Einleitung
Am 9. Mai 1955, zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches und der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, wird die Bundesrepublik Deutschland in das Nordatlantische Verteidigungsbündnis (NATO) aufgenommen. Theodor Blank, seit dem 7. Juni 1955 erster Verteidigungsminister der Bundesrepublik, gibt drei Wochen später im Deutschen Bundestag eine Erklärung ab. "Wir wollen Streitkräfte in der Demokratie, die sich dem Vorrang der Politik fügen. Sie sollen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit achten, die staatsbürgerlichen Grundrechte und Grundpflichten ernst nehmen und die Würde des Menschen anerkennen. Sie sollen bereit sein zur Verteidigung gegen jeden, der den Frieden bricht."
Mit der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in das NATO-Bündnis war zugleich eine heftige innenpolitische Auseinandersetzung über die Wiederbewaffnung, die sich über fünf Jahre hingezogen hatte, zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Die Politik des Regierungslagers unter Bundeskanzler Konrad Adenauer, bestehend aus CDU/CSU, FDP, DP und BHE (ab 1953), hatte sich durchgesetzt. Unter den vier Hauptzielen damaliger deutscher Politik - Souveränität, Sicherheit, Wiedervereinigung, Wiederaufbau - hatte Adenauer eine klare Prioritätsentscheidung zugunsten der beiden ersten Ziele getroffen.
Für die SPD, stärkste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag, waren die deutsche Einheit und der wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau die politischen Primärziele. Doch bildeten weder die Gegner noch die Befürworter der Wiederbewaffnung ein geschlossenes, homogenes Lager. Kein anderes Problem hat die Deutschen in der Bundesrepublik mehr bewegt als die Frage, ob es so kurz nach der Katastrophe von 1945 wieder deutsche Soldaten geben sollte.
Ab Mitte der fünfziger Jahre wurde allmählich spürbar, was man später das "Wirtschaftswunder" nannte. Die Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse setzte sich um in eine wachsende Zustimmung zur Politik Adenauers. Die Entscheidung für die Wiederbewaffnung wurde von dieser grundsätzlichen Zustimmung mitgetragen und als unvermeidlich akzeptiert ("notwendiges Übel"). Das fiel umso leichter, als der Antikommunismus weit verbreitet war und die wachsende Aufrüstung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die von der Berlin-Blockade 1948 und dem Korea-Krieg 1950 verursachten Bedrohungsgefühle weiter nährte.
Wehrverfassung und Wehrgesetzgebung werden in den Jahren von 1955 bis 1957 vom Bundestag beschlossen. In das Grundgesetz wird eine Vielzahl von wehrrechtlichen Vorschriften aufgenommen. Sie bilden das rechtliche Fundament für den Einbau der Bundeswehr in die staatliche und gesellschaftliche Ordnung. Die Gesamtheit der Wehrgesetze lässt sich in zwei große Bestandteile untergliedern: Der eine Teil gesetzlicher Regelungen befasst sich mit der Stellung der Streitkräfte im demokratischen Staat; der andere bestimmt die Stellung des Staatsbürgers in den Streitkräften. Die Verfassung macht zwischen dem Bürger in Zivil und dem Bürger in Uniform keinen Qualitätsunterschied. Hier liegt der Anknüpfungspunkt für das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform", den Kernbegriff der Inneren Führung der Bundeswehr. Der Soldat ist nicht "Mittel" der Armee, sondern ihr "Mitglied" (Günther Dürig), nicht bloßes Objekt der Befehlsgebung seiner Vorgesetzten, sondern mitverantwortliches, zu mitdenkendem Gehorsam verpflichtetes Subjekt. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist ein Grundrecht.
Am 7. Juli 1956 verabschiedet der Deutsche Bundestag nach 18-stündiger Debatte mit 269 zu 166 Stimmen bei 20 Enthaltungen das "Gesetz zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht". Unter allen Wehrgesetzen war das Gesetz über die Wehrpflicht am heftigsten umstritten. Am 5. Dezember 1956 beschließt der Deutsche Bundestag ungeachtet eines förmlichen Einspruchs desNATO-Rats eine nur 12-monatige Grundwehrdienstzeit. Seither ist die Dauer des Grundwehrdienstes mehrfach geändert worden. Am längsten war sie mit 18 Monaten im Zeitraum von 1962 bis 1972. Danach schrumpfte die Grundwehrdienstzeit immer mehr, sie beträgt seit Januar 2002 nur noch neun Monate.
Wehrverfassung und Wehrgesetzgebung waren eine große politische und planerische Leistung. Zwar sind die Wehrgesetze seither häufig novelliert worden; aber in der Substanz blieben sie ebenso unverändert wie die Leitideen der Inneren Führung. Sie sind heute wie damals eine tragfähige Grundlage für eine moderne Armee in der Demokratie.
Die frühen Jahre
Am 12. November 1955 erhalten die ersten 101 Soldaten in der Bonner Ermekeil-Kaserne ihre Ernennungsurkunden. Dieser Tag gilt als der offizielle Gründungstag der Bundeswehr. Am 1. Juli 1956 wechseln aus dem 1951 eingerichteten Bundesgrenzschutz (BGS) fast 9 600 Mann zur Bundeswehr. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte sie eingeladen, "bei der Wiedergeburt deutschen Soldatentums" mitzuwirken, und knapp 60 Prozent der BGS-Beamten folgen seinem Aufruf. Waffen und Ausrüstungsmaterial kommen anfangs aus den USA, später auch aus England und Frankreich. Die erste große Rüstungsbeschaffungsmaßnahme der Bundeswehr gerät gleich zum Skandal: 1957 ordert Verteidigungsminister Franz Josef Strauß 4 472 Schützenpanzer HS 30 bei der Schweizer Firma Hispano-Suiza. Bei der Auftragsvergabe sollen Bestechungsgelder in Millionenhöhe geflossen sein. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages kann die Vorwürfe nicht bestätigen, aber auch nicht entkräften.
Am 1. April 1957 werden erstmals knapp 10 000 Wehrpflichtige des Geburtsjahrgangs 1937 zu den Einheiten des Heeres einberufen. Der Start der Wehrpflicht ist ein Erfolg. Voraussagen, dass ein beachtlicher Teil den Wehrdienst verweigern wird, bestätigen sich nicht. 62 198 junge Männer des Jahrgangs 1937 leisten Grundwehrdienst in der Bundeswehr. Kriegsdienstverweigerer können dagegen erstmals im Jahre 1961 zur zivilen Ersatzdienstleistung herangezogen werden, weil das Ersatzdienstgesetz erst Anfang 1960 in Kraft tritt.
Bis Mitte der sechziger Jahre (in den Geburtsjahrgängen 1938 - 1945) ist Kriegsdienstverweigerung (KDV) ein Muster sozialer Abweichung. Von 1965 bis 1976 (in den Jahrgängen 1946 bis 1956) nehmen die Antragszahlen von Jahr zu Jahr zu - ausgenommen 1974 und 1975. In diesen Jahren gilt die Ableistung des Grundwehrdienstes noch immer als Bestandteil der männlichen Normalbiographie, aber Verweigerung wird zunehmend gesellschaftsfähig. Eine sprunghafte Steigerung der KDV-Anträge bringt das Jahr 1977, als es kurzzeitig möglich ist, sich per Postkarte vom Wehrdienst abzumelden: fast 70 000 Postkarten-Anträge gehen ein. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Postkarten-Novelle für nichtig erklärt hat, fallen die Antragszahlen 1978 auf das Niveau von 1976 zurück, wachsen von da an aber weiter an. In den Geburtsjahrgängen von 1957 bis 1966 stabilisiert sich die Kriegsdienstverweigerung als ein gesellschaftlich anerkanntes Verhaltensmuster. Den nächsten Ausreißer nach oben verursacht der Golfkrieg 1991: In diesem Jahr werden 151 212 KDV-Anträge registriert - fast doppelt so viele wie 1990. Seither hat sich die Kriegsdienstverweigerung endgültig als "Massenphänomen sozialer Normalität" (Hans-Georg Räder) etabliert.
Nützlichkeitsgesichtspunkte, Rentabilitätserwägungen, die Vor- oder Nachteile des Wehrdienstes für das persönliche und berufliche Fortkommen, nicht aber ideologisch-politische Einflüsse prägen Einstellung und Verhalten der jugendlichen Mehrheit. Wie sich in den kommenden Jahren zeigen wird, bleibt die zivile Milieubindung der wehrpflichtigen Soldaten während der Dienstzeit weitgehend unverändert erhalten. Die Bundeswehr ist keine "totale Institution". Dauerhafte Sozialisationswirkungen durch den Grundwehrdienst gibt es so gut wie nicht. Wehrpflichtige sind "Zivilisten in Uniform" (Emil Obermann). Die Dienstzeit ist eine vorübergehende Episode, die Grundwehrdienstleistende nicht veranlasst, alte Bindungen zu lockern. Eine möglichst heimatnahe Einberufung hat für Wehrpflichtige und junge Zeitsoldaten oberste Priorität, und die Bundeswehr ist bemüht, diesem Wunsch zu entsprechen.
Zwei Monate nach der ersten Einberufung von Wehrpflichtigen ereignet sich am 3. Juni 1957 ein Unglück, bei dem 15 Rekruten der 2. Kompanie des Luftlandejägerbataillons aus Kempten während der Durchquerung der Iller ums Leben kommen. Bei der Kostenerstattung für die Beerdigungen gibt es peinliche bürokratische Verzögerungen. Generalinspekteur Adolf Heusinger und Heeresinspekteur Hans Röttiger initiieren daraufhin die Errichtung eines Hilfsfonds. Am 18. Oktober 1957 wird das "Soldatenhilfswerk der Bundeswehr" gegründet.
Bereits im Herbst 1956 hatte sich gezeigt, dass das 1955 bekannt gegebene Aufstellungsprogramm zeitlich nicht einzuhalten war. Franz Josef Strauß, seit dem 16. Oktober 1956 Nachfolger Theodor Blanks im Amt des Verteidigungsministers, revidiert den Zeitplan nach dem Grundsatz "Qualität geht vor Quantität". Dennoch bleibt das Wachstumstempo beachtlich: Im Februar 1957 zählt die Bundeswehr 70 000 Mann; am Jahresende 1957 sind es schon 118 000. Bereits im Juli 1957 werden der NATO die ersten einsatzfähigen Verbände unterstellt.
Im November 1957 beendet der Personalgutachterausschuss seine Tätigkeit. Er war aufgrund gesetzlicher Regelung vom 23. Juli 1955 aus 38 weisungsungebundenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens berufen worden und hatte im August 1955 zu arbeiten begonnen. Der Ausschuss hat dazu beigetragen, die Bundeswehr von Führungspersonen freizuhalten, die durch ihr Verhalten in der Ära des Nationalsozialismus belastet waren. Die Bundeswehr ist eine Neugründung und sie versteht sich auch so, aber sie wird von Wehrmachtsoldaten aufgebaut. Die innere Zerrissenheit des Offizierkorps im Umgang mit den soldatischen Leistungen der alten Wehrmacht begleiten die Geschichte der Bundeswehr für lange Zeit.
Am 19. Februar 1959 wählt der Deutsche Bundestag Generalleutnant a. D. Helmuth von Grolman zu seinem ersten Wehrbeauftragten. Das Amt wurde auf Betreiben der SPD zum Schutz der Grundrechte der Soldaten und als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle durch die Verfassungsnovelle vom 19. März 1956 geschaffen. Das Wehrbeauftragtengesetz vom 26. Juni 1957 bestimmt zusätzlich, dass der Wehrbeauftragte auch über die Beachtung der Grundsätze der Inneren Führung in der Bundeswehr zu wachen hat. Die neue Verfassungseinrichtung hatte es in den ersten Jahren schwer, sich in der Truppe, Öffentlichkeit und auch dem Parlament gegenüber durchzusetzen. Erst dem Wehrbeauftragten Fritz-Rudolf Schultz (1970 - 1975), der sich noch in seinem Jahresbericht 1974 über "das distanzierte Verhältnis von Parlament und Wehrbeauftragtem" beklagte, sowie seinem Nachfolger Karl-Wilhelm Berkhan (1975 - 1985) ist es gelungen, das Amt nach mancherlei Querelen zu konsolidieren.
Für den größten Teil des länger dienenden Militärpersonals ist der Dienst in den Streitkräften kein Lebensberuf: 85 Prozent der Freiwilligen kehren nach Ablauf ihrer maximal 20-jährigen Verpflichtungszeit in das zivile Erwerbsleben zurück. Seit ihrer Gründung ist die Bundeswehr darum bemüht, ihre Soldaten nicht nur militärisch auszubilden, sondern ihnen gleichzeitig auch eine Perspektive für die Zeit danach zu vermitteln. Dafür wird mit Erlass vom 9. Oktober 1959 der Berufsförderungsdienst (BFD) der Bundeswehr eingerichtet.
Mit Jahresende 1962 ist die Aufbauphase der Bundeswehr im Wesentlichen abgeschlossen: Elf der nach dem NATO-Planungsdokument MC 70 vorgesehenen zwölf Divisionen des Heeres sind der NATO unterstellt, dazu zehn Luftwaffengeschwader und zwei Luftabwehrraketenbataillone sowie 13 schwimmende und ein fliegendes Geschwader der Marine. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 und die Kuba-Krise vom Oktober/November 1962 machen den Bürgern den Wert und die Gefährdung der äußeren Sicherheit erneut bewusst. Von Oktober 1956 bis August 1961 steigt nach Erhebungen des Allensbacher Instituts die Zahl der Befürworter der Bundeswehr von 38 auf 60 Prozent; lediglich 24 Prozent würden die Streitkräfte wieder abschaffen, wenn das möglich wäre, die Zahl der Unentschiedenen geht auf 16 Prozent zurück. Im Februar 1962 wird die deutsche Nordseeküste von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht, die über 350 Menschenleben fordert. Mehr als 40 000 Soldaten sind über Tage hinweg ununterbrochen im Katastropheneinsatz. Sie retten 1 100 Menschen aus unmittelbarer Lebensgefahr. Bei den Rettungseinsätzen verlieren neun Soldaten ihr Leben. Die selbstlose Hilfsaktion trägt der Bundeswehr weitere Sympathien ein.
Die Aufbauphase der Bundeswehr endet mit einer Affäre. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel beschäftigt sich nach der NATO-Stabsübung "Fallex 62" in seiner Ausgabe vom 10. Oktober 1962 unter der Schlagzeile "Bedingt abwehrbereit" kritisch mit der Einsatzbereitschaft und dem Leistungsvermögen der Bundeswehr. Die Bundesanwaltschaft leitet daraufhin wegen Landesverrats ein Ermittlungsverfahren ein. Die Aktionen der Behörden alarmieren die Öffentlichkeit. Erstmals in der Nachkriegsgeschichte gibt es politisch motivierte Straßendemonstrationen, bei denen sich vor allem die Studenten mit dem Spiegel solidarisieren. Gemessen an der Aufregung, die sie verursacht hat, endet die Affäre merkwürdig folgenlos. Einzig Verteidigungsminister Franz Josef Strauß muss am 30. November 1962 zurücktreten, weil er das Parlament belogen hat. Nachfolger wird Kai-Uwe von Hassel, der sein Amt am 10. Januar 1963 antritt.
Die Bundeswehr im Konflikt
In den folgenden sieben Jahren vergrößert sich der Personalumfang der Bundeswehr nur um etwa 70 000 Soldaten. Hauptproblem der sechziger Jahre ist der allenthalben spürbare Mangel an qualifiziertem länger dienendem Personal. Im Jahr 1969 fehlen den Streitkräften rund 32 000 Unteroffiziere, 1981 sind es noch immer rund 19 000. Die Bundeswehrführung versucht, fehlendes Personal durch leistungsfähige Bewaffnung und moderne Organisation auszugleichen. Die sechziger Jahre, insbesondere die Zeit von 1963 bis 1967, gelten als die Epoche des Ausbaus und der Konsolidierung. Es sind zugleich die Jahre des Ringens um die Innere Führung. Die Gegensätze zwischen Befürwortern und Gegnern brechen nun in voller Schärfe auf.
Es beginnt im Sommer 1963 mit Vorfällen unwürdiger Behandlung von Untergebenen in der Fallschirmjäger-Ausbildungskompanie 6/9 der 1. Luftlandedivision in Nagold. Im Spätherbst 1964 muss der seit dem 8. November 1961 amtierende Wehrbeauftragte Vizeadmiral a. D. Hellmuth Heye wegen einer Artikelserie über den wachsenden 08/15-Kommiss in der Bundeswehr zurücktreten. Anfang 1965 werden die von Bundespräsident Heinrich Lübke gestifteten Truppenfahnen feierlich übergeben.
Mit Erlass des Bundesministers der Verteidigung vom 1. August 1966 wird klargestellt, dass die Koalitionsfreiheit der Soldaten auch "den Beitritt und die Betätigung in Gewerkschaften" einschließt. Der "Gewerkschaftserlaß" führt zum Rücktritt des Generalinspekteurs Heinz Trettner und des Befehlshabers im Wehrbereich III Günther Pape. Gleichzeitig demissioniert der Inspekteur der Luftwaffe Werner Panitzki. Er glaubt, wegen der verfehlten Organisation des Verteidigungsministeriums die zur selben Zeit akute Starfighter-Krise nicht lösen und damit die Verantwortung für die Luftwaffe nicht länger tragen zu können. Der "Aufstand der Generale", wie die Sensationspresse den dreifachen Rücktritt nennt, enthüllt länger schwelende Spannungen zwischen der politischen Leitung und der militärischen Führung der Bundeswehr.
Zu dieser Zeit ist das Thema Innere Führung Gegenstand eines hoffnungslos ideologisierten und polemischen Kontroverse. Gegner und Befürworter der Inneren Führung verdächtigen sich gegenseitig als Schwarmgeister oder Reaktionäre. In den sechziger Jahren entsteht eine ganze Literatur gegen den "Baudissinismus" und seine "Fehlspekulationen" (Winfried Martini). Die Gründe für den Dauerkonflikt um die Innere Führung sind vielfältig. Die Reformkonzeption konnte schon in der Gründungsphase nicht vollständig durchgesetzt werden. Der überstürzte Aufbau der Bundeswehr machte es unmöglich, allen Truppenführern eine gründliche Einweisung in die Reformideen zu geben. Das 1957 herausgegebene Handbuch Innere Führung erschien letztmals 1966 in einer vierten, unveränderten Ausgabe. Zudem mangelte es an derpädagogisch-praktischen Umsetzung der Grundsätze in eine lernbare militärische Führungslehre. Das hat dazu beigetragen, dass man auch von Wohlmeinenden lange die verzweifelte Frage hören konnte, was denn Innere Führung eigentlich sei.
Ohne Zweifel hat auch die damalige Personalstruktur der Bundeswehr eine Rolle gespielt. Die Hälfte der Zeit- und Berufssoldaten hatte in der Wehrmacht, ein Teil sogar schon in der Reichswehr gedient. Der Anteil der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen am Kaderpersonal lag weit über dem Bundesdurchschnitt. Die personelle Zusammensetzung hat zu dem eher konservativen, mehr traditionsgebundenen Grundklima beigetragen, das für diese Zeit in der Bundeswehr nachweisbar ist. Von 1960 bis 1970 baut sich die überstarke konservativ-demokratische Parteipräferenz allmählich ab. Zwischenzeitlich sorgt eine vom Bundespresseamt in Auftrag gegebene, bis dahin aber unveröffentlichte politikwissenschaftliche Studie über "Das Wahlverhalten an Bundeswehrstandorten", in der jeder vierte Soldat als potentieller Wähler der rechtsextremen NPD ausgemacht wird, für einige Aufregung. Die Untersuchung ist indessen nicht frei von methodischen Fehlern. In der von den Autoren überarbeiteten Endfassung klingen die Aussagen zum Wahlverhalten der Soldaten weit weniger brisant.
Von 1960 bis 1970 verringert sich der Anteil der Unteroffiziere mit Reichswehr- und Wehrmachterfahrung von 45,8 auf 9,6 Prozent. Im Jahr 1974 liegt er bei nur noch 2,7 Prozent. Gleichzeitig verbreitert sich die Rekrutierungsbasis des Offizier- und Unteroffiziernachwuchses. Das wirkt politischer Einseitigkeit und gesellschaftlicher Isolierung entgegen. Im Vergleich zu früheren deutschen Armeen kommen die Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr in höherem Maß aus allen sozialen Schichten. Die Selbstrekrutierungsrate der Offiziere liegt weit unter der vergleichbarer Zivilberufe. Aus neuerer Zeit gibt es kaum empirische Befunde zur politischen Orientierung der Bundeswehrsoldaten. Die Frage ist zum Tabuthema geworden. Insgesamt gilt aber, dass die länger dienenden Zeit- und Berufssoldaten - verglichen mit der Zivilgesellschaft - in politischer Hinsicht eine nach rechts verschobene Population darstellen. Diese konservative "Rechtsverschiebung" der politischen Vorlieben ist indessen nicht verwunderlich und dürfte für die meisten Streitkräfte der Welt zutreffen.
Ab Ende der fünfziger Jahre revidieren SPD und Gewerkschaften ihre ablehnende Haltung gegenüber Bundeswehr, Wehrpflicht und NATO-Bündnis ("Godesberger Programm" 1959). Doch verläuft die Zuwendung zunächst nicht ohne Konflikte. Mit ihrer Beitrittsofferte von 1964 an die Zeit- und Berufssoldaten gerät die Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) in Konkurrenz zum Deutschen Bundeswehr-Verband e. V. (DBwV), der sich bereits am 14. Juli 1956 als Interessenvereinigung "von Soldaten für Soldaten" etabliert hatte. Im Herbst 1964 sind 70 Prozent der Zeit- und Berufssoldaten im DBwV organisiert. Das verweist die ÖTV auf den verbliebenen Rest und das harte Geschäft der Abwerbung, was naturgemäß zu Streitigkeiten führt. Es dauert bis 1971, ehe die ÖTV ihre völlige Gleichstellung mit dem DBwV erreicht.
Die sechziger Jahre enden politisch ähnlich bewegt und krisenreich, wie sie begannen. Die Invasion in die CSSR durch Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 gefährdet das europäische Kräftegleichgewicht und bedroht den gerade beginnenden Entspannungsprozess ("Signal von Reykjavik", Juni 1968). Innenpolitisch entwickelt sich die 1967 einsetzende "Studentenrevolte" zu einer "Außerparlamentarischen Opposition" (APO), die vor allem gegen die Notstandsgesetzgebung der im Dezember 1966 gebildeten "Großen Koalition" von CDU/CSU und SPD Front macht. Im Jahr 1968 werden doppelt so viele Anträge auf Kriegsdienstverweigerung gestellt wie im Vorjahr (1967 = 5 963; 1968 = 11 952). Die Zahl der kriegsdienstverweigernden Soldaten erreicht 1968 das Vierfache von 1967. Wehrpässe werden öffentlich verbrannt. In den Streitkräften wachsen die Disziplinschwierigkeiten. Das verschärft wiederum die bundeswehrinterne Auseinandersetzung um die Innere Führung.
Im Frühjahr 1969 fordert der stellvertretende Inspekteur des Heeres Hellmut Grashey, die "Maske" der Inneren Führung endlich abzulegen. Brigadegeneral Heinz Karst, Inspizient für das Erziehungs- und Bildungswesen im Heer, äußert sich kurz darauf ähnlich kritisch über die "Baudissin'sche Konzeption", die "auf die Klippen" geraten sei, weil sie eine "unsoldatische Armee" konstruieren sollte. Das löst in einer unruhigen und politisch ohnehin polarisierten Öffentlichkeit erneut heftige Diskussionen aus, die durch eine Äußerung des damaligen Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger weiter verschärft werden. In einer Rede am 18. Juni 1969 vor Delegierten des DBwV fordert er die Soldaten auf, dazu beizutragen, "dass die Bundeswehr eine große Schule der Nation für unsere jungen Leute wird". Amtsnachfolger Willy Brandt kontert in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969: "Die Schule der Nation ist die Schule."
Zeit für Reformen
Mit der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 kündigt Bundeskanzler Willy Brandt das umfangreichste Reformprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte an. Dazu zählt auch eine kritische Bestandsaufnahme der Bundeswehr. Das Ergebnis wird am 20. Mai 1970 im "Weißbuch 1970 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr" veröffentlicht. Die Diskussion über den inneren Zustand der Streitkräfte hält im ersten Amtsjahr des neuen Verteidigungsministers Helmut Schmidt weiter an. Im Dezember 1969 werden die vom Inspekteur des Heeres Albert Schnez und anderen hohen Offizieren verfassten "Gedanken zur Verbesserung der inneren Ordnung des Heeres" bekannt. Die "Schnez-Studie", noch von Verteidigungsminister Gerhard Schröder in Auftrag gegeben, beklagt den "fehlenden Verteidigungswillen im Volk" und fordert "eine Reform an Haupt und Gliedern, an Bundeswehr und Gesellschaft", um die gesunkene Kampfkraft des Heeres entscheidend zu heben. Die Studie stößt auf erregten Widerspruch.
Im Januar 1970 kursieren unter dem Titel "Der Leutnant 1970" neun Thesen zu einem modernen Berufsverständnis des Offiziers. Sie waren von einer Leutnantsgruppe an der Hamburger Heeresoffizierschule unter Anleitung ihrer Dozenten verfasst worden. Verteidigungsminister Schmidt fällt über die idealistischen Bekenntnisse der jungen Offiziere ein gemischtes Urteil: "Teils diskutabel, in einigen Punkten falsch, in anderen Punkten provokant." Die Hamburger Leutnantsthesen sind der Auftakt zu einer Serie öffentlicher Wortmeldungen von Bundeswehrsoldaten. Verschiedentlich werden Gegenthesen formuliert. In sämtlichen evangelischen und katholischen Akademien wird ausführlich über das "Selbstverständnis der Bundeswehr" diskutiert. Bundeskanzler Brandt richtet angesichts der sinkenden Bereitschaft zum Wehrdienst am 19. November 1970 ein Schreiben an die Ministerpräsidenten der Länder, in dem er darauf hinweist, dass in den Schulen "beim jungen Menschen Verständnis geweckt werden (muss) für die Notwendigkeit einer ausreichenden Verteidigung als Voraussetzung jeder Entspannungspolitik". Bedeutsamer als die von einer unruhigen Jugend ausgehenden Probleme sind indessen die chronischen Strukturschwächen der Bundeswehr, die jetzt bedrohliche Konturen annehmen.
Die Reformen beginnen 1970 noch während der Erarbeitung der "Kritischen Bestandsaufnahme". Mit Ministererlass vom 21. März 1970 werden Aufgabenverteilung, Zuständigkeit und Zusammenarbeit in der Führungsspitze des Ministeriums neu geregelt. Durch Kabinettsbeschluss wird ein Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des zivilen Ersatzdienstes beim Bundesminister für Arbeit ernannt und die Zahl der Ersatzdienstplätze erhöht. Aufgrund des ersten Berichts der Wehrstrukturkommission vom 3. Februar 1971 wird die Grundwehrdienstdauer auf 15 Monate herabgesetzt. Dadurch können jährlich etwa 45 000 bis 50 000 Wehrpflichtige mehr zum Dienst herangezogen werden. Ihren zweiten Bericht "Die Wehrstruktur in der Bundesrepublik Deutschland - Analyse und Optionen" übergibt die Kommission am 28. November 1972. Über eine neue Wehrstruktur, die vor allem das Heer betrifft, kann aber erst 1978 befunden werden. Die Bildungskommission unter Professor Thomas Ellwein empfiehlt in ihrem Gutachten vom 18. Mai 1971 im Rahmen einer umfassenden Reform von Ausbildung und Bildung ein wissenschaftliches Studium für Berufs- und länger dienende Zeitoffiziere. Ausschlaggebend dafür war die katastrophale Nachwuchslage bei den Offizierbewerbern. Kaum weniger bedeutsam war das Motiv, die gesellschaftliche Integration der Bundeswehr durch ein stärker zivil orientiertes Bildungs- und Ausbildungssystem zu fördern. In Hamburg und München entstehen bundeswehreigene Hochschulen, die am 1. September 1973 mit dem Lehr- und Studienbetrieb beginnen. Seit Frühjahr 1979 sind sie Universitäten.
Weitere Reformmaßnahmen sind der "Anrede-Erlass" vom 4. August 1970, der festlegt, dass sich alle Soldaten untereinander mit "Herr und Dienstgrad" anzureden haben, sowie der "Haarnetz-Erlass" vom 5. Februar 1971, der modische Haar- und Barttrachten bei Verwendung eines dienstlich gelieferten Haarnetzes zulässt. Letzterer wird wegen der negativen Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Bundeswehr ("German Hair Force") im Mai 1972 wieder kassiert. Helmut Schmidt bringt der Vorgang einen Aachener Karnevalsorden ein.
Im Juli 1972 übernimmt Georg Leber das Amt des Verteidigungsministers. Während seiner Amtszeit erlebt die Bundeswehr erneut eine Phase der Konsolidierung. Die eingeleiteten Reformen beginnen sich positiv auszuwirken. Überschattet wird die positive Entwicklung von einem schlimmen Unglück. Eine Transall C-160 des Lufttransportgeschwaders 63 verunglückt am 9. Februar 1975 beim Landeanflug auf den Flughafen Souda im verschneiten Lefka-Ori-Gebirge von Kreta. Alle 42 Flugzeuginsassen kommen ums Leben. Es ist die bislang größte Katastrophe in der Geschichte der Bundeswehr.
Im November 1975 wird die Bundeswehr 20 Jahre alt. Verglichen mit dem Zustand innerer und äußerer Unruhe wenige Jahre zuvor, ist sie jetzt kaum wieder zu erkennen. Die Streitkräfte zählen rund 490 000 Soldaten (Heer: 340 000, Luftwaffe: 108 000, Marine: 38 000); Bewaffnung und Ausrüstung sind modern; es gibt mehr länger dienende Soldaten als je zuvor; innere Ordnung und militärische Disziplin haben sich verbessert. Die Antragszahlen der Kriegsdienstverweigerer unterschreiten 1975 erstmals seit zehn Jahren das Vorjahresaufkommen. Die zivil-militärischen Beziehungen sind weithin störungsfrei und mit den Verhältnissen der fünfziger und sechziger Jahre nicht mehr vergleichbar. Die Mehrheit der Bürger betrachtet die Bundeswehr als ein zuverlässiges Instrument der Demokratie, weithin vergleichbar mit einem Industriebetrieb.
NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung
In der Rückschau erlebt die Bundeswehr im Zeitraum 1970 - 1975 ihre besten Jahre. Danach folgt eine Reihe meist "hausgemachter" Kleinkrisen, darunter die "Rudel-Affäre" vom Oktober 1976 und der Spionagefall Lutze/Wiegel von Ende 1977/Anfang 1978, der zum Rücktritt von Verteidigungsminister Georg Leber führt. Eine bislang nicht gekannte Gefahr ist die Bedrohung durch den Terrorismus der "Roten Armee Fraktion" (RAF) und ihrer Nachfolger. Die RAF propagiert den bewaffneten Kampf gegen das herrschende "kapitalistische System" und den "US-Imperialismus". Einrichtungen der US-Streitkräfte und der NATO gelten als "Kriegsgebiet". Wirtschaftlich markiert das Jahr 1975 den Beginn einer lang anhaltenden Krise. Das "Goldene Zeitalter" (Eric Hobsbawm) des Kapitalismus geht zu Ende. Die Aufbruchstimmung zu Beginn des Jahrzehnts hatte schon mit der Ölkrise 1973 einen Dämpfer erhalten. Die Nutzung der Atomkraft gerät zunehmend in die Diskussion ("Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv!"). Neben der Frauen- und der Friedensbewegung bilden die Proteste gegen die Atomkraft die dritte soziale Bewegung. Die Krise aus Konjunkturschwäche, Dauerarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung hat Auswirkungen auf den Verteidigungshaushalt. Auftrag und Mittel stimmen nicht mehr überein, die Schere öffnet sich.
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre beginnt die Sowjetunion damit, Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 gegen Westeuropa in Stellung zu bringen. Im Dezember 1979 fasst die NATO den so genannten Doppelbeschluss: Sie erklärt, ihrerseits neue atomare Mittelstreckenraketen Pershing II sowie Marschflugkörper ("cruise missiles") in Europa zu stationieren, sofern es nicht gelingt, inAbrüstungsverhandlungen die Bedrohung durch die SS-20 zu beseitigen. Gleichzeitig verändert sich in dieser Zeit die Bedrohungswahrnehmung in der Bevölkerung. Die "klassische" Bedrohungsvorstellung einer groß angelegten militärischen Aggression aus dem Osten wird verdrängt von der wachsenden Angst vor einem Atomkrieg. Damit einher geht eine zunehmend skeptische Haltung gegenüber dem Sinn und den Möglichkeiten von Landesverteidigung. Der "Paradigmenwechsel" in der Bedrohungswahrnehmung bildet den Nährboden für das Aufkommen einer Friedensbewegung, die sich gegen die Nachrüstung wendet und in Kirchen, Medien, Gewerkschaften und Parteien regen Zulauf findet.
Im Herbst 1982 zerbricht die sozial-liberale Koalition. Neuer Verteidigungsminister wird Manfred Wörner, der Hans Apel ablöst. Dieser hatte als seine quasi letzte Amtshandlung am Tag der politischen Wende einen neuen Traditionserlass in Kraft gesetzt und darin eine klare Trennlinie zwischen Bundeswehr und Wehrmacht gezogen. Manfred Wörner, war davon wenig angetan. Die "Kießling/Wörner-Affäre" zu Jahresbeginn 1984 hatte den neuen Minister aber bereits so beschädigt, dass er das Risiko einer weiteren öffentlichen Auseinandersetzung scheute und deshalb Apels Erlass nicht anrührte. Seit 1993 sind die "Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr" vom September 1982 ein Bestandteil der Zentralen Dienstvorschrift "Innere Führung" (ZDv 10/1). Manfred Wörner übersteht den von ihm maßgeblich mitgestalteten Skandal um den angeblich homosexuellen Vier-Sterne-General Günter Kießling mit Müh und Not. Wenige Jahre später wird er zum NATO-Generalsekretär berufen (1988 - 1994). Er ist der erste Deutsche in diesem Amt. Nachfolger auf der Hardthöhe wird der glücklose Rupert Scholz. In seine Amtszeit fallen die schlimmen Flugzeugunglücke von Ramstein und Remscheid.
Die Genfer INF-Verhandlungen (Intermediate Range Nuclear Forces = nukleare Mittelstreckensysteme) scheitern nach zweijähriger Dauer. Die Bundesregierung ist nungehalten, den zweiten Teil des NATO-Doppelbeschlusses fristgerecht umzusetzen und neue amerikanische Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden zu stationieren. Als Zeitpunkt dafür ist November 1983 vereinbart. Dagegen macht die Friedensbewegung mobil. Auf der bis dahin größten Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik versammeln sich am 22. Oktober 1983 im Bonner Hofgarten rund 350 000 Menschen, um gegen die Nachrüstung zu protestieren. Der Deutsche Bundestag stimmt nach einer Marathon-Debatte und tumultartigen Szenen im Plenum am 22. November 1983 für den Stationierungsbeschluss. In der deutschen Öffentlichkeit wird die Debatte auch nach der Parlamentsentscheidung sehr emotional weitergeführt - bis hin zu der vom Schriftsteller Günter Grass aufgestellten Behauptung, mit dem Stationierungsbeschluss sei der Dienst in der Bundeswehr "verfassungswidrig" geworden. Mit der "Heilbronner Erklärung" vom 17. Dezember 1983 ruft er zur "Wehrkraftzersetzung" auf.
Tauwetter und Neuorientierung
In Deutschland beginnt die Stationierung von 108 amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II und 96 Marschflugkörpern im Februar 1984 und dauert bis Dezember 1985. 1985 kündigt der neue sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow mit "Perestroika" (Umbau) und "Glasnost" (Öffentlichkeit) politische Reformen an. Mit dem INF-Vertrag vom 8. Dezember 1987 beginnt ein umfassender Abrüstungsprozess. Die nuklearen Mittelstreckenwaffen werden nicht nur abgebaut, sondern auch verschrottet. Darunter fallen alle Pershing II und Cruise Missiles, die zuvor in Mutlangen, Heilbronn, Neu-Ulm und Hasselbach stationiert worden waren.
Ungarische Grenzsoldaten zerschneiden im September 1989 den Stacheldraht an der Grenze zu Österreich. Damit ist der Eiserne Vorhang durchlöchert. In der DDR kommt eine massenhafte Ausreisewelle in Gang. Gleichzeitig formieren sich oppositionelle Bürgerrechtsgruppen. Der friedliche Massenprotest der DDR-Bevölkerung bewirkt, was viele nicht mehr für möglich hielten: den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989.
Nach Abschluss der Zwei-plus-vier-Verhandlungen in Moskau und der Unterzeichnung des Deutschland-Vertrages am 12. September 1990 mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges folgt am 30. September 1990 die Unterzeichnung des Einigungsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Am 3. Oktober 1990 wird die Einheit Deutschlands durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik hergestellt. Gerhard Stoltenberg, Verteidigungsminister von April 1989 bis zu seinem Sturz drei Jahre später über eine illegale Panzerlieferung an die Türkei im März 1992, übernimmt die Befehls- und Kommandogewalt über die gesamtdeutschen Streitkräfte.
NATO und Warschauer Pakt unterzeichnen am 19. November 1990 die "Charta von Paris". Beide Bündnisse erklären, dass sie sich nicht länger als Gegner betrachten. Der Kalte Krieg ist zu Ende. Damit verliert die Bundeswehr ihren Daseinszweck. Stattdessen stellen sich schon bald die neuen Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Die Bundeswehr muss von einer Abschreckungsarmee zu einer Einsatzarmee mit breitem Aufgaben- und Fähigkeitsspektrum umgebaut werden. Gleichzeitig gilt es, die rechtlichen Grundlagen hierfür zu schaffen und die Unterstützung der Bürger zu gewinnen.
Für ein ungestörtes Nachdenken über die künftige Rolle der Streitkräfte in einer neuen Außenpolitik bleibt kaum Zeit. In der Nacht zum 17. Januar 1991 beginnt die Operation "Desert Storm" zur Befreiung des seit August 1990 von irakischem Militär besetzten Kuwait. Die Bundesregierung beteiligt sich lediglich an den Kosten des Unternehmens. Das wird als "Scheckbuchdiplomatie" bezeichnet. Nachdem Israel von irakischen Raketen - entwickelt mit Hilfe der deutschen Industrie - angegriffen wird, nehmen im In- und Ausland die Stimmen zu, die einen Einsatz der Bundeswehr "out-of-area" fordern.
Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien bringt das Thema erneut auf die Tagesordnung. Die Vereinten Nationen verhängen im April 1993 ein Flugverbot über Bosnien-Herzegowina. An Bord der Überwachungs-Flugzeuge befinden sich auch deutsche Soldaten. Dagegen klagen SPD und FDP vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher Richter entscheiden am 12. Juli 1994, dass der Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets erlaubt und dann grundgesetzkonform ist, wenn die Bundesregierung vor dem Einsatz die Zustimmung des Parlaments eingeholt hat. Auf dieser Grundlage stimmt der Bundestag mit breiter Mehrheit einer deutschen Beteiligung an NATO-Luftangriffen zu, falls Belgrad sein aggressives Vorgehen im Kosovo nicht einstellt. Die Angriffe beginnen am 24. März 1999. Die Bundeswehr beteiligt sich mit 14 ECR Tornados. Mit der multinationalen Friedenstruppe KFOR ("Kosovo Force") rücken im Juni 1999 auch deutsche Truppenteile in das Kosovo ein.
Es gibt kaum verlässliche Quellen darüber, wie die Soldaten selbst den politischen Gezeitenwechsel erlebt und ihr neues Rollenverständnis verarbeitet haben. Auf der 33. Kommandeurtagung im Mai 1992 in Leipzig hatte Generalinspekteur Klaus Naumann gefordert, die Soldaten auf die Belastungen eines Einsatzes außerhalb Deutschlands besser vorzubereiten und dabei nicht zu verschweigen, "dass der Soldat in letzter Konsequenz ein Kämpfer ist" ("Signal von Leipzig"). Dies sei die Eigenschaft, die den Soldaten von allen anderen Berufen unterscheide. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr konstatierte 1993 bei einem Teil der Offiziere eine deutliche Identitäts- und Berufskrise - hervorgerufen durch das neue Einsatzspektrum der Streitkräfte. Im Zuge der drastischen Verringerung des Personalumfangs von 1991 bis 1994 dürften viele Unteroffiziere und Offiziere, die mit dem Umbau der Bundeswehr nicht einverstanden waren, die Streitkräfte verlassen haben. Wer im Dienst verbleibt, gewöhnt sich offenbar schnell an das veränderte Berufsbild, zumal damit auch eine neue Legitimation verbunden ist.
Die Bevölkerung nimmt die erweiterten Aufgaben der Bundeswehr in ähnlicher Weise hin wie seinerzeit die Wiederbewaffnung. Von der euphorischen Vorstellung im Spätherbst 1990, "die Geschichte arbeite unerbittlich auf eine Art universalen Frieden hin" (Henry A. Kissinger), war schon im Frühjahr 1991 angesichts der Ereignisse am Golf wenig geblieben. Ein öffentlicher Diskurs über die Außen- und Sicherheitspolitik findet allerdings nicht statt. Der Gewöhnung an Auslandseinsätze folgen bald Desinteresse und Gleichgültigkeit. Der Staatsbürger in Zivil und der Staatsbürger in Uniform sitzen nicht mehr im selben Boot wie im Kalten Krieg, als Deutschland mögliches Gefechtsfeld war. Die Risiken künftiger Gefahrenabwehr tragen die Soldaten seither allein - "sozusagen als Müllmänner der Sicherheitspolitik" (Constanze Stelzenmüller) stellvertretend für alle.
Parallel zum sprunghaften Anstieg rechtsextremistischer Straftaten im wiedervereinten Deutschland ab 1991 nehmen auch in der Bundeswehr die "Besonderen Vorkommnisse" mit rechtsextremem Hintergrund zu. Ein parlamentarischer Untersuchungsbericht vom 18. Juni 1998 kann die Existenz "brauner Subkulturen" in den Streitkräften allerdings nicht bestätigen. Rechtsextremismus sei kein Problem in der Bundeswehr. Vereinzelt hätten sich jedoch "braune Nischen" bilden können. Einfallstor dafür ist die allgemeine Wehrpflicht. Für rechtsextremistische Vorfälle in der Bundeswehr sind zu 85 Prozent die Grundwehrdienstleistenden verantwortlich.
Der Juni 1997 sieht die Bundeswehr im Großeinsatz gegen die Wasserfluten der Oder. Täglich sind es bis zu 15 000 Soldaten und Soldatinnen, denen es zusammen mit den zivilen Hilfsorganisationen und der Bevölkerung schließlich doch gelingt, die drohende Überflutung des Oderbruchs zu verhindern. Niemand kann ahnen, dass der Einsatz an der Oder 1997 nur die Generalprobe ist für die Jahrhundertflut des Jahres 2002.
Volker Rühe, Verteidigungsminister von April 1992 bis Oktober 1998, gibt am 15. September 1992 eine neue Bundeswehrplanung bekannt. Der Friedensumfang wird auf 340 000 Soldatinnen und Soldaten weiter verringert. Die beschlossene Umgliederung in Krisenreaktionskräfte und in nur teilweise präsente Hauptverteidigungskräfte erweist sich schon als unzureichend, ehe sie vollständig umgesetzt ist. Erschwert wird der Umbau durch die Entwicklung des Verteidigungshaushalts. Volker Rühe hatte bei seinem Amtsantritt erklärt, "das Sparen zu gestalten, statt es zu erleiden". Die wachsende Unterfinanzierung der Bundeswehr kann er nicht verhindern. Seither zehren die Streitkräfte von der Substanz.
Rudolf Scharping, seit dem 27.Oktober 1998 Verteidigungsminister wider Willen im neuen Kabinett der rot-grünen Koalition, verfügt den am 23. Mai 2000 vorgelegten Bericht der Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" unter dem Vorsitz des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker noch am Tag der Präsentation zu den Akten. Statt dessen billigt die Bundesregierung das unter der Federführung des späteren Generalinspekteurs Harald Kujat erarbeitete "Eckpfeiler-Papier" im Sommer 2000 als ihre Planungsgrundlage für die Bundeswehr-Reform - eingeschlossen darin als ein überfälliges Stück gesellschaftlicher Normalität die Zulassung von Frauen in allen Laufbahnen und Verwendungen ohne geschlechtsspezifische Beschränkung, wie es der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner Entscheidung vom 11. Januar 2000 gefordert hatte.
In den nächsten beiden Jahren dümpelt die "Jahrhundertreform der Bundeswehr", wie Kanzler Gerhard Schröder das Vorhaben in der Kabinettssitzung vom 14. Juni 2000 nennt, vor sich hin. Schlagzeilen machen in dieser Zeit die Peinlichkeiten des Verteidigungsministers Scharping. Erst unter Peter Struck, am 19. Juli 2002 als neuer Verteidigungsminister ins Amt gekommen, geht es mit einer Erneuerung der Bundeswehr "von Grund auf" wieder voran. In den Medien finden die Überlegungen für eine zukunftsfähige Bundeswehr vom Dezember 2003 ein positives Echo. Der Plan "könnte die Rettung einer Bundeswehr sein, die anderthalb Jahrzehnte Reformmurks an den Rand des Ruins gebracht haben" - so der Kommentar in der Wochenzeitung Die Zeit vom 8. Januar 2004. Das ist am Vorabend des 50. Geburtstags der Bundeswehr kein berauschender Befund, aber doch wenigstens eine Perspektive.