Einleitung
Die beiden größten Völker Europas konnten sich schon wegen ihrer dominierenden Rollen auf dem eurasischen Kontinent nie gleichgültig sein. Die deutsch-russischen Beziehungen waren stets von widersprüchlichen Gefühlen geprägt, wobei sich Bewunderung, Abneigung, Angst und romantische Zuneigung mehr vermischten als abwechselten.
Deutsche und Russen kämpften gemeinsam gegen Napoleon, teilten wiederholt Polen unter sich auf, fanden sich nach den Winkelzügen der Diplomatie auf verschiedenen Seiten der Fronten des Ersten Weltkriegs wieder, um dann mit dem Rapallo-Pakt gegen die westlichen Siegermächte gemeinsame Sache zu machen. Verblendet von Hitlers Blut- und Bodenideologie zogen die Deutschen kurz darauf in den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und mussten sich auch von der Roten Armee vom eigenen Regime befreien lassen - mit Gräueltaten auf beiden Seiten. Der Siegerstolz trat an die Stelle des Hasses auf die Deutschen. Für viele Angehörige der sowjetischen Streitkräfte wurde die DDR zum Sinnbild eines freundlichen, neuen Deutschlands. Die deutsche Teilung allerdings empfand die russische Bevölkerung als widernatürlich, und daher setzte in russischen Augen die Wiedervereinigung einen versöhnenden Schlusspunkt unter eine nicht nur für Deutsche, sondern auch für Russen unbegreifliche Fehlentwicklung in den Beziehungen zwischen beiden Ländern.
Diese haben sich seit 1990 auf pragmatische Weise erfreulich entwickelt. Die deutsch-russischen Beziehungen zeichnen sich heute durch eine beträchtliche Breite aus. Das hat Tradition - erinnert sei nur an die deutsche Auswanderung nach Russland sowie an die vielen deutschen Kaufleute und Industriellen, die vor dem Ersten Weltkrieg in Russland wirkten.
Die wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu Russland werden - abgesehen von den Energiebeziehungen - überwiegend von mittelständischen Unternehmen getragen. Wichtige Hilfestellungen leisten Einrichtungen wie der Verband der deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation, die Delegation der Deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation sowie der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft.
Die Bundesrepublik ist durch kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen in Dutzenden russischer Städte präsent. Persönliche Kontakte entstanden durch die Hunderttausende Aussiedler ebenso wie durch den Tourismus und den Studenten- und Wissenschaftleraustausch.
Auf staatlicher Ebene wurden seit 1990 eine Vielzahl bilateraler Abkommen getroffen, darunter über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit (1990), zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialwesens (1990), beim Umweltschutz (1992), zur gegenseitigen Hilfeleistung bei Katastrophen (1992), zur Zusammenarbeit beim Internationalen Straßen- und Luftverkehr (1993), über die Einrichtung einer gemeinsamen Kommission zur Aufarbeitung der jüngeren Geschichte (1997), die Erleichterung des Reiseverkehrs (2003) sowie die jugendpolitische Zusammenarbeit (2004).
Dass die deutsch-russischen Beziehungen eine derartige Dynamik entfalten, hat damit zu tun, dass viele Faktoren, welche geeignet sind, die Beziehungen zwischen Ländern zu stören, im Falle Deutschlands und Russlands entfallen. Es gibt keine ungeklärten Grenzfragen, keine ethnisch-religiösen Konflikte und keine Rivalität um Weltherrschaft auf der internationalen Bühne. Als Restposten des Zweiten Weltkriegs bleibt die endgültige Regelung der "Beutekunst"-Frage - eine zähe Angelegenheit, aber sicher kein "großer Konflikt". Auch Kaliningrad/Königsberg ist kein Zankapfel zwischen Deutschland und Russland, sondern eher Gegenstand gemeinsamer Sorge um die Entwicklung dieser durch ihre Randlage benachteiligten Region.
Trotz der vielfältigen Begegnungen und Kooperationen, die Russen und Deutsche einander näher bringen, ist das Russlandbild in Deutschland nicht einheitlich. Auf Wirtschaftsveranstaltungen und bei ranghohen Begegnungen werden die guten Beziehungen herausgestellt, doch in den Medien wird Russland häufig sehr kritisch betrachtet. Anlass dafür sind nicht Probleme in den direkten Beziehungen beider Länder, sondern der Umgang des russischen Staates mit seinen Bürgern und mit den westlichen Nachbarstaaten: Einerseits Abbau von Demokratie, Schwächung des Parlamentarismus, Einschränkung der Pressefreiheit, Gewaltexzesse in Tschetschenien, Druck auf die GUS-Staaten Ukraine, Moldau und Georgien, die sich von Moskau entfernen wollen, andererseits Unterstützung des totalitären Lukaschenko-Regimes in Weißrussland sowie der separatistischen Kräfte in Transnistrien, Nordossetien und Abchasien.
Enge Energiebeziehungen
Die wirtschaftlichen Beziehungen werden auf beiden Seiten im Allgemeinen positiv gewertet, allerdings werden die engen Energiebeziehungen aus deutscher Sicht gleichzeitig als problematisch eingestuft. Deutschland, das 97 Prozent seines Erdölverbrauchs und über 80 Prozent seines verbrauchten Erdgases importieren muss, hat in Russland einen verlässlichen Großlieferanten gefunden. Aus Russland kamen 2004 rund 34 Prozent der deutschen Erdöleinfuhren und 42 Prozent der Erdgasimporte (vgl. Tabellen 3 und 4).
Was bedeutet diese enge Verflechtung auf dem Energiegebiet? Gewährt sie Energiesicherheit, oder bringt sie gefährlich hohe Energieabhängigkeit? Was die numerischen Relationen anbelangt, so lässt sich aus ihnen unmittelbar kein Urteil ableiten. Deutschland, das von Energieträgerexportländern umgeben ist, kann sich einer hohen Diversifizierung seiner Energieimporte erfreuen. Aber wird das in Zukunft so bleiben, wenn Deutschland noch mehr Erdöl und Erdgas von Russland beziehen wird? Russland besitzt neun Prozent der weltweiten Vorräte an konventionellem Erdöl sowie 34 Prozent der Erdgasvorkommen.
Russisches Erdgas hat auf dem europäischen Markt eine dominierende Stellung, denn es kann durch die noch aus sowjetischen Zeiten stammenden Pipelinenetze aus westsibirischen Gasfeldern preisgünstig geliefert werden. Künftig werden bei steigenden Kosten der sich in die Barentssee und die Jamal-Halbinsel verlagernden russischen Erdgasförderung die Importe aus Afrika und dem Nahen Osten erhöhte Anteile gewinnen, und Russlands relativer Anteil an den europäischen Erdgasimporten wird sinken. Russlands Erdgaslieferungen werden davon abgesehen zunehmend Richtung China und Japan gelenkt werden (vgl. Karte 2). Dies wird Europas Versorgung allerdings nicht tangieren, da dafür überwiegend ostsibirische und fernöstliche Vorkommen in Anspruch genommen werden, die für den europäischen Markt wegen der hohen Transportentfernung ohnehin nicht in Frage kommen.
Die deutschen Erdgasimporte werden bis 2025 um rund 25 Prozent auf dann rund 105 Mrd. Kubikmeter ansteigen.
Zunehmende deutsche Energieträgerimporte aus Russland werfen die Frage nach der Verfügbarkeit und Sicherheit der Transportwege aus dem Osten auf. Die Transportwege für Erdöl und Erdgas aus Russland Richtung Europa führen durch Gelände, das nicht durch Erdbeben gefährdet ist und weniger als andere Weltgegenden zum Operationsgebiet von Terroristen gehört. Unterbrechungen der Fernpipelines durch Transitstaaten (Belarus und die Ukraine im Zusammenhang mit Streitigkeiten über Gaspreise bei der Inlandsversorgung) waren bislang äußerst kurzfristigund beeinträchtigten die Gasversorgung Deutschlands und Europas nicht. Auf alle Fälle könnte, so wird argumentiert, die geplante Nordeuropäische Gaspipeline (NEGP) (bzw. "Ostseepipeline") einen wichtigen Beitrag zur deutschen Energiesicherheit leisten, weil sie nicht durch potenziell unsichere Transitländer (gemeint sind die Ukraine, Belarus und Polen) verläuft (vgl. Karten 3 und 4).
Die Ostseepipeline hat erhebliche Proteste in den baltischen Staaten und in Polen hervorgerufen, die vor allem auf den dort entstandenen Eindruck einer absichtlichen Umgehung dieser Staaten und einer Einigung Deutschlands und Russlands über ihre Köpfe hinweg zurückzuführen sind.
Russland als Partner Deutschlands
Dankbar für Russlands Entgegenkommen bei der Wiedergewinnung seiner Einheit, stand Deutschland an vorderster Stelle bei der finanziellen Unterstützung der Transformation Russlands in eine Demokratie und Marktwirtschaft.
Der vergleichsweise liberale innenpolitische Ansatz Boris Jelzins und des "frühen" Wladimir Putin hatten als außenpolitische Grundlinie die Annäherung an Europa und die zumindest teilweise Integration in dessen Strukturen erwarten lassen. So findet man in der Rede, die Putin (noch unter dem Eindruck des 11. September) am 25. September 2001 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat, den Wunsch nach "echter Partnerschaft" und sogar nach einem Aufgehen Russlands in einem "Großeuropa" und der Vereinigung der Potenziale Deutschlands mit denen Russlands.
Russlands Platz wird heute von der Moskauer politischen Elite irgendwo zwischen Regionalmacht und Weltmacht verortet.
Da die Anhänger der "Großmachtoption" die EU als Verband miteinander konkurrierender Länder begreifen, drängen sie auf bilaterale Beziehungen, darunter an hervorragender Stelle die mit Deutschland. Auch die Vorstellung einer Achse Paris-Berlin-Moskau, die der amerikanischen Hegemonie Paroli bieten und gleichzeitig einen Keil in die EU-Phalanx treiben soll, entspricht diesem Denken. Umgekehrt wird Deutschlands Rolle oft als die eines Türöffners für Russlands Integration nach Europa gesehen, ohne dass dabei beachtet wird, dass Russland einer solchen Hilfestellung gar nicht bedarf, weil die Hindernisse nicht in einer Abwehrhaltung der EU, sondern im Unwillen Russlands, sich europäischen Spielregeln zu unterwerfen, zu suchen sind.
Werte und Interessen
Eine Folge des komplexen deutsch-russischen Verhältnisses ist es, dass ihm keine einfache Formel gerecht werden kann. Die Floskel von der Völkerfreundschaft ist durch die DDR-Praxis gründlich entwertet worden, weswegen wohl Bundeskanzlerin Angela Merkel auf sie verzichtete, als sie im Januar 2006 in ihrer neuen Funktion Präsident Putin in Moskau traf. Stattdessen bekräftigte sie die "strategische Partnerschaft" mit Russland, auf die sich anlässlich des ersten deutsch-russischen Gipfeltreffens im Juni 2000 in Berlin bereits der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und Putin verständigt hatten.
In Russland allerdings wird nicht verstanden, warum man gegenüber den "amerikanischen Freunden" zurückgesetzt und ihnen "nur" Partnerschaft, nicht "Freundschaft" angeboten wird. Zu russisch-deutschen Missverständnissen führt, dass man in Russland unter "strategischer Partnerschaft" eine Interessenallianz versteht. Für die russische Politik sind strategische Partner solche, mit denen man zum gegenseitigen Nutzen wichtige Projekte durchführt und Zielsetzungen teilt. Daher ist die Liste der strategischen Partner Russlands lang, und fast jedes Land der Erde könnte darauf erscheinen. Dagegen versteht man im außenpolitischen Diskurs der EU unter "strategischer Partnerschaft", seit sie den Begriff in ihrer Gemeinsamen Strategie gegenüber Russland (1999) einführte, sowohl eine Interessenallianz wie auch eine Partnerschaft auf der Grundlage gemeinsamer Werte.
Unter Schröder erweckte die deutsche Russlandpolitik den Eindruck, sich trotz der demonstrativen Freundschaft der Spitzenpolitiker auf eine nur auf gemeinsamen Interessen basierende Partnerschaft beschränken zu wollen, denn von deutscher Seite wurden öffentliche Stellungnahmen zu den inneren Verhältnissen des Partners vermieden.
Gemeinsame Werte sind ein wichtiges Element einer auf Kooperation setzenden Außen- und Sicherheitspolitik. Dies hat der ehemalige US-Außenminister Colin Powell bestätigt, als er in einem Artikel in der "Izvestija" darauf verwies, dass jenseits von Interessen und des Vertrauens zwischen politischen Führern die Fähigkeit zur Kooperation zwischen Nationen auf einer Konvergenz der grundlegenden Prinzipien, die in den Gesellschaften geteilt werden, beruhe.
Ausblick
Deutschland und Russland befinden sich in einem evolutionären Prozess der Annäherung, der weit über die wirtschaftliche und außenpolitische Kooperation hinausreicht. Dem kommt zugute, dass es in den bilateralen Beziehungen keine großen Konflikte gibt. Auch die noch enger werdenden Energiebeziehungen können angesichts der starken gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit kein Grund zur Sorge sein. Verstimmungen werden auch künftig zu Tage treten, wenn von deutscher Seite eine deutlichere Entwicklung Russlands hin zu Demokratie und Marktwirtschaft angemahnt und von russischer Seite dafür wenig Verständnis gezeigt wird.
Die beabsichtigte "strategische Partnerschaft" zwischen Russland und Deutschland wird ihr Potenzial nicht ausschöpfen, solange von einer der beiden Seiten darunter im Wesentlichen nur eine sich auf bestimmte Kooperationsfelder beschränkende Interessenallianz verstanden wird. Die Qualität der deutsch-russischen Beziehungen wird davon abhängen, ob in Russland künftig diejenigen Kräfte tonangebend werden, die einen "besonderen russischen Weg" befürworten, oder diejenigen, die für eine weitere Annäherung an Europa eintreten.
Bei einigen östlichen Nachbarn Deutschlands entstand der falsche Eindruck einer deutsch-russischen Verständigung auf ihre Kosten. Durch Einbeziehung aller betroffenen Staaten über deutsche Initiativen und Entscheidungen der Russlandpolitik kann die Kommunikationsschieflage korrigiert werden, die durch das Übergewicht rein bilateraler deutsch-russischer Treffen und Konsultationen entstanden ist.