Einleitung
Artikel 2 Nr. 1 der Charta der Vereinten Nationen bestimmt: "Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder." Es ist aber nicht nur die Organisation der Vereinten Nationen (United Nations, UN), die auf diesem Grundsatz beruht, sondern die ganze Völkerrechtsordnung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Was ist mit der "souveränen Gleichheit der Staaten" gemeint? In einer bedeutenden, allgemein anerkannten Deklaration hat sich 1970 die UN-Generalversammlung auf die folgende Definition geeinigt: "Alle Staaten genießen souveräne Gleichheit. Sie haben dieselben Rechte und Pflichten und sind gleichberechtigte Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, ungeachtet aller Unterschiede wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer oder anderer Natur." Weiter heißt es: "Jeder Staat hat die Pflicht, die Rechtspersönlichkeit der anderen Staaten zu respektieren. Die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit jedes Staates sind unverletzlich. Jeder Staat hat das Recht, seine politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung frei zu wählen und zu entwickeln."
Die souveräne Gleichheit der Staaten ist damit in erster Linie ihre Rechtsgleichheit: Jeder Staat ist vor dem Völkerrecht gleich, sei er groß oder klein, mächtig oder schwach, westlich-demokratisch verfasst oder etwa arabisch-islamisch. Entsprechend hat in der Generalversammlung der Vereinten Nationen jeder Staat das gleiche Stimmrecht (Art. 18 Abs. 1 der UN-Charta). Nach dem Grundsatz sind die Volksrepublik China, mit gut 1,3 Milliarden Menschen der bevölkerungsreichste Staat der Welt, und der pazifische Inselstaat Tuvalu, mit 11 000 Einwohnern der bevölkerungsmäßig kleinste,
Das Prinzip der souveränen Gleichheit gehört zu den rechtlichen Grundbedingungen der bestehenden multilateralen internationalen Ordnung. Multilateralismus setzt die Existenz einer größeren Zahl unabhängiger Akteure in den internationalen Beziehungen voraus. Mit einer - rechtlich anerkannten - Vorherrschaft einzelner Staaten über andere ist ein multilaterales System unvereinbar.
Geschützt wird die souveräne Gleichheit der Staaten vor allem durch das allgemeine Gewaltverbot des Völkerrechts: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt" (Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta). Auch der größte Staat darf dem kleinsten nicht seinen Willen aufzwingen, indem er ihn mit militärischer Gewalt überzieht oder bedroht.
An genau dieser Stelle aber gerät gegenwärtig das Prinzip der souveränen Gleichheit in eine angefochtene Position. Denn das Gewaltverbot befindet sich in einer Krise.
In Anbetracht dieser aktuellen Situation, auf die ich später zurückkommen werde, soll in diesem Beitrag der völkerrechtliche Begriff der souveränen Gleichheit der Staaten näher erklärt werden. Da es sich um einen Begriff handelt, der sich im Lauf der modernen Völkerrechtsgeschichte verändert hat, muss dabei auch die historische Dimension berücksichtigt werden. Um zu verstehen, was "souveräne Gleichheit" heute bedeutet, und um abschätzen zu können, ob das Prinzip auch in der Zukunft die völkerrechtlichen Beziehungen der Staaten leiten wird, ist es nötig zu beschreiben, wie dieser Grundsatz entstanden ist.
Die Souveränität des Staates
Mit dem Ausdruck der "souveränen Gleichheit" sind in der UN-Charta von 1945 zwei rechtliche Begriffe miteinander verbunden worden, nämlich die "Souveränität" der Staaten und ihre (rechtliche) "Gleichheit". Beide weisen ihre eigenen Schwierigkeiten auf. Wenden wir uns zunächst dem ersten Begriff, der Souveränität, zu, der jedenfalls bis 1945 die Hauptrolle gespielt hat.
Die Souveränität des Staates zählt zu den ältesten Ideen und Begriffen des neuzeitlichen Völkerrechts. Sie hat den Aufstieg des modernen rationalen Staates in Europa als des Inhabers umfassender Personal- und Territorialhoheit auf einem abgegrenzten Gebiet begleitet und unterstützt. Auch in der Gegenwart ist der souveräne Staat der "ordentliche" Staat im Sinne des Völkerrechts und das "regelmäßige" Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft. Die Völkerrechtsordnung ist um die Aufrechterhaltung eines einheitlichen und universalen Systems souveräner Staaten bemüht.
In seiner langen Geschichte
Nach einer weithin geteilten Auffassung hat die Souveränität des Staates zwei komplementäre und sich wechselseitig bedingende Seiten: Nach innen gewandt setzt ihr Inhaber letztverbindliches, von keiner anderen Macht abgeleitetes Recht. Nach außen ist er rechtlich weisungsfrei; er schuldet von Rechts wegen keinem anderen Gehorsam. Die innere Seite hatte die "Zwischengewalten" im Auge, rechtlich oder tatsächlich unabhängige Herrschaften, welche sich die frühmoderne Zentralgewalt zu unterwerfen suchte. Der äußere Souveränitätsanspruch zielte auf "fremde", auswärtige Mächte. Mit dem Anspruch auf Unabhängigkeit von diesen verband sich die Abschirmung des eigenen Territoriums, das von rechtlicher und tatsächlicher Einflussnahme von außen frei sein sollte. Entsprechend ist auch einerseits von staatsrechtlicher (innerstaatlicher), andererseits von völkerrechtlicher (internationaler) Souveränität die Rede.
Souveränität: Recht und Politik
Wir sprechen hier von der Souveränität als einem Rechtsbegriff, doch besitzt sie als solcher im Staats- und im Völkerrecht eine politische Dimension. Souveränität als Rechtsbegriff ist von einer charakteristischen Spannung geprägt: Einerseits verfolgt sie das Ziel, die Macht dessen, der souverän zu sein behauptet, als Rechtsmacht zu definieren und damit zu begrenzen. Andererseits beruft sich der Souverän - jedenfalls von Zeit zu Zeit - auf sie, um sich der Bindung an rechtliche Regeln und Verfahren zu entziehen oder das Recht seinen Interessen gemäß zu ändern. Dieser zweite Aspekt, den man die "ungezähmte" Seite der Souveränität nennen kann, kommt heute in den internationalen Beziehungen stärker zum Ausdruck als im inneren Staatsleben jedenfalls der westlichen Verfassungsstaaten, welches vergleichsweise wirksamere rechtliche Schranken kennt.
Der Aspekt weist zurück auf die Ursprünge des Begriffs, als er ganz und gar Ausdruck politischer Ansprüche war, Behauptung eines wirklichen oder nur angeblichen Rechtes oder Versuch der Durchsetzung eines Anspruchs in der Rechtswirklichkeit. Seit der französische Jurist und Philosoph Jean Bodin den Souveränitätsbegriff im 16. Jahrhundert zum Thema der Staatstheorie gemacht hat,
Auch in der Gegenwart wird der Anspruch auf Souveränität gewöhnlich in politischen Krisen und Kämpfen, in Kriegen und Bürgerkriegen erhoben oder zurückgewiesen. Es bedeutete das vorläufige Ende selbstständiger deutscher Staatsgewalt, als die vier Hauptsiegermächte mit der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 die "oberste Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands" übernahmen.
Souveränität als Herrschaft über das Recht
Mit dem Niedergang naturrechtlicher Anschauungen, nach denen auch die Regenten unabhängig von ihrem Willen an bestimmte grundsätzliche Normen gebunden waren, wurde im späteren 18. und im 19. Jahrhundert aus der Souveränität auch der Anspruch auf Herrschaft über das Recht abgeleitet. Jeder Staat, so kritisierte Kant im Jahre 1795, setze seine Majestät "gerade darin, gar keinem äußeren gesetzlichen Zwange unterworfen zu sein"
Sich wechselseitig verstärkend, verbanden sich im 19. Jahrhundert Souveränitätsbegriff und Nationalstaatsidee. Der Akzent des Begriffs lag nicht mehr auf einem Auf- und Ausbau möglichst effektiver territorialer Staatsgewalt, sondern auf der Konkurrenz mit anderen Nationen. Die "souveränen Nationalstaaten", konstruiert als sich gegenüberstehende geschlossene Einheiten, stritten miteinander um politische, wirtschaftliche und militärische Macht, bevölkerungs- und gebietsmäßige Größe und ihren Rang. Nach einem Wort des Historikers Otto Hintze musste sich der Staat als "Machtstaat" behaupten; "jeder Staat muss sehen, wie er seine Interessen schützen und durchsetzen kann"
Es ist daher verständlich, dass dem verabsolutierten Souveränitätsgedanken in der Rückschau vorgeworfen wurde, die beiden Weltkriege begünstigt zu haben. Entsprechend geriet der Begriff in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, besonders aber nach 1945, in eine Krise. Die Völkerrechtswissenschaft reagierte auf die Annahme der Charta der Vereinten Nationen, indem sie den Begriff schrittweise relativierte und ihm den Begriff der Solidarität aller Mitglieder der internationalen Gemeinschaft
Die UN-Charta von 1945 als Wendepunkt
Seit der Annahme der Charta der Vereinten Nationen im Jahre 1945 hat eine tief greifende Anpassung und Begrenzung des überkommenen Souveränitätsbegriffs stattgefunden. Schrittweise und im Einklang mit der stetig gewachsenen Interdependenz der Staaten ist der als im Wesentlichen rechtlich ungebunden gedachte "souveräne Staat" zu einer (primär räumlich definierten) Körperschaft geworden, die völkerrechtlich vielfach verpflichtet ist, und zwar auch ohne ihre Zustimmung, ja sogar gegen ihren Willen. Im Stufenbau der universalen Rechtsordnung zeichnet sie aus, mit dem vergleichsweise höchsten Grad an Autonomie ausgestattet zu sein.
Das Völkerrecht steht nicht mehr im Dienst der Staatsräson, sondern des Gemeinwohls der internationalen Gemeinschaft.
Der heutige völkerrechtliche Gemeinwohlbegriff ist die Folge der Erfahrung eines Versagens der staatlichen Gemeinwesen im 20. Jahrhundert, vornehmlich in Europa: Der Staat schützte den Einzelnen nicht vor Gewalt und Unrecht, sondern wurde im Gegenteil zum Urheber derselben. Vor diesem Hintergrund wurde die völkerrechtliche Rechtsordnung zum Anwalt des Individuums gegenüber den Staaten (und insbesondere dem jeweiligen Heimatstaat des Einzelnen) erhoben - allerdings nur in den Interessen, die allen Menschen kraft ihres Menschseins gemeinsam sind (Leben, Gesundheit, Freiheit).
Souveräne Gleichheit als Autonomie der Staaten
Die Charta der Vereinten Nationen spricht nicht von "Souveränität" als solcher, sondern postuliert allein das "Prinzip der souveränen Gleichheit (sovereign equality/égalité souveraine)" aller Mitgliedstaaten (Art. 2 Nr. 1).
Völkerrechtliche Souveränität ist damit ein Sammelname für die Rechte (Kompetenzen) und Pflichten, welche die Völkerrechtsordnung zu einer bestimmten Zeit einem unabhängigen Staat zuweist. Diese spezifischen ("souveränen") Rechte und Pflichten konstituieren zusammengenommen die Souveränität eines Staates. Souveränität ist der völkerrechtlich definierte Rechtsstatus eines unabhängigen Staates. Die Souveränität ist also nicht die Quelle oder der Ursprung von Rechten und Ansprüchen. Die Eigenschaft eines Staates, souverän zu sein, verleiht diesem keine Rechte, sondern umgekehrt machen ihn bestimmte, ihm durch das Völkerrecht zugewiesene Rechte souverän.
Hieraus ergibt sich auch, dass die völkerrechtliche Souveränität eines Staates weder "natürlich" noch statisch ist. Sie ist vielmehr veränderlich. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist die Handlungsfreiheit der einzelnen Staaten wesentlich beschränkt worden. Den mit der Satzung des Völkerbundes von 1919
Eine neuere, insbesondere europäische Richtung der Völkerrechtslehre versteht die Entwicklung des Völkerrechts seit der Zeit des Völkerbundes als einen Prozess der "Konstitutionalisierung"
Diese konstitutionelle Sicht des Völkerrechts der Gegenwart erlaubt auch eine zeitgemäße Definition der einzelstaatlichen Souveränität, die der verstärkten Gemeinschaftsbezogenheit des Staates Rechnung trägt: Die Souveränität des Staates ist die ihm durch die Verfassung der internationalen Gemeinschaft, vornehmlich die UN-Charta, eingeräumte und garantierte Autonomie.
Selbständigkeit und Gleichheit als Inhalte der Autonomie der Staaten
Welche verfassungsmäßigen Rechte oder Kompetenzen aber können wir als solche identifizieren, die zusammengenommen diese Autonomie eines Staates ausmachen? Es handelt sich um grundlegende, den Status und die Handlungsfähigkeit eines Staates betreffende Rechte. Diese Rechte sind auf zwei Pole hin ausgerichtet, nämlich auf den der Selbständigkeit oder Unabhängigkeit einerseits und den der Gleichheit andererseits. Entsprechend lassen sich unterscheiden: erstens Rechte zum Schutz der Selbstständigkeit eines Staates und damit des Raumes der Selbstbestimmung seines Volkes und zweitens Rechte zum Schutz der gleichberechtigten Mitgliedschaft eines Staates in der internationalen Gemeinschaft.
Zu den Rechten der ersten Gruppe gehören: das Recht, weder einer Androhung noch einer Anwendung von Gewalt von Seiten eines anderen Staates ausgesetzt zu werden (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta), das Recht der (vorläufigen) individuellen und kollektiven Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs (Art. 51 UN-Charta), das Recht eines Staates darauf, dass sich weder andere Staaten noch Organe der internationalen Gemeinschaft in seine inneren Angelegenheiten einmischen, das Recht eines Staates, sich eine Verfassung zu geben und seine politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung frei zu bestimmen, das Recht auf Respektierung dieser Verfassung und Ordnung durch die anderen Staaten und die Organe der internationalen Gemeinschaft sowie das Recht eines Staates auf Bestimmung seines künftigen Rechtsstatus, darunter auch die Aufgabe seiner Unabhängigkeit.
Die Rechte der zweiten Gruppe sind im Wesentlichen Teilhaberechte. Sie richten sich auf die gleichberechtigte Beteiligung eines Staates an der Wahrnehmung der Aufgaben und der Ausübung der Befugnisse der internationalen Gemeinschaft, das heißt insbesondere die Beteiligung an der Erzeugung völkerrechtlicher Normen im Wege des Vertragsschlusses und des Gewohnheitsrechts, der Anwendung dieser Normen in dezentralisierter Form (durch die Staaten selbst) und durch die dazu berufenen Organe der internationalen Gemeinschaft sowie der verbindlichen Entscheidung über völkerrechtliche Ansprüche. Dies schließt nicht aus, in internationalen Organisationen einzelnen Staaten aus funktionellen Gründen besondere Rechte zuzuerkennen, die sie etwa bei Abstimmungen über bestimmte Fragen privilegieren.
Der Raum der durch die Rechte der ersten Gruppe garantierten staatlichen Selbständigkeit hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontinuierlich verkleinert. Vieles, was zuvor zu den "inneren Angelegenheiten" der Staaten gezählt wurde, ist in die Verantwortung oder Mitverantwortung der internationalen Gemeinschaft übergegangen. Als überaus folgenreich hat sich der internationale Menschenrechtsschutz erwiesen. Indem sich die Staaten in umfassender Weise zur Gewährung von bürgerlichen, politischen und wirtschaftlichen Rechten verpflichtet haben, haben sie auch Grundregeln für ihre politische und gesellschaftliche Ordnung angenommen, die ihre Gestaltungsfreiheit entsprechend begrenzen. Bedeutsam sind auch Verpflichtungen auf Prinzipien der "good governance" sowie solche zugunsten des Schutzes der natürlichen Umwelt. Inmultilateralen Vertragswerken niedergelegt, begründen diese Verpflichtungen zugleich ein rechtliches Interesse der übrigen Vertragsstaaten; diese dürfen, kommt es aus ihrer Sicht zu Verletzungen der Pflichten, diese Verletzungen anprangern und Abhilfe verlangen, ohne gegen das Nichteinmischungsgebot zu verstoßen. In der Folge gibt es heute kaum mehr einen Bereich des öffentlichen Lebens, welcher der Kritik und Einflussnahme seitens anderer Staaten und internationaler Organisationen verschlossen wäre.
Diese Entwicklung bedeutet aber nicht allein eine Beschränkung der Souveränität der Staaten. Mit der Verringerung der inhaltlichen Reichweite der Unabhängigkeitsrechte ist nämlich eine Verstärkung der Teilhaberechte einhergegangen. Für kleinere Staaten überwiegt dieser Gewinn an internationaler Mitsprache wohl deutlich den Verlust von Selbständigkeit.
Schwächung des Gewaltverbotes und souveräne Gleichheit
Vor der schrittweisen Herausbildung des völkerrechtlichen Gewaltverbotes in der Zeit des Völkerbundes, die mit der UN-Charta von 1945 ihren Abschluss fand, waren die Souveränität und Gleichheit der Staaten nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich nur schwach geschützt. Zwar waren die Staaten einerseits verpflichtet, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der anderen Staaten nicht zu verletzen, andererseits durften sie aber einander fast nach Belieben mit Krieg überziehen. Es ist klar, dass unter diesen Umständen ein mächtiger Staat einem schwächeren Nachbarstaat in der Regel seinen Willen aufzwingen konnte, denn hinter seinen "Wünschen" oder "Anregungen" stand immer unausgesprochen die Drohung mit einem Krieg, den der Schwächere verlieren würde. Das änderte sich rechtlich erst mit der Einführung des Gewaltverbotes. Nicht, dass dieses Kriege und Drohungen mit Krieg in dem halben Jahrhundert seit 1945 völlig hätte verhindern können. Aber die Regierungen waren immerhin gezwungen, das Gewaltverbot wenigstens äußerlich zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Politik zu machen und jede Abweichung - mit großen politischen Kosten - als "Ausnahme" zu rechtfertigen.
Neuerdings aber wird das Gewaltverbot auch als Rechtssatz in Frage gestellt - und zwar auch von den Regierungen und Völkerrechtsexperten westlicher Staaten.
Wegen des engen Zusammenhanges zwischen dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten und dem Gewaltverbot bedeutet die derzeitige Krise des Gewaltverbotes nicht nur eine Gefahr für den Frieden, sondern auch für die Freiheit und Selbstbestimmung der militärisch relativ schwächeren Staaten. "Schwächer" sind heute aber wegen der Entwicklung der Rüstung fast alle existierenden Staaten der Erde. Anders ausgedrückt: Eine Aufweichung des Gewaltverbotes nützt praktisch nur einer Handvoll von Staaten, die auf Grund ihres Rüstungsstandes heute überhaupt in der Lage sind, mit Aussicht auf Erfolg Kriege zu führen. Die anderen Staaten sind bei einer solchen Aufweichung zwar nicht unbedingt unmittelbar einer größeren Kriegsgefahr ausgesetzt; auch eine "Supermacht" entschließt sich wegen der damit verbundenen Risiken und (menschlichen, politischen und finanziellen) Kosten nicht leicht zu einem Krieg. Sie stehen aber unter einem viel höheren Druck, ihre Politik der des mächtigen Staates anzupassen, jedenfalls aber politische Konflikte mit diesem Staat zu vermeiden. Denn stets bleibt das Risiko, dass der mächtige Staat doch zum "letzten Mittel" der Anwendung militärischer Gewalt greifen könnte.
Souveränität als Chiffre des völkerrechtlichen Entwicklungsstandes
Zu der "ungezähmten" Seite der Souveränität, von der im zweiten Teil dieses Beitrags die Rede war, gehört, dass in dem Wort noch immer seine ursprüngliche Bedeutung als "oberste und unbegrenzte Herrschaft" mitschwingt - ungeachtet aller Bemühungen der Rechtswissenschaft, den Begriff zu domestizieren und ihn als völkerrechtlich (oder völkerverfassungsrechtlich) definierte Rechtsmacht eines Staates aufzufassen. Hinter dem Rechtsbegriff der souveränen Gleichheit, der sich nicht nur - wie hier versucht worden istzu zeigen - sinnvoll und stimmig in die universale Rechtsordnung der Gegenwart einfügen lässt, sondern sogar als einer ihrer Ecksteine verstanden werden muss, lauert die alte Souveränität.
Wie auch schon in früheren Epochen ist die Souveränitätsidee in ihrer Widersprüchlichkeit Chiffredes rechtlichen Entwicklungsstandes unserer Zeit. Auf eine Souveränität im Sinne unbegrenzterund unkontrollierter Herrschaft können sich freilich in der weltpolitischen Realität des 21. Jahrhunderts nur noch wenige Staaten beziehen - allen anderen bleibt nur die Festigung des Multilateralismus und des universalen Rechts, wenn sie ihre Unabhängigkeit und Rechtsgleichheit bewahren wollen.
Der deutsch-englische Rechtsgelehrte Wolfgang Friedmann schrieb vor vierzig Jahren: "Der gegenwärtige Zustand der internationalen Organisation ist extrem widersprüchlich. Er reflektiert den Zustand einer Gesellschaft, die einerseits verzweifelt an den rechtlichen und politischen Symbolen nationaler Souveränität festhält, andererseits aber in die Richtung einer Bemühung um gemeinsame Belange und Ziele gedrängt wird, die nur bei einer stetig intensivierten internationalen Organisation erfolgreich sein kann."