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Neue Gefahren verlangen neue Politik Multilateralismus statt Dominanz | Terrorismus | bpb.de

Terrorismus Editorial Zwischen Staatsvernunft und Gefühlskultur Terrorismus in neuen Dimensionen Die weltpolitische Rolle der USA nach dem 11. September 2001 Internationaler Terror, forcierter Regimewechsel und die UNO: Der Fall Afghanistan Neue Gefahren verlangen neue Politik Multilateralismus statt Dominanz Islamismus in der Bundesrepublik Deutschland

Neue Gefahren verlangen neue Politik Multilateralismus statt Dominanz

Ernst-Otto Czempiel

/ 17 Minuten zu lesen

Der Terror des 11. September hat die Welt nicht verändert, sondern gezeigt, dass sie sich schon lange verändert hatte. Spätestens jetzt müsste die Weltpolitik darauf reagieren.

I. Das Phänomen des Terrorismus

Der Massenmord vom 11. September, dem viele tausende unschuldige Menschen zum Opfer gefallen sind, hat die Welt nicht verändert. Er hat vielmehr gezeigt, dass sich die Welt längst geändert, die Weltpolitik darauf aber nicht reagiert hatte. Dieser Nachholbedarf wurde ihr jetzt mit schrecklichem Ernst präsentiert. Denn der Angriff auf New York und Washington wurde nicht von einem Staat ausgeführt, und er kam auch nicht von außen. Ein gesellschaftlicher Akteur hat angegriffen, und zwar von innen. Sind die zwischenstaatlichen Kriege so gut wie ausgestorben, so ist nunmehr die Gewalt in die Staaten eingedrungen und manifestiert sich dort als Bürgerkrieg. Sie hat sich aber auch globalisiert und wird von gesellschaftlichen Akteuren nicht nur im eigenen Land, sondern auch im (früher so genannten) Ausland angewendet. Es ist sicherlich verfrüht, den Gewaltakt des 11. September so zu deuten, dass sich nun auch der Bürgerkrieg zu globalisieren beginnt. Unverkennbar aber ist, dass gesellschaftliche Akteure zu raumübergreifenden Großaktionen imstande sind. Die "Neuen Gefahren" sind nicht mehr nur Bestandteil der einschlägigen Literatur zu zukünftigen Problemen der Sicherheitspolitik - sie sind die realen Gefahren der Gegenwart.

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Damit ist die vertraute, staatliche Ordnung der Welt spürbar durchlöchert worden. Sie existiert in den Grundzügen nach wie vor, die Regierungen sind immer noch die wichtigsten Akteure, denen die größten Gewaltpotenziale zu Gebote stehen. Aber hatten sie in der Wirtschaftspolitik schon längst mächtige Konkurrenz durch die Transnationalen Korporationen bekommen, so müssen sie sich jetzt auch machtpolitisch nicht mehr nur mit staatlichen, sondern auch mit gesellschaftlichen Akteuren auseinandersetzen. Ob Usama Bin Ladin den Mordanschlag organisiert hat oder nicht, er hat ihn jedenfalls unmissverständlich als Herausforderung der Supermacht USA durch ihn und seine Gruppe Al Quaida präsentiert.

Deren Anspruch ist hybrid, sollte aber nicht unterschätzt werden. Bei der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes in Rom wie bei der Durchsetzung der Konvention gegen Anti-Personen-Minen haben gesellschaftliche Akteure demonstriert, über wie viel Macht sie verfügen. Mit den Demonstrationen in Seattle, Genua und Durban haben sie ihre Muskeln deutlich spielen lassen. Diese Menetekel hat der Westen geflissentlich übersehen. Wenn nicht alles täuscht, nimmt er auch das Fanal der zusammenstürzenden Zwillingstürme des Welthandelszentrums nicht richtig in den Blick. Jedenfalls ist nicht zu erkennen, dass die USA (und die NATO) anders reagieren als gewohnt. Statt den gesellschaftlichen Akteur Al-Qaida dort zu bekämpfen, wo er sich aufhält - nämlich in den USA, in Europa und in vielen anderen Teilen der Welt -, haben sie begonnen, Afghanistan zu bombardieren. Unter den Motiven dafür ragt wohl auch der Versuch hervor, das Ungewöhnliche zu normalisieren, die Untat eines gesellschaftlichen Akteurs einem Staat zuzuordnen, so dass sich als Reaktion darauf die zwischenstaatliche Gewaltanwendung wieder anbietet. Sie erkennt damit aber auch - das hat Washington wohl übersehen - Al-Qaida als gleichrangigen Gegner an.

Hilfestellung bei diesem Versuch, das Unnormale als gewöhnlich erscheinen zu lassen, leistet der Begriff des Terrorismus. Er lässt keine weiteren Fragen zu, weil er die Antwort schon enthält: Terroristen sind blinde Fanatiker. Das trifft aber nur für einen der drei Typen von gesellschaftlichen Akteuren zu, die in der Welt von heute Gewalt anwenden. Zu den beiden anderen zählen die Widerstandskämpfer, die nationalen Befreiungskämpfer; ferner diejenigen, die sich gegen als unerträglich empfundene Unterdrückung durch eine Zentralmacht mit Gewalt zur Wehr setzen. Es ist bei den Regierungen beliebt, auch sie als Terroristen zu disqualifizieren, es ist aber falsch. Die dritte Gruppe verfolgt keine konkret benannten politischen Ziele, kann sich auch auf keinerlei Legitimität berufen, zielt aber auf die Zustimmung eines Publikums. Zu dieser Gruppe zählen Netzwerke wie das von Al-Qaida. Ihr Erfolg hängt von dem Applaus ab, den ihre Gewalttaten erhalten (oder eben nicht erhalten).

Sie könnten als politische Terroristen bezeichnet werden. Sie können, wie die Taliban in Afghanistan, Regierungen stürzen; sie können, was Usama Bin Ladin vorhat, muslimische Regierungen destabilisieren, und sie können Gewalt in der internationalen Politik anwenden - mit Sprengstoffattentaten zunächst, mit Hightech-Attacken in New York jetzt und mit Massenvernichtungswaffen möglicherweise in der Zukunft. Ihrer Herr zu werden ist die ordnungspolitische Aufgabe Nummer eins.

II. Kosmetische Reaktionen

Eine große, richtige Konsequenz aus der Katastrophe des 11. September haben die Regierungen schon gezogen. Sie haben ihre machtpolitischen Rivalitäten, die sich seit 1994 wieder eingestellt hatten, beiseite gelegt, um gemeinsam der Herausforderung zu begegnen. Das amerikanisch-russische Verhältnis hat sich schlagartig verbessert. Moskau sieht sich mit seiner Unterdrückung der Menschenrechte in Tschetschenien voll rehabilitiert und vom Westen als Vorkämpfer des Antiterrorismus akzeptiert. Den USA ist die Kooperation Russlands in der Bekämpfung dieser gesellschaftlichen Akteure nicht nur in Afghanistan, sondern auf der ganzen Welt wichtig. Hier hat die Regierung Bush sogar ihr sicherheitspolitisches Steckenpferd, das Raketenabwehrsystem (NMD), bis auf diejenigen Teile geopfert, die in einen im beiderseitigen Einvernehmen stark gedehnten ABM-Vertrag hineinpassen. Die zweite Runde der NATO-Osterweiterung wird wohl nicht 2002 beschlossen werden, jedenfalls dann nicht, wenn es den Russen nicht gefällt. Aber auch sie haben bedeutende Konzessionen gemacht, ihren Horchposten auf Kuba geschlossen und den Mietvertrag über den Stützpunkt Cam Lanh Bay in Vietnam nicht verlängert.

Ebenso haben sich die Beziehungen zwischen der Supermacht USA und China weiter verbessert, selbst die zum Iran. Zwar lehnt Teheran den amerikanischen Eingriff in Afghanistan ab, stimmt aber mit Washington darin überein, dass die terroristischen Machenschaften bei weitem gefährlicher sind als der ohnehin im Abflauen begriffene interessenpolitische Gegensatz zwischen den beiden Ländern. Die Sanktionen gegen Pakistan wegen seines Griffs nach Nuklearwaffen wurden jetzt nicht nur aufgehoben, sondern durch Schuldenerlass und reichhaltige Wirtschaftshilfe ersetzt. Pakistans Regierungschef Musharraf reagierte ebenfalls mit einer Volte und brach die Beziehungen zu den Taliban ab, die eigentlich als Ableger pakistanischer Außenpolitik entstanden waren. Als Folge dieser erneuten amerikanischen Kontakte zu Pakistan kühlen sich allerdings die indisch-amerikanischen Beziehungen wieder etwas ab.

Dass sich die zwischenstaatlichen Interessengegensätze und Machtrivalitäten mildern, ist eine erfreuliche Begleiterscheinung der sehr unerfreulichen Aktivitäten des politischen Terrorismus im internationalen System. Fast ist man versucht, in Usama Bin Ladin einen Sanitäter zu erblicken, der, wenn auch mit einer Gewaltkur, die Großmächte der Welt wieder zur Räson gebracht hat. Aber das pragmatische Interesse von Regierungen an der Bekämpfung eines sie alle bedrohenden Gegners ist keine Garantie für die Dauer ihrer Zusammenarbeit. Diese steht auf dem tönernen Podest kurzlebiger Interessenübereinstimmung, erinnert sehr an die Kabinettspolitik vergangener Jahrhunderte. Hat sie ihren Zweck erfüllt, könnte diese Gemeinsamkeit sehr schnell wieder den Konfliktformationen Platz machen, die sich bis zum 10. September 2001 schon so deutlich abgezeichnet hatten.

Alles wird davon abhängen, wie sich die Großmächte verhalten. Wenn sie die erste schreckliche Manifestation der Gewaltpotenziale gesellschaftlicher Akteure nicht nur als Not begreifen, die eine vorübergehende Zusammenarbeit erzwingt, sondern als willkommene Gelegenheit, die seit Mitte der neunziger Jahre betretenen Irrwege zu verlassen, gibt es erneut die Chance eines weltpolitischen Neuanfangs.

III. Beschädigte Weltordnung

Zweimal schon hatte es diese Chance gegeben - 1945 bei der Gründung der Vereinten Nationen und nach 45 Jahren des Ost-West-Konflikts wiederum bei dessen Ende. Auf dem Pariser KSZE-Treffen von 1990 hatten die Staats- und Regierungschefs der ehemaligen Konfliktgegner ein "neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit" versprochen. 1991 schob der damalige amerikanische Präsident George Bush noch ein weiteres Element stabiler Weltordnung nach: die Vereinten Nationen. Als der Irak in Kuwait einfiel, wehrte der UN-Sicherheitsrat diesen Bruch des Gewaltverbotes ab, indem er eine Länder-Koalition beauftragte, notfalls mit Gewalt den Irak aus Kuwait zu vertreiben. Präsident George Bush schrieb diesen Erfolg der internationalen Organisation fort, indem er die Vereinten Nationen zum Mittelpunkt jener weltpolitischen Neuordnung machte, die in der Charta von Paris schon angedacht worden war. Wie 1945 waren - wenn auch in zeitgemäß adaptierter Form - 1990 den Politikern die wichtigsten Anforderungen bekannt, deren Erfüllung den Gewaltverzicht innen wie außen stabilisieren würde. Es waren, vereinfacht ausgedrückt, Demokratie und wirtschaftlicher Wohlstand im Innern aller Staaten sowie deren gleichberechtigte Zusammenarbeit in einer universalen und/oder regionalen Organisation in der Außenpolitik.

Mit diesem Programm starteten die in Paris versammelten Regierungschefs die Nachkonfliktzeit. Die bis dahin nur in lockeren Abständen tagende Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wurde in eine dauerhafte Organisation umgewandelt (OSZE); der Westen machte den politischen wie ökonomischen Beitrag zur Demokratisierung der Staaten des Warschauer Paktes zu seiner Hauptaufgabe. Zwar bezog sich dieses richtige und neuartige Konzept nur auf den euroatlantischen Raum, ließ also die so genannte Dritte Welt außen vor. Es war aber absehbar, dass auch sie in diesen neuen Kanon der Außenpolitik mit einbezogen werden würde, wenn er sich denn einmal bei den westlichen Industriestaaten durchgesetzt haben würde.

Dazu ist es nicht gekommen. Aus vielerlei Gründen machte der konzeptionelle Neubeginn in der Mitte der neunziger Jahre einer Rückkehr zu älteren Strategien Platz. In deren Zentrum stand nicht die allgemeine Sicherheit, sondern wieder die Verteidigungsfähigkeit der eigenen Gruppe, nicht die allmähliche Anhebung des Wohlstands aller, sondern weiterhin die möglichst rasche Vermehrung des individuellen, des nationalen Wohlstands. Dieser Prozess trat sowohl zwischenstaatlich wie innerstaatlich ein. Ganz besonders in Russland verkam der wirtschaftliche Erholungsprozess im Zeichen der Marktliberalisierung zu einer Privatisierung des entstehenden Reichtums durch Bürokraten und Magnaten. Bei den Industriestaaten setzte bald nach 1991 der Prozess der Globalisierung ein, was sich sogar in der Alltagssprache niederschlug. So war 1993 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nur 34-mal von Globalisierung gesprochen worden, im Jahr 2000 schon 1082-mal. Geradezu exponentiell breitete sich der mit diesem Begriff bezeichnete Vorgang - die globale Expansion wirtschaftlicher Aktivitäten der Industriestaaten - in die Welt aus. Welche Folgen sie dort erzeugte, wurde in der hiesigen Diskussion nicht bedacht.

Im dritten Sachbereich, dem der Partizipation an der Herrschaft, schwächte sich der Elan von 1990 ebenfalls ab. Der Westen verlor das Interesse an der Demokratisierung aller ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten. Lediglich die Europäische Union rettete diesen Aspekt in ihrer Assoziationspolitik. Zwischenstaatlich zeigte sich das gleiche Bild: Die Konferenz bzw. die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die allen Staaten der Region gleichberechtigte Mitsprache bei der Entwicklung einer europäischen Staatenordnung zugesichert hatte, wurde immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Auf den frei werdenden Platz setzte sich die NATO. Auch sie bemühte sich um Beziehungen zu allen Nicht-Mitgliedern in der Region, gestaltete sie aber in klassisch-hegemonialer Weise bilateral, nicht multilateral. Der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher musste bei einer Bilanz der ersten OSZE-Dekade resigniert feststellen, dass von den in dieser Organisation "liegenden Möglichkeiten nur unzureichend Gebrauch gemacht" worden sei.

Der Weltorganisation Vereinte Nationen erging es nicht besser. Nicht nur die USA drängten sie immer mehr in den Hintergrund ihrer Politik, Westeuropa verhielt sich ebenso. Die vom UN-Sicherheitsrat 1992 eingesetzte Schutztruppe für alle früheren Republiken Jugoslawiens trug mit der Bezeichnung UNPROFOR den Vereinten Nationen noch gebührend Rechnung. Bei den Nachfolge-Mandaten IFOR und ESFOR war das nicht mehr der Fall. Die Umbenennung hatte mehr als nur semantische Bedeutung. Langsam, aber unverkennbar schob sich die NATO über ihre Praxis der Friedenssicherung an die Stelle der Vereinten Nationen. Unterstützt wurde sie dabei sogar durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1994, das die Verteidigungsallianz in ein System kollektiver Sicherheit umdeutete und damit den Vereinten Nationen gleichstellte. Es lag auf dieser Linie, dass 1999 die NATO darauf verzichtete, für ihre Bombenangriffe auf Serbien ein UN-Mandat einzuholen. Und 2001 erteilte sich die NATO das Mandat für ihren Einsatz in Mazedonien schon selbst.

Bei dieser Tendenz ist es nicht verwunderlich, dass die einzige verbliebene Supermacht für sich nun auch das Recht reklamiert, eigenständig militärische Gewalt einzusetzen. Hatte sie sich immer schon angemaßt, die UN-Sanktionen gegen den Irak durch vereinzelte Bombenangriffe zu verstärken, so wurden diese Eingriffe seit Dezember 1998 zur Regel. Der Krieg gegen Serbien war, wie Außenminister Fischer nicht zu Unrecht festgestellt hat, in erster Linie "Madelaine's war". Der Krieg gegen Afghanistan setzt diese Reihe fort, die, wie der amerikanische UN-Botschafter Negroponte den Sicherheitsrat offiziell wissen ließ, auch weitere Staaten einbeziehen könnte.

Damit ist die wichtigste Norm der 1945 mit der Charta der Vereinten Nationen installierten Weltordnung durchbrochen worden - das Verbot, Gewalt zu politischen Zwecken einzusetzen. Gewiss, beim Angriff auf Afghanistan konnte Washington auf die Sicherheitsratsresolution 1368 (2001) verweisen, die in dem Terrorangriff eine Bedrohung des Weltfriedens und die Berechtigung zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung erkannte - aber damit die kriegerische Gewaltanwendung weder anordnete noch autorisierte. Für den Serbienkrieg traf beides nicht zu. Es wird auch kaum gelten, sollten die Vereinigten Staaten ihre Militäreinsätze auf den Nahen und Mittleren Osten oder Somalia ausweiten.

Die Renaissance des Krieges als politisches Mittel ist unverkennbar. Im Rückblick zeigt sich, dass der Verzicht auf solche Gewalt, der von 1945 an die Ost-West-Konfrontation beherrscht hatte, vor allem der nuklearen Abschreckung zu danken gewesen ist. Jede Gewaltanwendung größeren Stils hätte den Kernwaffenkrieg zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten auslösen können. Nachdem diese Gefahr nicht mehr besteht, weil die Konfrontation nicht mehr existiert und durch eine Partnerschaft ersetzt worden ist, die sich immer mehr verstärkt, wurde der Einsatz militärischer Gewalt von seiner vielleicht wichtigsten Fessel befreit. Hinzu kommt die stark gesteigerte Leistungsfähigkeit konventioneller Präzisionswaffen. Sie hat Nuklearwaffen entbehrlich werden lassen.

IV. Quellen des Terrorismus

In der kurzen Zeit von 1995 bis zum 10. September 2001 hatte die 1945 gegründete und 1990 bekräftigte Weltordnung also erhebliche Rückschritte zu verzeichnen. Es wird daher sehr darauf ankommen, wie die Welt auf den Gewaltakt vom 11. September reagiert. Der Gewalteinsatz der USA und ihrer Alliierten in Afghanistan kann nicht die einzige Antwort bleiben. Was die 19 Attentäter je einzeln veranlasst hat, sich und Tausende von Unschuldigen in den Tod zu stürzen, wird für immer unerforscht bleiben. Klar erkennbar aber sind die Öffentlichkeiten, die diese Untat positiv bewertet haben. Es sind diejenigen, die sich von der Politik der westlichen Industriestaaten negativ getroffen fühlen. Deswegen sind weder sie noch die westlichen Industriestaaten die Ursachen des Verbrechens. Aber sie sind sein Kontext.

In der Bundestagsdiskussion am 11. Oktober kam dessen Funktion deutlich zur Sprache. Bundesaußenminister Fischer maß der Lösung des Nahost-Konflikts "entscheidende Bedeutung für das Gelingen des Kampfes gegen den Terrorismus" zu, und zwar "nicht aufgrund eines unmittelbaren Zusammenhangs, sondern weil die Gefühle von Millionen von Menschen in der Region missbraucht werden können". Dasselbe könne mit dem extremen Wohlstandsgefälle auf der Welt passieren, fügte Bundeskanzler Schröder hinzu. Fischer machte schließlich auf einen dritten Bestandteil des Kontextes aufmerksam: auf die politische Majorisierung großer Teile der Welt durch die Industriestaaten.

Diese Quellen, aus denen sich der diffuse politische Terrorismus speist, sprudeln nicht gleich stark. Die größte Bedeutung hat gewiss der seit fünfzig Jahren anhaltene Nahost-Konflikt, zumal er durch die zunehmend gewaltsam werdende Politik der Regierung Scharon im Westjordanland und im Gaza-Streifen verschärft worden ist. Die vom amerikanischen Außenminister Powell im September groß verkündete Friedensinitiative, die sogar das Jerusalem-Problem lösen sollte, ist nicht erfolgt. Die Bush-Administration bleibt bei ihrer Politik, sich mehr für die Steuerung der internationalen Konflikte zu interessieren als für deren Lösung. Auch das Irak-Problem stagniert. Die in die Hunderttausende gehenden Opfer der Sanktionspolitik gegen dieses Land werden mit den seit drei Jahren anhaltenden Bombardierungen durch angloamerikanische Flugzeuge weiter erhöht.

Als zweite Quelle muss die krasse Ungleichverteilung des Reichtums angesehen werden. Darin drückt sich keine direkte, sehr wohl aber eine strukturelle Gewalt aus. Dass fast ein Viertel der Menschheit in absoluter Armut lebt und sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, liegt zwar nicht allein an der Politik der Industriestaaten, aber sehr wohl auch daran. Kein geringerer als der Präsident der Weltbank James Wolfensohn sah in der Tragödie des 11. September ein erneutes Ausrufezeichen hinter der Forderung, auf der Welt Beschäftigung, Erziehung und Gesundheitsfürsorge für alle zu schaffen. Diese Forderung ist nicht neu, aber sie bekommt jetzt einen anderen Stellenwert. Wenn, wie die Vorsitzende der Welthungerhilfe Ingeborg Schäuble sagte, Hunger und Armut den "Nährboden für Terrorismus" abgeben, dann ist ihre Beseitigung nicht nur aus humanitären und karitativen Gesichtspunkten, sondern aus elementaren Sicherheitsinteressen geboten.

Überspitzt formuliert: Die Zollmauern des europäischen Binnenmarktes gegenüber den Produkten aus nichtindustrialisierten Ländern abzubauen ist sicherheitspolitisch wichtiger, als den Bundeswehretat zu erhöhen. In der heutigen "Weltinnenpolitik" - wie sie von den früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker und Herzog mit leichter Übertreibung genannt wird - ist eine weltweite Regionalpolitik nicht weniger angebracht als in der Europäischen Union. Auch dazu muss die Globalisierung beitragen. Ihre Negativfolgen können nicht nur für die Industriestaaten beklagt und berechnet, es müssen auch diejenigen Folgen ins Auge gefasst werden, die sie in den Ländern hinterlässt, in die sie expandiert. Die Globalisierung ist also keinesfalls die Einbahnstraße, welche die Industriestaaten zu immer größerem Reichtum führt. Sie erzeugt einen Kontext, den gesellschaftliche Akteure mit ihren gegen den Westen gerichteten Gewaltaktionen zu mobilisieren versuchen. Damit wird die sicherheitspolitische Relevanz von Globalisierung evident.

Zur Sicherheitsgefährdung in der modernen Gesellschaftswelt trägt schließlich bei, dass die multilaterale Weltordnung seit Mitte der neunziger Jahre immer weiter verkümmert ist. Die USA versuchen, sie durch eine hegemoniale Führung zu ersetzen, die schon Bestandteile imperialen Gehabes aufweist. Wer gegen den amerikanischen Stachel löckt, wird mit Sanktionen belegt. Washington lehnt den Multilateralismus mehr und mehr ab, bevorzugt die bilateralen Beziehungen, weil sich darin das Machtgefälle zwischen der Supermacht und dem Kleinstaat sehr viel besser ausnützen lässt. Von dieser Versuchung ist auch die Europäische Union keineswegs frei; ihre Machtansprüche segeln in der Kiellinie der Supermacht. Diese vor allem hat den Vereinten Nationen den Rücken zugekehrt, aber Westeuropa lässt auch kein gesteigertes Interesse mehr an der Weltorganisation erkennen. Der Aufbau eines Europäischen Krisenaktionscorps zeigt in die Richtung eines europäischen Unilateralismus. Die Industriestaaten betreiben eine Weltpolitik, in der die davon Betroffenen vor allem den Machtanspruch zu spüren bekommen.

Nicht nur der jetztige deutsche Außenminister, schon einer seiner Vorgänger hat den Finger auf diese ordnungspolitische Schwachstelle gelegt. Hans-Dietrich Genscher verlangte, die Ebenbürtigkeit aller Staaten, auch die der kleinsten und ärmsten, anzuerkennen. Sie müssen an den sie betreffenden Entscheidungen beteiligt, ihre Stimme muss gehört werden. Das kann nur in multilateralen Verfahren geschehen - ob sie nun in die feste Form einer internationalen Organisation oder in die lockere der institutionalisierten Diskussion gegossen werden. Dazu zählt der mit dem Modewort "governance" bezeichnete organisierte Dialog zwischen Regierungen, Transnationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und gesellschaftlichen Interessengruppen. Gerade weil "governance" auch die gesellschaftlichen Akteure miteinbezieht, kann sie so erfolgreich für die Steuerung globaler und regionaler Prozesse eingesetzt werden.

Diese vielfältigen Formen des Multilateralismus grenzen sich deutlich ab gegen den Unilateralismus und Bilateralismus. Wer sich in der komplexen Gesellschaftswelt von heute außenpolitisch verhält wie die Monarchien einst in der vergangenen Staatenwelt, wird nicht nur erfolglos bleiben; er gefährdet auch seine Sicherheit. Er erzeugt Öffentlichkeiten, deren Kritik den politischen Terrorismus beflügelt. "Die Welt von heute", schrieb Samuel P. Huntington im Frühjahr 1999, "verträgt eben keine Weltführungsmacht, keinen Weltpolizisten." Wer die Welt führen will, kann das nur im multilateralen Einvernehmen erfolgreich tun, in das jedes Land, aber auch jeder große gesellschaftliche Akteur sich einbringen kann. Auf diesem Mechanismus beruhte der Erfolg des KSZE-Prozesses seit 1975, beruht die Leistungsfähigkeit der OSZE. Dass die Strategie des Multilateralismus zunehmend durch Unilateralismus und Bilateralismus ersetzt wird, ist der Sicherheit in der modernen Welt nicht förderlich. Im Nahen Osten, der Problemregion par excellence, fehlen solche Organisationen überhaupt. Dabei böten gerade sie hier die Möglichkeit, kulturelle und religiöse Differenzen kooperativ zu behandeln und die politischen Konflikte gewaltfrei und im Kompromiss zu regeln.

V. Rückkehr zum Multilateralismus?

Ob die Weltpolitik angesichts der Bedrohung durch den politischen Terrorismus einer Größenordnung, wie sie sich in der Katastrophe des 11. September gezeigt hat, die notwendigen Konsequenzen zieht, muss sich zeigen. Anzeichen gibt es. Die im November in Katar tagende Welthandelskonferenz wollte sich erstmals stärker an den Interessen der Entwicklungsländer und nicht mehr nur an denen der Industriestaaten orientieren. Die Administration Bush hat nach dem 11. September ihre UN-Politik geändert, die amerikanischen Schulden bezahlt und den Sicherheitsrat für die Bekämpfung des Terrorismus engagiert. Dabei blieb Präsident Bush zwar weit hinter seinem Vater und Vorvorgänger zurück, der im zweiten Golfkrieg die UN-Organisation aktiviert hatte; gemessen an den krassen Absagen an jeglichen Multilateralismus, die die ersten neun Monate der Amtszeit von George W. Bush gekennzeichnet hatten, war es jedoch eine bedeutende Rückwende. Auch an der Rüstungskontrolle findet die Bush-Administration neues Interesse. Hatte sie erst im Mai 2001 jede Verbesserung der Biowaffenkonvention von 1972 abgelehnt, rief sie Ende Oktober die Staaten der Welt zur verstärkten Kooperation auf diesem Gebiet auf. Ob daraus insgesamt eine Renaissance des Multilateralismus erwächst, wird man abwarten müssen.

Skeptisch muss das Machtgerangel stimmen, das im Zusammenhang mit dem Krieg in Afghanistan unter den westlichen Industriestaaten eingesetzt hat. Statt sich solidarisch mit der Frage zu beschäftigen, ob der militärische Eingriff gegen die Taliban wirklich geeignet ist, nicht nur Al-Qaida und ihren Chef Usama Bin Ladin, sondern auch den internationalen Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen, nutzen die europäischen Staaten vielmehr die Gelegenheit, ihre je national verstandene Machtposition zu verstärken. Nur so lässt sich der Eifer deuten, mit dem gerade die Bundesrierung schon seit Beginn des Krieges deutsche Truppen angeboten hat. Großbritannien hat sie, ganz in der Tradition seiner "besonderen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten", gleich geschickt. Frankreich hat schnell und leise 2000 Mann entsandt. Hinter diesen Beiträgen nicht zurückzufallen und deswegen an Einfluss zu verlieren, wurde zu einem Hauptmotiv der Berliner Politik.

Nun wird Politik stets als die Kunst betrieben, mit einer Klappe mehrere Fliegen zu schlagen. Aber dass man in Westeuropa der eigenen machtpolitischen Positionierung so viel mehr Gewicht beimisst als der Suche nach der richtigen und zweckmäßigen Strategie, muss doch zu denken geben. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union begann zumindest in Mazedonien sichtbar zu werden; gegenüber dem Krieg in Afghanistan ist sie nicht einmal zu erahnen. Die großen europäischen Mächte dienen sich jeweils einzeln den USA an in der Hoffnung, an dem Machtgewinn zu partizipieren, den sich die Vereinigten Staaten in jener Weltregion davon versprechen. Natürlich muss, wer mitbestimmen will, auch mitspielen. Wer klein ist, sollte die Partie aber nicht allein, sondern im Verein mit anderen gestalten. Diesen Test scheint die Europäische Union auch jetzt wieder nicht zu bestehen. Ihre Mitglieder bewerten die im Bilateralismus steckende Aussicht auf Belohnung durch die Supermacht USA höher als die Perspektive, in der Gemeinsamkeit der Europäischen Union auf solche Belohnungen gar nicht mehr angewiesen zu sein. Mit der Einführung des Euro am 1. Januar des kommenden Jahres werden die Europäer einen großen Schritt in diese Richtung tun; mit der Überbewertung machtpolitischer Konkurrenzen anlässlich des Afghanistan-Krieges treten sie einen Schritt zurück.

Ein europäisches Interesse, die Gefährdung durch den politischen Terrorismus als historisch seltene Gelegenheit zu begreifen, die richtigen Ansätze von 1990 wieder aufzunehmen, ist nur in der Deklaratorik zu verspüren. Damit diese Renaissance zur operativen Politik wird, müssen die Gesellschaften wohl etwas nachhelfen. Sie sollten nicht zulassen, dass in der seit langem so gründlich geänderten Welt von heute die veralteten machtpolitischen Interessen der Kabinette die Oberhand gewinnen vor dem Anspruch aller Gesellschaften auf Sicherheit, wirtschaftlichen Wohlstand und Teilhabe an der Herrschaft. Sie sollten verhindern, dass der Kampf gegen den Terrorismus sich auf den Krieg gegen die Taliban reduziert und möglicherweise um Kriege gegen weitere unliebsame Regierungen in der Region erweitert wird. Sie sollten verlangen, dass wirtschaftliche Übervorteilung, politische Majorisierung und die Tolerierung massiver Unterdrückungspraktiken im Nahen Osten und im Irak beendet werden, weil sie den Kontext verstärken, aus dem der Terrorismus sich ernährt.

Wie der frühere amerikanische CIA-Chef Robert Gates gesagt hat, kann der politische Terrorismus nicht besiegt, sondern nur erstickt werden. Das hätte die neue Weltordnung getan, deren politischer Grundriss auf der Pariser Konferenz von 1990 präsentiert worden war. Diese Ordnung jetzt in einem zweiten Anlauf herzustellen ist die politische Hauptaufgabe, deren Erfüllung die Gesellschaften ihren Regierungen strikt abverlangen sollten. Weltkarte folgt

Dr. phil., geb. 1927; Professor em. für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Frankfurt; seit 1970 Mitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt a. M.

Anschrift: HSFK, Leimenrode 29, 60322 Frankfurt.

Veröffentlichungen u. a.: Friedensstrategien. Eine systematische Darstellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madriaga, 2. Aufl., Opladen - Wiesbaden 1998; Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert, München 1999.