Einleitung
Von seinem Amtsvorgänger George W. Bush hat der im Winter 2008 gewählte US-Präsident Barack Obama eine Reihe sehr unterschiedlicher sicherheitspolitischer Probleme geerbt: zwei Kriege (im Irak und in Afghanistan), den "Kampf gegen den Terrorismus", eine mit vielen schwerwiegenden Folgen verbundene Energie- und Klimapolitik sowie mit der NATO ein Bündnis auf der Suche nach einer neuen mitgliedschaftlichen (hinsichtlich der Ukraine und Georgien) und aufgabenspezifischen Identität. Alle diese Aufgaben hängen mit einem Projekt zusammen, welches die amerikanische Sicherheitspolitik seit Präsident Ronald Reagan (1981-1989) intensiv beschäftigt: der Abwehr ballistischer Raketen, der autonomen (Wieder-)Herstellung von militärischer Unverwundbarkeit und dem Ziel, alle potenziell feindlichen Staaten vor eine nicht zu durchdringende Wand - den Raketenabwehrschirm - zu stellen. Das politische Ziel ist in den vergangenen Jahrzehnten dasselbe geblieben: Die USA sollen militärisch unverwundbar werden und unter Nutzung der politischen, ökonomischen und militärischen Mittel die eigene dominante Stellung in der Welt absichern.
Als eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen US-Sicherheitspolitik gilt hierbei der Aufbau des während der Ära George W. Bushs intensiv vorangetriebenen Raketenabwehrsystems (Ballistic Missile Defense, BMD),
Politikwechsel in der Raketenabwehr
Angesichts veränderter innen- und auch außenpolitischer Konstellationen stellt sich die Frage, ob dem Raketenabwehrschirm auch nach dem Machtwechsel in Washington dieselbe Bedeutung beigemessen wird. Denn bereits während des US-Präsidentschaftswahlkampfs stand Barack Obama dem BMD-Projekt wenig enthusiastisch gegenüber. So wurde in den Medien darüber spekuliert, ob seine Wahl das Ende für die Raketenabwehrpläne bedeute. Nach der Amtsübernahme verkündete das Weiße Haus, dass zunächst die Effektivität des Abwehrsystems überprüft und eine ausführliche Bedrohungsanalyse durchgeführt werden müsse, bevor die US-Regierung eine endgültige Entscheidung über die Fortsetzung des Projekts treffen könne. Im April 2009 kündigte der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates Kürzungen im Budget des Pentagons für das BMD-System um etwa 1,4 Milliarden US-Dollar an. Im August 2009 gingen die "New York Times" und die polnische "Gazeta Wyborcza" davon aus, dass die neue US-Administration auf das BMD-Projekt höchst wahrscheinlich verzichten werde. Schließlich verkündete Obama am 17. September 2009, dass die von seiner Vorgängerregierung geplanten Abwehrpläne nicht in derselben Form weiterverfolgt werden.
Zwar wies das Weiße Hause einen Zusammenhang zwischen der Modifikation des Abwehrprojektes und den vorangegangenen Protesten Russlands zurück, dennoch gehen viele Analysen davon aus, dass diese Entwicklung im Zusammenhang mit einer angestrebten Verbesserung der amerikanisch-russischen Beziehungen betrachtet werden müsse. Denn die Aufnahme guter und kooperativer Beziehungen zu Moskau ist aus Sicht Washingtons zentral, um zwei Prioritäten der US-Außenpolitik unter Obama besser umsetzen zu können: (1) Fortschritte in der Abrüstungspolitik und (2) die Durchsetzung der UN-Sanktionen gegen den Iran.
Die russische Führung gab mehrfach zu verstehen, eine Unterstützung der UN-Sanktionen gegen den Iran wie auch die Unterzeichnung des START-Folgeabkommens (New-START) davon abhängig zu machen, inwiefern ihre Bedenken bezüglich des US-Raketenabwehrschildes berücksichtigt werden. Auf viele Beobachter wirkte der Verzicht auf die von George W. Bush prononcierte Version des Abwehrsystems wie ein Tauschgeschäft beziehungsweise Geschenk für Russland
Doch der Abschied der USA von ihren ursprünglichen Abwehrplänen sollte auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden: Erstens ist es Obama durch die Modifizierung der Raketenabwehrpläne gelungen, die Beziehungen zu Russland - wenn auch nur temporär - zu verbessern, ohne auf ein auch Mitteleuropa einbeziehendes Abwehrsystem zu verzichten. Nicht zuletzt wurde es dadurch der russischen Regierung ermöglicht, innen- wie außenpolitisch das Gesicht zu wahren. Zweitens muss die Abkehr von dem BMD-System nicht unbedingt eine Vernachlässigung sicherheitspolitischer Interessen der zwei ursprünglich für dessen Installierung vorgesehenen Staaten - Polen und Tschechien - nach sich ziehen. Vielmehr wurde beiden Ländern eine Beteiligung an dem modifizierten Abwehrsystem angeboten, die sie annahmen. Immerhin ging es Polen und Tschechien bei den Raketenabwehrvereinbarungen im Jahr 2008 weniger um einen Abwehrschutz gegen Bedrohungen aus dem Iran als vielmehr um die Prsenz amerikanischen Militärs auf eigenem Boden. Dies soll auch das neue Abwehrsystem gewährleisten. Da mit der Bekanntgabe der Projektmodifizierung die russischen Drohungen gegenüber Warschau und Prag ausblieben, kann die Entscheidung Obamas in diesem Kontext mit einem zusätzlichen Vorteil für Mitteleuropa verbunden sein. Drittens ist das neue Abwehrsystem auf eine engere Kooperation Washingtons mit anderen NATO-Mitgliedstaaten ausgelegt. Die "NATOisierung" des amerikanischen Abwehrschildes kann nicht zuletzt dadurch gelingen, dass die russischen Bedenken teilweise ausgeräumt werden. So haben sich auch dem BMD-System skeptisch gegenüberstehende Bündnisstaaten wie Frankreich bereit erklärt, bei dem neuen Abwehrsystem mitzumachen. Vor diesem Hintergrund scheinen die Veränderungen in den amerikanischen Raketenabwehrplänen weniger das Ergebnis russischen Drucks als vielmehr durchaus eine im Interesse der USA liegende Entscheidung zu sein.
Die hot potato zwischen den USA und Russland
Bereits im Februar 2009 soll Barack Obama der "New York Times" zufolge einen "Geheimbrief" an den Kreml-Chef Dimitri Medwedew geschrieben haben. Darin wurde eine Abkehr von der unter der Bush-Regierung entwickelten Version des Abwehrschildes in Mitteleuropa angedeutet, sollte Moskau Washington helfen, den Iran von der Entwicklung von Langstreckenraketen abzubringen.
Ein amerikanisch-russisches joint understanding, in dem sich beide Seiten auf eine weitgehende Reduktion ihrer strategischen Nuklearwaffen geeinigt haben, wurde im Juli 2009 unterzeichnet. Einige Wochen später verkündete Barack Obama offiziell den Abschied von den Raketenabwehrplänen der Bush-Ära. Demzufolge sollen unter anderem die in Polen und Tschechien geplanten Abwehranlagen durch ein mobiles see- und landgestütztes Abwehrsystem (AEGIS) ersetzt werden. Obama zufolge wurde diese Entscheidung auf der Basis von zwei Prämissen getroffen: Erstens solle eine Bedrohungsanalyse gezeigt haben, dass wider Erwarten die Entwicklung von Kurz- und Mittelstreckenraketen im Iran schneller vorangetrieben werde als die Entwicklung von Langstreckenraketen. Dadurch sei aktuell die unmittelbare Gefahr für die europäischen NATO-Mitgliedstaaten größer als für die USA selbst. Zweitens solle das neue System kosteneffektiver und technisch fortgeschrittener sein.
Trotz der positiven Erstreaktionen scheint diese Frage allerdings noch immer die hot potato der amerikanisch-russischen Beziehungen zu sein.
Neben der Modifizierung der Raketenabwehrpläne bemühen sich die USA auch, durch eine verstärkte Einbindung Russlands in das geplante Abwehrsystem die bilateralen Spannungen zu reduzieren. Die genaue Ausgestaltung der Kooperation stand auf Initiative der USA und des NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen für den NATO-Gipfel in Lissabon im November 2010 auf dem Plan, zu dem auch der russische Präsident Medwedew eingeladen war. Eine Raketenabwehr von Vancouver bis Wladiwostok könnte die Bedenken Russlands ausräumen, so Rasmussen.
"NATOisierung" des US-Raketenabwehrschirms
Eine der politischen Grundsatzentscheidungen, durch die sich die Obama-Administration von der Vorgängerregierung unterscheiden möchte, ist die verstärkte Orientierung an multilateralen Entscheidungen. Die Abkehr vom Unilateralismus der Bush-Administration und die Verbesserung des amerikanischen Ansehens in der Welt standen weit oben auf der Liste des US-Präsidenten Obama. Auch wenn dabei de facto die auf Gefolgschaft und nicht einem Mitentscheidungsrecht basierende Form des Multilateralismus praktiziert wird, beherrscht Barack Obama die multilaterale Rhetorik meisterhaft. Die modifizierten Raketenabwehrpläne sind ein Beispiel dafür: Sie werden nicht mehr als nationales Abwehrsystem der USA, sondern vielmehr als ein Projekt des NATO-Bündnisses vorgestellt, in das mehrere Mitgliedstaaten involviert sind. Wie der Direktor der Missile Defense Agency Patrick O'Reilly ankündigte, sollten die Abwehranlagen in sechs oder sieben europäischen Staaten aufgestellt werden.
Bereits während der Verhandlungen Washingtons mit Prag und Warschau haben einige NATO-Mitgliedstaaten keinen Hehl daraus gemacht, dass sie den US-Abwehrplänen skeptisch gegenüberstehen. Zwar haben die Allianzmitglieder in einer gemeinsamen Abschlusserklärung auf dem NATO-Gipfeltreffen in Bukarest im April 2009 den US-Raketenabwehrschild als Beitrag zur Verteidigung der Bündnisstaaten vor Langstreckenraketen gewürdigt. Darin haben sie gleichzeitig auch ihren Willen bekundet, das amerikanische Projekt eng mit dem geplanten NATO-Abwehrsystem zu verzahnen, damit alle Bündnismitglieder gleichermaßen durch das Abwehrschild geschützt würden.
Doch gab es auch kritische Stimmen: Der italienische Außenminister Franco Frattini appellierte, auf den Bau des Abwehrschildes in Polen und Tschechien zu verzichten, weil den europäischen Staaten sonst ein neuer Kalter Krieg drohe.
Die unter Obama modifizierten Pläne stoßen auf eine weitergehende Akzeptanz der zuvor skeptischen NATO-Mitglieder. Trotz der Tatsache, dass Washington die Installierung der Abwehranlagen weiterhin durch bilaterale Verträge regelt, scheint das vermeintlich multilaterale Vorgehen der USA, die Skeptiker überzeugt zu haben. So erhoffte sich Frank-Walter Steinmeier eine breite Diskussion über die US-Abwehrpläne mit allen Allianzpartnern. Es sei "ein Signal an alle Partner, dass die amerikanische Regierung solche gemeinsamen Lösungen anstrebt".
Mitteleuropäische Sicherheitsbedenken
Das Raketenabwehrabkommen und die damit verbundene Präsenz des US-Militärs auf ihren Territorien wurden in Polen und Tschechien vor allem als eine "Garantie" vor einer Vereinnahmung durch Russland gesehen. Das worst-case-Szenario dieser mitteleuropäischen Staaten ging davon aus, dass bei einer ausbleibenden Kooperation der Europäer beim Raketenabwehrsystem das US-Interesse an einer verstärkten sicherheitspolitischen Kooperation mit Europa abnehmen würde. Gerade mit Blick auf die innerhalb der NATO geführten Diskussionen um eine neue Strategie der Allianz und die Rolle eines gemeinsamen Abwehrschirms hätte dies nicht nur den Zusammenhalt und die gegenseitige Loyalität, sondern auch das Selbstverständnis der Atlantischen Allianz beschädigt.
Warschau und Prag rechneten damit, dass in diesem Falle die US-Regierung die geplante Raketenabwehrbasis auf ihrem eigenen Territorium aufgestellt (was technisch möglich, aber mit höheren Kosten verbunden ist) und zu diesem Zweck weitere US-Soldaten aus Europa abgezogen hätte. Der europäische Kontinent mit seinen begrenzten militärischen Kapazitäten hätte damit den amerikanischen Sicherheitsschirm verloren mit der Konsequenz, dass Russland das Bedrohungsempfinden der postkommunistischen Staaten, aber auch Schwedens, Norwegens und Finnlands verstärkt hätte.
Tatsächlich drohte Russland während des Verhandlungsprozesses bis zum Jahr 2008 mehrfach mit "Gegenreaktionen". Vor allem Polen wurde zum Adressaten dieser Drohungen: Bereits im Herbst 2006 meinte der russische Generalstabschef Juri Balujewski: "Geht hin und baut den Schild. In den schwärzesten Träumen prophezeie ich keinen Nuklearkonflikt, doch überlegt euch, was euch dann auf eure Köpfe fällt."
Zum Frust bei allen Beteiligten trug die besondere Rolle der Medien bei, die augenscheinlich eher Effekthascherei betrieben statt eine neutrale Berichterstattung der Regierungspolitiken, als sie anstelle der neutralen Aussagen der Regierungspolitiker primär über die Empörung und Enttäuschung berichteten. Es wurde der Eindruck erweckt, als fühlten sich die Mitteleuropäer in erster Linie enttäuscht, verraten oder gar an Russland verkauft.
Zur Atmosphäre des "verratenen Mitteleuropas" trug ferner die in den Medien mehrfach zitierte Kritik der US-Republikaner an der Entscheidung Barack Obamas bei. Ihren Bewertungen zufolge sei die Aufgabe des Raketenabwahrsystems "a policy of appeasement that lets down allies and will embolden Russia".
Der Ablauf dieser Ereignisse hat das innerhalb der polnischen und tschechischen Gesellschaften herrschende Misstrauen gegenüber der Administration Obamas erhöht. Eine im Jahr 2010 veröffentlichte Umfrage zeigt am Beispiel Polen, wie drastisch die Unterstützung Mitteleuropas für eine Führungsrolle der USA in der internationalen Politik nachgelassen hat. Während 2002 noch 64 Prozent der polnischen Befragten eine amerikanische Vorherrschaft als wünschenswert empfanden, so waren es im Jahr 2008 nur noch 35 Prozent. 40 Prozent der Befragten fanden eine amerikanische Führungsrolle als nicht wünschenswert (sechs Jahre zuvor teilten diese Meinung nur 22 Prozent).
Abgesehen von der in den mitteleuropäischen Gesellschaften herrschenden Stimmung und dem Stil der Inkenntnissetzung sollte die Veränderung des Abwehrprojektes, das sich nun auf die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen aus dem Iran konzentrieren soll, nicht als "Verrat" der USA an den mitteleuropäischen Staaten betrachtet werden. Aufgrund der geplanten Installierung der Abwehrinfrastruktur in mehreren europäischen Staaten werden Tschechien und Polen zwar keine exklusive Rolle innerhalb des Systems spielen. Doch ihr eigentliches Ziel, eine US-Militäranlage auf eigenem Territorium zu haben, wird nach dem gegenwärtigen Stand der amerikanischen Planungen weiterhin realisiert.
So verhandelt Prag mit Washington über die Aufstellung eines Frühwarnsystems, welches im Falle der Zustimmung des tschechischen Parlaments bereits 2011 oder 2012 installiert werden soll. Auf polnischem Boden soll hingegen zwischen 2015 und 2018 eine landgestützte Version des AEGIS-Systems mit mobilen Abfangraketen mittlerer Reichweite stationiert werden. Bereits im Juli 2010 haben die USA und Polen ein Zusatzprotokoll unterzeichnet, wodurch das Raketenabwehrabkommen von 2008 an die veränderten Abwehrpläne angepasst wurde. Dem polnischen Außenminister Radek Sikorski zufolge beschreibt das Zusatzprotokoll eine neue Konfiguration des Abwehrsystems, die "uns besser gefällt als die ursprüngliche Version".
Diplomatischer Erfolg
Von einem "Kniefall" Obamas vor dem Kreml oder einem "Verrat" Washingtons an Mitteleuropa zu sprechen, wäre eine Fehlinterpretation der amerikanischen Sicherheits- und Außenpolitik. Zu berücksichtigen sind demnach folgende Faktoren: Präsident Obama hat nicht auf ein Raketenabwehrschild verzichtet, sondern die Raketenabwehrpläne der Bush-Administration modifiziert, um das System umfassender, billiger, schneller, flexibler und effizienter zu machen. Darüber hinaus sind sowohl Polen als auch Tschechien als potenzielle Standorte für die neue Abwehrinfrastruktur vorgesehen. Statt in der Modifikation der Pläne primär eine Annäherung Washingtons an Moskau auf Kosten der mittel- und osteuropäischen Staaten zu sehen, können die veränderten US-Abwehrpläne ebenso als ein diplomatischer Erfolg der Obama-Administration betrachtet werden. Nicht nur die Kritik der russischen Regierung wurde aufgegriffen und abgemildert, sondern auch eine breite Zustimmung der Allianzpartner für den Aufbau des amerikanischen Raketenabwehrsystems in Europa gesichert.