Hoyerswerda ist überall
Hoyerswerda, 1956 als "zweite sozialistische Wohnstadt der DDR" für die Kohle- und Energiearbeiter des "größten Braunkohle- und Steinkohleveredlungskombinats Europas", Schwarze Pumpe, errichtet, durchläuft seit der Wiedervereinigung einen dramatischen Deindustrialisierungsprozess: Tausende Arbeitsplätze sind verloren gegangen. Gleichzeitig nimmt die Bewohnerschaft der Stadt stetig ab und die verbleibende wird immer älter. In etwa zehn Jahren, so die Prognosen, wird die einst "jüngste Stadt" der DDR annähernd zur Hälfte von PensionärInnen bewohnt sein. Heute handelt es sich bei diesen zwar noch um die relativ gut versorgten KnappschaftsrentnerInnen. Aber künftig werden jene Personengruppen überwiegen, deren Bezüge als Folge von Vorruhestand und jahrelanger Arbeitslosigkeit eine eher trostlose Perspektive bieten: Einkommen/Vermögen und künftige Rentenansprüche sind gering. Hier droht ein Wiederanstieg der Altersarmut. Hinzu kommt, dass die gesamte technische und soziale Infrastruktur der Stadt angesichts der sinkenden Einwohnerzahlen überdimensioniert ist.Dieser Aufsatz verwendet Argumentationen aus einer Veröffentlichung der Autorin, die in der Publikation "Labor Ostdeutschland" der Bundeskulturstiftung, herausgegeben von Kristina Bauer-Volke und Ina Dietzsch, voraussichtlich im Juli 2003 erscheinen wird.
Wie können Stadtmütter und -väter unter diesen Bedingungen ihre Stadt entwickeln? "Was fängt man mit einem Gemeinwesen an", so der ostdeutsche Architekturkritiker Wolfgang Kil zu Recht dramatisierend, "das sich weder durch Zuzüge noch durch eigenen Nachwuchs reproduziert, also de facto zum Aussterben verurteilt ist?" Und weiter: "Was fangen die Bürger dieser Stadt mit sich an, wenn sie mehrheitlich alt und immer älter werden, zunehmend beschwert von körperlicher Mühsal und ohne finanzielle Ressourcen? Wird Hoyerswerda in zehn Jahren ein Rentnerparadies aus zweigeschossigen Hauszeilen, oder doch lieber mit alters- und pflegegerecht aufgerüsteten Hochhäusern, eingebettet in Parkanlagen mit vielen Bänken und Elektromobil-Ausleihservice, Haustierpflegestationen, die berühmte Bergarbeiter-Klinik umgerüstet zum geriatrischen Fachkrankenhaus, in der Lausitzhalle allwöchentlich Musikantenstadl und schließlich die Friedhofsgärtnerei als letzter Arbeitgeber mit garantierter Expansionsaussicht?"
"Schrumpfung" als altes und neues Phänomen postindustrieller Entwicklung
Man sollte allerdings nicht meinen, das Schrumpfen von Städten und Regionen sei ein völlig unerwartetes und nicht vorhersehbares Phänomen. Der ökonomische Strukturwandel seit den siebziger und frühen achtziger Jahren offenbarte sich im Niedergang traditioneller Industrieregionen. Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Abwanderung waren Krisensymptome jener Regionen und Städte, die bis dahin als Zentren des industriellen Wachstums gegolten hatten. Vor allem die Verschiebung der internationalen Arbeitsteilung, ausgelöst durch den Wandel der so genannten Entwicklungsländer von Rohstofflieferanten zu Standorten industrieller Massenproduktion, verschärfte den Konkurrenzkampf auf dem internationalen Markt. Hatte die Industrialisierung hier seit dem 19. Jahrhundert zu einem explosionsartigen Wachstum städtischer Agglomerationen geführt, so wurde nun eine Implosion dieser Räume konstatiert. Das internationale Wirtschaftsgefüge verschob zum einen die Regionalproportionen und zum anderen das Leitbild wachsender (Groß-) Städte in den entwickelten Industriestaaten. Im Karussell politischer Krisendefinition wurde die herkömmliche Polarisierung "Stadt - Land" durch die nunmehr unterschiedlichen Entwicklungstypen städtischer Agglomerationen überlagert: "Wachstum ist also in Schrumpfung umgeschlagen. Nur noch wenige Städte haben ein stabiles wirtschaftliches Fundament [(...)]"
Obwohl das neue urbane Problem offensichtlich war, hat dies bis Ende der neunziger Jahre keine wesentlichen wissenschaftlichen und politischen Bemühungen ausgelöst. Angesichts des weitgehend ungebrochenen Festhaltens an der Gleichsetzung von Entwicklung und Wachstum in industriellen und postindustriellen Gesellschaften scheint es berechtigt zu sein, deren ideellen Hintergrund auch in einer "Wachstumsmentalität"
Angesichts der allgemeinen Strukturprobleme der deutschen Wirtschaft und der besonders prekären Situation in Ostdeutschland erlebt die Forschung zu schrumpfenden Städten und Regionen derzeit eine massive Ausweitung. Hier wird die Brisanz des ausbleibenden wirtschaftlichen Strukturwandels besonders deutlich. Der ostdeutsche Soziologe Wolfgang Engler warnt jedoch zu Recht vor dem Denkfehler, die deindustrialisierte Gesellschaft des Ostens mit der postindustriellen Gesellschaft des Westens zu verwechseln. Die Ursachen des Schrumpfungsprozesses in den ostdeutschen Bundesländern sind nicht in jeder Hinsicht mit denen in der alten Bundesrepublik zu vergleichen.
Ostdeutsche Städte leiden an Systemproblemen, die noch aus der DDR-Zeit rühren und den Schrumpfungsprozess wesentlich mitbestimmen. Dieser ist seit 1989 eng verbunden mit den konkreten Bedingungen und Ergebnissen der gesellschaftlichen Transformation in Ostdeutschland.
Die sozialistische Stadt als Hypothek
Die Entwicklung der DDR-Städte vollzog sich unter den Bedingungen einer "sozialistischen Gesellschaft": staatliches Bodeneigentum, zentralstaatliche Planung und Stadtverwaltung. Es lässt sich zwar kein konsistentes Konzept einer "sozialistischen Stadt" zeichnen. Aber es gibt dennoch Merkmale der sozialistischen Stadtentwicklung in der DDR, die auf der - idealtypischen - Differenz zur "kapitalistischen Stadt" gründen: Die Nutzungsstruktur der Stadt sollte sich nicht aus den Verwertungsinteressen privater Grundeigentümer und wirtschaftlicher Großunternehmen sowie anderer Akteure ergeben, sondern aus übergreifenden Gesellschaftszielen, Anforderungen und Bedürfnissen. Die Ausrichtung der Wohnpolitik zielte auf die "Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem" und folgte damit einem alten sozialreformerischen Ideal, das die Versorgung der "breiten Schichten der Bevölkerung" mit Wohnraum und die Vermeidung einer sozial segregierten Stadt beinhaltete. Die Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen in den Städten und im Verhältnis von Stadt und Land, ausgerichtet am postulierten Leitbild der "sozialistischen Lebensweise", sollte die Reproduktion sozialer Ungleichheit vermeiden. Hinsichtlich der Stadtstruktur galt das Ideal der kompakten und arbeitsgerechten (werktätigen) Stadt: Kleinteilige Zersiedlung und damit Suburbanisierung wurde baupolitisch verhindert, indem Stadterweiterungen im Wesentlichen nur in Gestalt industriell gebauter Wohngebiete realisiert wurden. Systemideologie und Baupolitik waren lange Zeit von dem Glauben geprägt, die historische Bausubstanz sei in eine sozialistische Stadtgestaltung nicht integrierbar. Auch wurden die Rationalisierungseffekte des industriellen Bauens überbewertet. Dies führte zu einer Orientierung auf "Neubau" und zur Verwahrlosung der alten Stadt.
Aus heutiger Sicht stellen die Vernachlässigung der "alten Stadt", die Unterfinanzierung der Wohnungswirtschaft und die Austrocknung der kommunalen Selbstverwaltung die größten Probleme dar, welche die sozialistische Stadtpolitik hinterlassen hat. Zudem differenzierten sich ostdeutsche Städte schon zu DDR-Zeiten aus - in solche, die von der zentralstaatlichen Siedlungsplanung der DDR aus wirtschaftlichen, administrativen oder anderen politisch-ideologischen Gründen in der Ressourcenzuweisung bevorzugt, und solche, die bewusst nicht in diesen Kreis einbezogen wurden. In den sechziger Jahren waren neben Berlin vor allem ausgewählte industrielle Großvorhaben und entsprechende neue "sozialistische Stadtgründungen" begünstigt worden. Diese Politik musste in den siebziger Jahren zwar offiziell revidiert werden, in der Realität nahm im Lauf der Jahre aber nur die Anzahl der zur Förderung vorgesehenen Städte zu.
Parallel dazu entwickelte sich die Bevölkerung: Die Hauptrichtung der Wanderungsbewegungen verlief zu DDR-Zeiten von den Dörfern, wenn diese nicht zum sozialistischen Hauptdorf erhoben worden waren, über die Kleinstädte, wenn diese nicht Kreisstadtstatus hatten, über die Mittel- in die Großstädte.
Die transformierte Stadt: Deökonomisierung, Depopulation und Deurbanisierung
Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik veränderten sich die Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung in Ostdeutschland grundlegend. Die Wiedereinführung von Privateigentum an Grund und Boden, die Privatisierung volkseigener und genossenschaftlicher Mietwohnungen bei gleichzeitiger Restitutionspolitik nach dem Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" sowie die Altschuldenregelung für DDR-Wohnungsunternehmen und die Retablierung der kommunalen Selbstverwaltung bei gleichzeitigem Austausch der lokalen Eliten sind hier die wichtigsten Stichworte. Hinzu kamen hohe Steuervergünstigungen für Investitionen in ostdeutsche Immobilienprojekte und eine Schwerpunkte setzende Subventions- und Förderpolitik von Bund und Ländern gegenüber den Städten und Gemeinden. Die politischen Initiativen zur städtischen Rekonstruktion nach der Vereinigung gingen dominant von den staatlichen Instanzen aus und erzeugten in den Kommunen einen hohen Anpassungsdruck an die Vorgaben der zentralen Förderprogramme. Dadurch wurden bestimmte "Moden" in allen Gemeinden gleichermaßen umgesetzt, z.B. die Sanierung der DDR-Neubaugebiete wie auch die Förderung des Wohnungsneubaus außerhalb der städtischen Kerne ohne Analyse des ortsspezifischen langfristigen Wohnbedarfs oder die flächendeckende "Ästhetisierung" des öffentlichen Raumes durch immer gleiche Lampen, Betonsteine und Isolierfenster.
Alle Veränderungen in den Rahmenbedingungen stehen jedoch im Bann der "Deindustrialisierung". In der Diskussion um Ursachen, Ausmaß und Folgen der allgemeinen Krise globalisierter Wirtschaftsentwicklung mit stagnierendem Wachstum wird dieser Begriff in zwei Zusammenhängen verwendet. Zum einen bezeichnet er die Tertiärisierung der Produktion (Übergang von der verarbeitenden Produktion zur Dienstleistung), zum anderen aber auch den bloßen Abbau traditioneller Produktionsbereiche ohne deren Ersatz durch moderne Dienstleistungen oder andere Gewerbe des tertiären Sektors. Doch auch in dieser doppelten Bedeutung erfasst der Begriff der Deindustrialisierung Ausmaß, Inhalt und Resultat des wirtschaftlichen Strukturwandels und der daraus resultierenden hohen Arbeitslosigkeit, der demografischen Entwicklung und der urbanen Rückbildungsprozesse in den ostdeutschen Bundesländern nur unzureichend: "De-LPGsierung" (Dekollektivierung der Landwirtschaft), "De-Administrierung" und "De-Militarisierung" sind gleichermaßen Prozesse mit erheblichen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation der Städte in Ostdeutschland. Ein Beispiel von vielen: Die wirtschaftliche Basis der mecklenburgischen Kleinstadt Teterow bildeten vor der Wiedervereinigung u.a. ein Panzerreparaturwerk, ein Kleiderwerk zur Produktion von NVA-Uniformhosen und die Landwirtschaft. Außerdem war Teterow Kreisstadt des gleichnamigen Landkreises. Heute existieren von diesen Wirtschaftsbereichen und Verwaltungsfunktionen allenfalls noch Restbestände. Eine "Tertiärisierung der Produktion" hat nicht stattgefunden. Die Stadt Teterow versucht mit der Ansiedlung von Unternehmen der Biotechnologie eine grundsätzliche Neudefinition der wirtschaftlichen Basis, deren Erfolg zur Zeit jedoch äußerst ungewiss ist.
Der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie - also die Deindustrialisierung - hatte die folgenreichsten und schwerwiegendsten Auswirkungen auf die wirtschaftliche Basis der ostdeutschen Städte. "Auf die Industrie entfielen im Saldo 70 % des Arbeitsplatzabbaus im Gefolge der deutschen Einheit."
Die Landwirtschaft war für viele Städte im ländlichen Raum nach der Industrie die wichtigste wirtschaftliche Basis. Immerhin betrug der Arbeitskräftebesatz hier am 30. September 1985 850 000 Erwerbstätige, d.h., er war etwa doppelt so hoch wie in dem bevölkerungs- und flächenmäßig viel größeren Gebiet der früheren Bundesrepublik.
Auf dem Territorium der DDR gab es, gemessen an ihrer Größe, übermäßig viel Militär sowie paramilitärische Organisationen und Institutionen.
Eine besondere Form der Schrumpfung in den ostdeutschen Bundesländern stellt - zwar mit deutlich geringerem, aber doch nennenswertem Anteil - der Abbau der administrativen Strukturen und Institutionen der DDR dar. Diese "De-Administrierung" betrifft zum einen den Statusverlust, den viele bisherige Bezirks- und Kreisstädte hinnehmen mussten, zum anderen den damit verbundenen umfangreichen Arbeitsplatzabbau, der durch die Abschaffung politischer Führungsstrukturen und Liquidation der DDR-Massenorganisationen noch verstärkt wurde.
Insgesamt ist die Entwicklung der Städte in Ostdeutschland von Funktionsverlusten und wirtschaftlichem Strukturabbau gekennzeichnet. Zentrales Problem ist nicht die Transformation der wirtschaftlichen Basis, sondern vielmehr ihre weitestgehende Erosion (s. die Grafik). Infolgedessen kam es zu einer hohen Arbeitslosigkeit und einer stagnierenden bzw. rezessiven Wirtschaftsentwicklung, die bis zum jetzigen Zeitpunkt anhält. Seit 1991 hat die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland ständig zugenommen und verharrt seit etwa 1997 relativ konstant bei 18 bis 19 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Das sozioökonomische Profil der ostdeutschen Städte ist durch hohe Sozialleistungen bei geringem Steueraufkommen und einer starken Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen charakterisiert. Da der ökonomische Wandel nicht nur - wie dargestellt - durch Deindustrialisierung verursacht ist, sondern einen allgemeinen wirtschaftlichen Strukturabbau umfasst, wird hier vorgeschlagen, treffender von der "Deökonomisierung" zu sprechen. Die wirtschaftliche Basis der ostdeutschen Städte ist weitgehend frei von "Marktwirtschaft". Schaut man sich die defizitären Haushalte der ostdeutschen Städte an, wird offensichtlich, dass diese überwiegend von Transferzahlungen getragen sind. Selbst erwirtschaftete Einnahmen von der Gewerbe- bis zur Hundesteuer haben einen verschwindend geringen Anteil.
Jedoch ist nicht nur der Prozess der Deökonomisierung ein Merkmal schrumpfender Städte in Ostdeutschland. Hinzu kommt als weiteres dramatisches Problem der Bevölkerungsrückgang bei gleichzeitiger Alterung der Bewohner in den Städten. Dieses resultiert zum einen aus der Abwanderung der jungen, qualifizierten Bevölkerung in die alten Bundesländer, vorwiegend als Erwerbswanderung. Desgleichen spielen Zuwanderungsprozesse aus dem Ausland für Ostdeutschland keine Rolle. Zum anderen kam es infolge der "Wende"-Ereignisse zu einem extremen Rückgang der Geburten. Innerhalb von sechs Jahren, von 1988 bis 1994, sank deren Zahl um 60 Prozent. Zwischenzeitlich stieg sie wieder an, kompensiert jedoch bis heute nicht die Sterberate.
Die Wanderungsbewegungen der Bevölkerung verlaufen schwerpunktmäßig von Ost nach West, und das siedlungsstrukturelle Gefälle in Ostdeutschland wird verstärkt. Schließlich bewirkt der ausbildungs- und erwerbsbedingte Abgang der jungen Bevölkerung in Ostdeutschland bei gleichzeitiger Zunahme der Lebenserwartung in den fünf Ländern eine Alterung der Bevölkerung.
Darüber hinaus bestimmt ein weiterer Prozess den sozialräumlichen Wandel: Seit dem Umbruch 1989/90 lassen sich in den ostdeutschen Städten selektive Mobilitätsprozesse beobachten, die teilweise den Mustern westdeutscher Kommunen entsprechen.
In den ostdeutschen Stadtregionen wurde die (Wohn-)Suburbanisierung das dynamisierende Element der sozialräumlichen Entwicklung. Nach einer extrem hohen Dynamik der Stadt-Umland-Wanderungen zu Beginn der neunziger Jahre, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1996/1997 erreichte, hat sich der Prozess zum Ende der Dekade zwar deutlich abgeschwächt, aber er erfolgte unter den Bedingungen demographischer Schrumpfung. In der Folge erlitten nicht nur die Städte, sondern auch die Stadtregionen insgesamt deutliche Bevölkerungsverluste, welche im Gegensatz zu den alten Bundesländern nicht durch Zuwanderungen ausgeglichen werden können.
Die Verschränkung von Stadt-Umland-Migration und Funktionsverlust bei gleichzeitiger Erschließung großer Randlagen ist mehr als bloße Suburbanisierung. Sie führt zu einer Reorganisation des gesamten Raumes, die man insgesamt als Deurbanisierung bezeichnen kann. War für die DDR eine kompakte Stadtentwicklung charakteristisch, so sind jetzt Dekonzentration und Dispersion die zentralen Elemente der raumstrukturellen Entwicklung. Diese wurde Anfang der neunziger Jahre zunächst durch die Ansiedlung von rand- und/oder außerstädtischen großflächigen Einzelhandelseinrichtungen und die Ausweisung von Gewerbegebieten in Gang gesetzt. Seit Mitte der neunziger Jahre lässt sich eine weitere Ausweitung dieser stadtstrukturellen Dispersion beobachten. Die Stadt-Umland-Wanderung ist kein neues Phänomen der Stadtentwicklung, aber sie erfolgt in Ostdeutschland in einer neuen Größenordnung sowie mit einer erheblichen Beschleunigung - und sie wirkt sozial selektiv. Die neuen Wohnangebote werden vor allem von Besserverdienenden und solchen Personengruppen wahrgenommen, welche die Bausparförderung nutzen können. Es entstehen sektoral und räumlich ausdifferenzierte Wohnungsteilmärkte innerhalb der Stadtregionen, die mit einer beträchtlichen sozialräumlichen Restrukturierung der Wohnbevölkerung verbunden sind.
Folgt man den amtlichen Bevölkerungsprognosen, so wird diese "Umverteilung" der Bevölkerung und der Flächen in den nächsten Jahrzehnten weiter voranschreiten: Bis zum Jahr 2025 - so die Schätzung - werden die ostdeutschen Städte bis zu 25 Prozent ihrer Bevölkerung verlieren.
Nicht zuletzt gibt es eine Tendenz zur Verlagerung regionaler Entwicklunskräfte in städtische Randgebiete mit der Folge einer Verödung der Innenstädte. Die für die Kernstadt charakteristische Konzentration von öffentlichen Einrichtungen, Geschäftsleben und Veranstaltungen ist heute in vielen ostdeutschen Städten auf ein Minimum reduziert. Insbesondere der Durchgangsverkehr hat dazu geführt, dass Innenstädte und Innenstadt-Randbereiche für die Wohnbevölkerung unattraktiver geworden sind. Der Verkehrslärm, so ergab die Untersuchung "Wohn-Ort-Innenstadt" aus dem Jahre 2000,
Fazit: Schrumpfende Städte als neuer Normalfall der Stadtentwicklung
Noch immer wird der Schrumpfungsprozess in der beschriebenen Verschränkung verschiedener Problemlagen nicht durchgängig als gravierendes Problem vieler Städte anerkannt. Die umfangreichen Transferzahlungen überdecken teilweise die Wirkungen der ökonomischen Erosion. Vielfach wird noch versucht, Schrumpfung auf den demographischen Faktor zu reduzieren. Im Falle Ostdeutschlands konzentriert sich die politische Debatte um "schrumpfende Städte" jedoch aktuell auf das von der Bundesregierung aufgelegte Programm "Stadtumbau Ost", in dessen Kontext 262 Kommunen integrierte Stadtentwicklungskonzepte als Voraussetzung zur Förderung von Rückbau und Abriss erarbeitet haben. Das Bund-Länder-Programm ist der erste Versuch, die anspruchsvolle gesellschaftliche Aufgabe der Gestaltung von Schrumpfungsprozessen zu instrumentieren. Durch seine Ausrichtung auf integrierte Stadtentwicklungskonzepte werden städtebauliche und wohnungswirtschaftliche Belange auf das Engste miteinander verknüpft. Dies könnte zu einem für Deutschland neuen Niveau der Durchdringung von Stadtentwicklung und Wohnungswirtschaft führen.
Der Wohnungsleerstand in den ostdeutschen Ländern ist angesichts seiner Überdimensionalität nicht mehr als vorübergehende Erscheinung zu verstehen, die etwa durch "Abriss" zu bewältigen wäre. Die prognostizierte steigende Anzahl der Haushalte kann diesen ebenso wenig kompensieren, wie die EU-Osterweiterung ihn regulieren wird. Vielmehr ist er ein deutliches Zeichen für eine dauerhafte Entwicklung. Das bloße Konstatieren leer stehenden Wohnraums reicht als Reaktion auf die schrumpfende Stadtentwicklung nicht aus. Ein solches Verständnis engt die Entwicklung produktiver Umgangsweisen mit diesem neuen Phänomen ein. Vielmehr müssen Ursachen in der strukturellen Verkopplung von Deökonomisierung, Depopulation und Suburbanisierung verortet werden - Entwicklungen, die zudem von Globalisierung bzw. Europäisierung und dem Abbau des deutschen Sozialstaates überlagert werden. Die neue Qualität der städtischen Schrumpfung in Ostdeutschland ist gekennzeichnet durch die Konvergenz und wechselseitige Verstärkung verschiedener Rückbildungsprozesse. Diese erzeugen insgesamt eine Abwärtsspirale, die als strukturelle Schrumpfung alle städtischen Lebensprozesse erfasst.
Seit Ende der neunziger Jahre findet der Schrumpfungsprozess die Aufmerksamkeit von Stadtforschung und -planung, Städtebau und Architektur. Ein veränderter Diskurs begründet ein neues Forschungs- und Praxisfeld. Der Umgang mit aufgegebenen Stadtgebieten der Industriegesellschaft wird daher in Ostdeutschland gewissermaßen in einer Laborsituation erforscht, deren Ergebnisse auch für die westlichen Industrieregionen relevant sein können.
Ostdeutsche Städte stehen für eine Option der Stadtentwicklung, für die es keine bewährten und belastbaren Lösungsstrategien gibt. Stadtentwicklung ist in Deutschland wie in Europa auf die Steuerung von Wachstum und die Erneuerung von Bestehendem eingespielt. Hierfür existieren Regelungen und Instrumente, die seit vielen Jahrzehnten als verlässlich erachtet werden. Letztlich offenbart sich bei der Auseinandersetzung mit den Schrumpfungsprozessen in Ostdeutschland das Dilemma eines Modells von Ökonomie und Gesellschaftsentwicklung, das auf Wachstum basiert - ein Dilemma, das auf konstitutiv problematische Strukturen der westlichen Moderne verweist, wie sie etwa im sozialwissenschaftlichen Diskurs über "Kontinuitätsbrüche der Moderne" in den achtziger Jahren schon einmal Gegenstand der Diskussion waren. In der damals geführten Debatte um Symptome, Missbildungen und Prognosen des Übergangs von der modernen zur "postmodernen" Gesellschaft wurde - angesichts der politischen und ökonomischen Krisenerfahrungen - "Modernität" auch als hochgradig prekäres Entwicklungsziel diskutiert. Der Politologe Claus Offe hat in diesem Diskurs explizit auf das Phänomen der Unumkehrbarkeit als konstitutives Problem der Moderne aufmerksam gemacht. Allein schon wegen der Höhe der Investitionsmittel sei in soziotechnischen Systemen wie z.B. beim Bau einer Autobahn (oder z.B. bei der Erschließung von Gewerbegebieten in jeder noch so kleinen ostdeutschen Siedlung - C.H.) ein außerordentlicher Revisionswiderstand sozusagen eingebaut, so Offe. Ein Autobahnbau eröffne eine Vielzahl von Optionen, verschließe jedoch für alle relevanten Zeithorizonte eine entscheidende Wahlmöglichkeit - und zwar die, darauf auch verzichten zu können.