das Verbot, Kinder auszusetzen. Bei den Westslaven war vor der Christianisierung das Pferd ein so geheiligtes Orakeltier, dass man von seinem Verhalten lebenswichtige Entscheidungen abhängig machte; Ähnliches wird auch von den älteren Germanen berichtet.

Obwohl der neue Glaube die Götter aller anderen Religionen verwarf oder zu Dämonen erklärte, blieben in ihm doch Reste theriomorpher Vorstellungen erhalten. Der heilige Geist erscheint bis heute als Taube und Jesus als Lamm, drei der Evangelisten als Tiere. Theologen bezeichnen solches als Allegorien, aber im religiösen Erleben konnte dies ganz real werden: Die bekannte Mystikerin Mechthild von Magdeburg (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) schaute Jesus als "ein blutiges Lamm, gehangen an einem roten Kreuze. Mit so süßen Augen sah es uns an, dass ich es nimmer mehr vergessen kann". Andere Ekstatikerinnen erlebten noch eindrücklichere Visionen, etwa das Lamm Gottes mit menschlicher Haut statt des Felles. Über der Porta della Carta des gotischen Dogenpalastes kniet der Doge vor einem großen Löwen - dem Stadtpatron Markus. Häufiger treten vor allem die gefallenen Engel und Satan in Tiergestalt auf. So war der Kampf mit dem Löwen in der romanischen Kunst ein beliebter Ausdruck für den Streit des Christen gegen den Teufel, wie beispielsweise am Mainzer Dom zu sehen (siehe Abbildung 4 der PDF-Version). In unzähligen Berichten von Visionen seit der Spätantike (Leben des heiligen Abtes Antonius, ins Bild gebracht u.a. von Grünewald) erscheinen die Dämonen in Tiergestalt, die Höllenbilder nicht nur eines Hieronymus Bosch sind voll davon.

Wenn über den Abgeordneten des Bundestages in Berlin wie über jenen des Parlaments in Wien mächtige Adlerreliefs thronen, so sind dies anscheinend immer noch unverzichtbare survivials einer erst um 1100 entwickelten Tiersymbolik. Wie Löwen, Panther, Pferde zählten auch Adler zu den meistverwendeten Wappentieren zunächst des Adels und der Ritterschaft, später auch des gehobenen Bürgerstand. Schon früher hatten Namen wie Arnold, Bernhard oder Wolfgang dem Träger die Kräfte des Raubvogels beziehungsweise der Raubtiere übertragen wollen, nun drohten sie augenfällig von Schild, Fahne und Waffenrock. Als Rodrigo Borgia 1492 seine Erhebung zum Papst feierte, erschien sein Wappentier, der Stier, "in so vielen Emblemen und Figuren und wurde mit so viel Epigrammen besunden, daß ein Satiriker hätte sagen dürfen, man feiere in Rom die Auffindung des heiligen Apis", des altägyptischen Stier-Gottes.

Symbolische Bedeutungen von Tieren konnten gleichermaßen in die positive wie die negative Sphäre zielen, sogar für ein und dasselbe Tier. Der Löwe beispielsweise war nach der Bibel einerseits als Christus, andererseits als der Teufel zu verstehen. Der Hund galt als Emblem der Treue nicht seltener denn als Zeichen der Unzucht oder des Neides. Andere Lebewesen wie der Skorpion oder das Lamm waren dagegen, wieder durch die Bibel, auf eine eindeutig böse oder gute Rolle festgelegt. Als Beispiel für die primär negative Konnotation der Tiersymbolik im christlichen Europa seien die gemalten Schandbriefe genannt, öffentlich angeheftete Rufschädigungen etwa im Zuge einer Fehde. Die Gescholtenen werden am Galgen, Rad oder Pranger dargestellt, Galgenvögel nähern sich ihnen, sie müssen verkehrt auf einem negativ konnotierten Tier reiten, sind dabei, einem Schwein oder einem Esel ihre Petschaft (Siegelstempel) auf den Hintern zu drücken - sinnfälliger Ausdruck des "Wertes", den der Ankläger ihrem Siegel zuschreibt.

Ein uns fremd gewordener Vorstellungskomplex ist der, Mensch und Tier könnten sich vermischen. Hier ist nicht an Sodomie zu denken, wie man im Mittelalter den meist mit dem Tod bestraften Geschlechtsverkehr zwischen den Spezies nannte, sondern an jene Zwischenwesen, die schon der Antike nicht unbekannt waren, beispielsweise die Sphinx oder der Kentaur. Das frühe Mittelalter hatte solche Vorstellungen weitestgehend tabuisiert; seit dem 12. Jahrhundert kommen dagegen die vielfältigsten Zusammensetzungen in der bildenden Kunst vor, namentlich in der Buchmalerei und der Bauplastik. Seit damals waren auch satirische Romane verbreitet, in denen die verschiedenen Tiere Menschen mit ihren Lastern verkörpern - am bekanntesten die epischen Texte über Reineke Fuchs, die noch auf Gottsched und Goethe ihre Faszination ausübten. Der Löwe als Repräsentant des leichtgläubigen bis brutalen Monarchen, der Fuchs als der raffinierte Betrüger, der Wolf Isegrim als gieriger, aber dummer Verlierertyp. Mickey Mouse und Donald Duck sind ferne Nachfahren jener hochmittelalterlichen Tierdichtung.

Doch wird die an sich schon ältere Vorstellung, Menschen könnten sich wirklich in Tiere verwandeln, erst ab dem 12. Jahrhundert verbreitet und hält sich bis in die Aufklärungsepoche. Nicht nur kursierten seit damals neu erfundene Werwolfgeschichten, sondern es wurden auch Menschen tatsächlich hingerichtet, denen man blutige Überfälle in dieser Gestalt vorwarf. Dass eine bestimmte psychische Erkrankung Anlass zu dieser Vorstellung bot, wurde manchmal schon früher vermutet, setzte sich aber erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Erklärung durch.

Während uns derartiges noch einigermaßen begreifbar ist, gilt dies kaum mehr für die wohl seltsamste Projektion menschlicher Eigenschaften auf Tiere: Zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert liegen die Zeugnisse für die in mehreren Ländern Europas durchgeführten Tierprozesse. Es handelte sich um völlig ernst gemeinte Verfahren vor weltlichen oder geistlichen Gerichten, von denen die ersteren Vergehen von Haus- und Nutztieren ahndeten, und letztere Schädlinge mittels des Kirchenbanns zu vertreiben suchten. So wurden etwa Schweine, die ein Wickelkind gefressen hatten (was nicht ganz selten vorkam), zum Tode verurteilt, oder Mäusen, die Flurschäden verursachten, mit bestimmter Fristsetzung der Umzug auf ein unbebautes Grundstück geboten - als ob diese die Aussprüche der Advokaten und Richter hätten verstehen können, als ob sie bewusst schuldhaft gehandelt hätten. Diese rein situationsbedingte Ausstattung der Tiere mit einer Rechtspersönlichkeit scheint im Zuge der damals sehr expandierenden Verrechtlichung fast aller Lebensbereiche erfolgt zu sein und hat mit heutigen Erwägungen einer juridischen Personenstellung für Tiere nichts zu tun, denn in allen Fällen wurde das gelehrte Recht gegen diese eingesetzt.

Das Zeitalter des Rationalismus projizierte ganz andere Konzepte auf die Fauna: Wie die Biologie des Menschen als Funktionieren einer Maschine interpretiert wurde, so auch die der Tiere - "L'homme Machine" war der programmatische Titel eines Buches, das der Arzt und Philosoph Julien de La Mettrie 1748 veröffentlichte. Dies führte schon damals, und im folgenden Jahrhundert ins Gigantische vermehrt, zu einer völlig unbeteiligten Haltung den Schmerzen jener Lebewesen gegenüber, deren Geheul als Quietschen schlecht arbeitender Maschinenteile verharmlost wurde. Belege für sadistisches Handeln, als wissenschaftliche Experimente legitimiert, sind seit damals Legion.

In der Aufklärung, namentlich bei Immanuel Kant, wurden teilweise wohl Grausamkeiten gegen Tiere verurteilt, aber mit einem ganz typischen anthropozentrischen Argument: der Mensch würde so auch gegenüber seinen Artgenossen abgestumpft und eher zu unmoralischem Betragen geneigt. Gleichzeitig bestand das Bedürfnis, die Herrschaft des Menschen über die sonstige Kreatur vorzuführen: Die Menage in Paris, die Ludwig IX. unter anderem für exotische Vögel und Krokodile 1662 einrichten ließ, wurde vorbildhaft, Schausteller demonstrierten domestizierte Tiere anderer Kontinente (das bengalische Nashorn Clara zeigte man Mitte des 18. Jahrhunderts 17 Jahre lang in ganz Europa). Damals verdrängte eine immer realitätsgerechtere Kenntnis der außereuropäischen Tierarten die vielen gern an den Rändern der Welt angesiedelten Fantasietiere vom Phönix bis zum Einhorn. Die von Jean-Jacques Rousseau ausgehende positive Natursicht, nach der Tiere am Naturrecht teilhaben würden, beeinflusste freilich nur langsam das tatsächliche Verhalten.

Fazit und Ausblick

Wir haben gesehen, wie im alten Europa vergleichsweise viel mehr Menschen in einem viel unmittelbareren Kontakt zu den Tieren standen, mit denen sie täglich zusammenarbeiteten, die ihrem Vergnügen dienten, die aber auch in ihrer Vorstellungswelt in religiösen und symbolischen Gestalten präsent waren. Dass diese beiden Welten mehr und mehr auseinanderrückten, ist primär eine Folge der Technisierung unserer Welt. Die meisten Tierarten sind real nur mehr im Zoo zu besichtigen.

Aus der Perspektive der Fauna betrachtet ist diese Distanzierung gewiss ein Vorteil. Wenn auch bis heute viele der einfachsten humanen Forderungen nach artgerechter Haltung und Verzicht auf unnötige Versuche immer noch nicht erfüllt sind, darf hier der Historiker doch berechtigterweise "Fortschritt" konstatieren (wie sehr auch in seiner Zunft dieser Begriff nicht mehr à la mode ist). Denn sieht man einerseits in unsere Vergangenheit zurück und andererseits auf die gegenwärtige Realität in anderen Kontinenten, muss man zugeben, dass die Idee, im Tier ein zu schonendes und schützendes Mitwesen zu erkennen, nirgendwo so weit gekommen ist wie im Europa von heute.

Andererseits ist das Tier in der gegenwärtigen Vorstellungswelt viel weniger präsent, und wenn, viel nüchterner. Überfällen von Raubtieren ist man auch auf dem Land nicht mehr ausgesetzt, Fabeltiere leben nur gelegentlich im Kinderfilm wieder auf, eine Tiersymbolik gibt es praktisch nicht mehr. Das mag man als psychische Entlastung beurteilen, aber auch als Verlust. Für eine bestimmte Altersstufe ist die die Welt der Roboter, Aliens und Dementoren an ihre Stelle getreten. Ob es nicht eine sinnvolle Aufgabe moderner Pädagogik sein sollte, stattdessen den Kontakt mit realen Wesen, mit Tieren als Mitgeschöpfen, zu fördern?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eingehendere Informationen vgl. Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000 (mit ausführlichen Literaturhinweisen). Im Folgenden werden nur dort nicht nachgewiesene Einzelheiten und Quellenzitate belegt.

  2. Vgl. Adelheid Krah, Tiere in den langobardischen und süddeutschen Leges, in: Sieglinde Hartmann (ed.), Fauna and Flora in the Middle Ages, Frankfurt/M. 2007, S. 33-52, hier: S. 46.

  3. Eine extreme Ausnahme ist die Zuneigung des Willehalm (im gleichnamigen Roman des Wolfram von Eschenbach) zu seinem Ross Pussat.

  4. Vgl. Gaufridus de Bruil, Chronica 1, 69: Nach der Ausgabe bei Bouquet, online: www.guyenne.fr/ArchivesPerigord/Varia1/
    Documents/Gaufredi_Vosiensis1.htm (25.1.2012).

  5. Vgl. Laurence Moulinier, Naturkunde und Mystik bei Hildegard von Bingen, in: Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Mystik und Natur, Berlin 2009, S. 39-60.

  6. Vgl. Hildegard von Bingen, Das Buch von den Tieren, übers. von Peter Riethe, Salzburg 1996, S. 123.

  7. Vgl. Ralph Frenken, Gefesselte Kinder. Geschichte und Psychologie des Wickelns, Badenweiler 2011, S. 79ff.

  8. Vgl. Svale Solheim, Hestekamp, in: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder, Bd. 6, 1961, Sp. 538-540.

  9. Vgl. R. Frenken (Anm. 7), S. 267ff.

  10. Vgl. Gabriela Kompatscher/Albrecht Classen/Peter Dinzelbacher, Tiere als Freunde im Mittelalter, Badenweiler 2010.

  11. Vgl. A.F. Kollarius, Analecta monumentorum omnis aevi Vindobonensia II, Wien 1762, Sp. 564f.

  12. Vgl. Brita Egardt, Hästkött, in: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder, Band 7, 1962, Sp. 280f.

  13. Vgl. Marc-André Wagner, Le cheval dans les croyances germaniques, Paris 2005, S. 182ff.

  14. Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit 2, 4.

  15. Vgl. Anette Pelizaeus, Greif, Löwe und Drache. Die Tierdarstellungen am Mainzer Dom, in: Sabine Obermaier (Hrsg.), Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, Berlin 2009, S. 181-205.

  16. Vgl. Heiko Hartmann, Tiere in der historischen und literarischen Heraldik des Mittelalters, in: S. Obermaier (Anm. 15), S. 147-179.

  17. Ferdinand Gregorovius, Lucrezia Borgia, München 1982, S. 52.

  18. Vgl. Matthias Lentz, Konflikt, Ehre, Ordnung. Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (ca. 1350 bis 1600), Hannover 2004.

  19. Vgl. Rudolph Leubuscher, Ueber die Wehrwölfe und Thierverwandlungen im Mittelalter: Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie, Berlin 1850.

  20. Vgl. Peter Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006.

  21. Vgl. Bea Lundt, Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500-1800, Darmstadt 2009, S. 128f.

Dr. phil., geb. 1948; Professor für Sozial- und Mentalitätsgeschichte (pensioniert);Hirschenhöh 6, 5450 Werfen in Salzburg/Österreich. E-Mail Link: peter.dinzelbacher@aon.at