Einleitung
Redet man in der Bundesrepublik Deutschland über Zuwanderung aus Vietnam, ist damit meist von den Migrantinnen und Migranten die Rede, die als vietnamesische Kontingentflüchtlinge in den siebziger Jahren unter starker öffentlicher Anteilnahme in der Bundesrepublik aufgenommen wurden.
Schon ab 1955 wurden Schülerinnen und Schüler aus Vietnam in der DDR aufgenommen. Sie waren nach einer Gruppe aus Nordkorea die zweite Gruppe von Kindern, die im Rahmen einer Solidaritätsaktion eine schulische und berufliche Ausbildung in der DDR erhielten. 1955/56 reisten die ersten 348 Kinder in die DDR ein und wurden in Dresden und Moritzburg aufgenommen. Viele dieser Kinder, die im Alter von 10 bis 14 Jahren in die DDR gekommen waren, kehrten erst als Erwachsene nach Vietnam zurück. Trotz unterschiedlichster Biographien verbindet sie aber bis heute auch in Vietnam ihr Leben in der DDR, noch heute führen sie den Namen "Moritzburger". Sie treffen sich regelmäßig und haben in ihren unterschiedlichen Berufen und sozialen Positionen die Entwicklung des heutigen Vietnams mit beeinflusst, wie in der Verbleibsstudie von Mirjam Freytag ausführlich dargestellt wird.
Nach den "Moritzburgern" kamen weitere Gruppen von Vietnamesen zur Qualifizierung in die DDR. Insbesondere wurden im Rahmen der Aktion "Solidarität hilft siegen" Mitte der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre viele Studierende, Schüler und Lehrlinge aus Vietnam in der DDR ausgebildet, um das "sozialistische Bruderland" zu unterstützen.
Zuwanderung zu Lehr- und Ausbildungszwecken
Die Zahlen über die Zuwanderung in die DDR zu Qualifizierungszwecken lassen sich derzeit nur ungenau ermitteln. Eva-Maria und Lothar Elsner beziffern die Zahl ausländischer Studierender in der DDR allein bis 1988 auf insgesamt 42 000,
Die Zusammenarbeit zwischen der DDR und Vietnam hatte zunächst vornehmlich politische Gründe. Mike Dennis beschreibt, wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit Vietnams und der DDR von Horst Sindermann, dem Vorsitzenden der Volkskammer in der DDR und SED-Politbüromitglied, hervorgehoben wurde: "... als er 1973 einer Delegation aus Vietnam erklärte: 'Sie haben dem USA-Imperialismus eine Niederlage beigebracht, dem selben USA-Imperialismus, der einige Kilometer von uns entfernt steht.' Bevor Südvietnam 1975 mit Nordvietnam vereinigt wurde, stellten die DDR und andere sozialistische Staaten Nordvietnam beachtliche militärische, finanzielle und wirtschaftliche Hilfe zur Verfügung. Dies geschah im Rahmen von Solidaritätsaktionen mit Völkern und Staaten, die um 'Freiheit und nationale Unabhängigkeit von Kolonialherrschaft und Imperialismus' kämpften."
Arbeitszuwanderung
Mit Beginn der achtziger Jahre kam es zu einer weiteren Form der Migration in die DDR, zur Migration zu Arbeitszwecken. Im Rahmen von Staatsverträgen zwischen der DDR und Vietnam, Kuba, Algerien, Angola und Mosambik wurden seit Beginn der achtziger Jahre
Ab 1987 stieg die Zahl der Vertragsarbeiter sprunghaft an. Allein 1987 wurden 20 446 Arbeiter aufgenommen, 1988 folgten weitere 30 552. Noch 1989 begannen 8 688 vietnamesische Arbeitskräfte ihren Arbeitseinsatz in der DDR.
Der Arbeitseinsatz in der DDR war nicht nur für die DDR-Wirtschaft von Bedeutung, auch für Vietnam hatte das Arbeitskräfteabkommen große Vorteile. Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit im eigenen Land hatten die Auslandseinsätze eine gewisse Entlastungsfunktion. Zudem waren sie für die, welche mit Beginn des Abkommens in die DDR kamen, in der Regel mit einer Facharbeiter- oder Teilfacharbeiterausbildung verbunden. Aber auch jene, die nicht mehr qualifiziert wurden, profitierten durch Wissenserwerb vom Aufenthalt in der DDR: Sie erhielten Einblicke in die europäische Kultur und in industrielle Fertigungstechniken. Darüber hinaus ging der Arbeitsaufenthalt der Vietnamesen mit dem Transfer wichtiger Devisen und Gebrauchsgüter nach Vietnam einher. Die DDR zahlte pauschal pro Kopf 180 DDR-Mark pro Jahr an Sozialversicherungsbeiträgen an die SR Vietnam, und jeder Arbeiter hatte 12 Prozent seines Arbeitseinkommens als Beitrag zum Aufbau des Landes direkt an die SR Vietnam abzuführen.
Hinzu kamen die Devisen, die Vietnamesen privat nach Vietnam sandten, um ihre Familien zu unterstützen. So durfte jeder Vertragsarbeiter 60 Prozent seines Nettoarbeitseinkommens, das monatlich 350 DDR-Mark überstieg, nach Vietnam transferieren. Fast alle Familien der Vertragsarbeiter waren vom Verdienst ihrer Angehörigen in der DDR abhängig. Auch konnten diese Waren aus der DDR nach Vietnam schicken, pro Arbeiter zwölfmal jährlich ein Warenpaket im Wert von 100 DDR-Mark, sechsmal jährlich eine Postsendung ohne Wertbegrenzung und am Ende des Aufenthaltes Gegenstände in einer Holzkiste von zwei Kubikmetern. Auf diese Weise gelangten Mopeds und Fahrräder, Nähmaschinen und andere Elektrogeräte, Stoffe, Zucker, Seifen und viele andere Waren nach Vietnam.
Neuorientierung im vereinten Deutschland
Mit der Vereinigung beider deutscher Staaten verblieben die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter zunächst in einem rechtlich ungeklärten Raum. Im Gegensatz zu den ausländischen Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschland wurden sie nicht als reguläre Arbeitnehmer, sondern als Werkvertragsarbeiter eingestuft und erhielten damit lediglich eine befristete Aufenthaltsbewilligung für die Zeit des ursprünglich vereinbarten Arbeitsvertrages. Viele dieser Arbeitsverträge wurden jedoch im Zuge der "Wende" aufgelöst, da die zusammenbrechende ostdeutsche Wirtschaft die (Staats-)Verträge zwischen der DDR und Vietnam nicht mehr erfüllen konnte.
Nach Angaben des Ministeriums für Arbeit, Invalide und Soziales der SR Vietnam kehrten bis 1995 45 000 bis 50 000 vietnamesische Vertragsarbeiter in ihre Heimat zurück.
Die Netzwerke der Rückkehrer
Zwei unterschiedliche Personenkreise kehrten also aus der DDR nach Vietnam zurück: Das sind zum einen seit Beginn der siebziger Jahre Schüler, Lehrlinge und Wissenschaftler, die in der DDR eine Qualifizierung erhalten hatten. Viele von ihnen haben nach ihrer Rückkehr über Jahre hinweg Verbindungen sowohl untereinander als auch nach Deutschland unterhalten. Die Reintegration in Vietnam Mitte der siebziger Jahre war aus sozialen wie ökonomischen Gründen teilweise schwierig, der Zusammenhalt mit den anderen bot hier materielle wie immaterielle Unterstützung. Mit der Öffnung Vietnams nach Westen ("Doi Moi") gewannen viele der in der DDR gesammelten Kenntnisse an Bedeutung: Rückkehrer sind ebenso im aufstrebenden Tourismus tätig wie als Mittler und Dolmetscher für deutsche Investoren und Institutionen. Die Ergebnisse der Studie von Mirjam Freytag wie auch meine Interviews 2004 in Hanoi verweisen auf eine hohe Vernetzung ehemaliger Studierender aus der DDR.
Fast alle werteten ihren Aufenthalt in Deutschland als eine positive Zeit; gemessen an den Lebensbedingungen im damaligen Vietnam war die DDR - trotz aller Beschränkungen - ein "Paradies", wie manche sie in den Interviews bezeichneten. Sowohl die Studie von Freytag über die "Moritzburger" als auch eigene Interviews liefern eine Vielzahl von Hinweisen darauf, dass die gemeinsame Vergangenheit in der DDR und die positive Bindung an Deutschland für sie auch nach ihrer Rückkehr nach Vietnam eine bedeutende Rolle im weiteren Leben spielte.
Die zweite Gruppe der Rückkehrer waren die Vertragsarbeiter, die mit der "Wende" nach Vietnam zurückkehrten. Schon zu DDR-Zeiten hatten diese gut funktionierende Netzwerke aufgebaut. Eine Reihe von Gründen begünstigte die Netzwerkbildung. Die Vertragsarbeiter wurden in separaten Wohnheimen untergebracht und waren auch in eigenen "Arbeitskollektiven" tätig.
Trotz der ständigen Aufsicht und Überwachung entwickelten sich informelle Netzwerke, mit denen sowohl soziale als auch ökonomische Ziele verfolgt wurden und die sogar über überregionale Strukturen verfügten. Neben der Funktion, die restriktiven Lebensbedingungen in den Wohnheimen zu erleichtern und dringend benötigte Nebenerwerbsquellen zu erschließen, boten sie sowohl die Möglichkeit zur Pflege der eigenen Kultur als auch Schutz vor ablehnenden Reaktionen von Seiten der deutschen Bevölkerung, die es trotz der offiziellen Freundschafts- und Solidaritätserklärungen immer wieder gab.
Die in der DDR geknüpften Netzwerke blieben auch in der Wendezeit bestehen. Während für die in Deutschland verbliebenen Vertragsarbeiter die Bindung an die ethnische Community im Chaos der Wendezeit überlebenswichtig war, da fast alle Arbeitsverträge aufgelöst wurden, die staatlichen Institutionen für einen Verbleib in Deutschland zunächst jedoch keinerlei Hilfestellung boten,
So haben sich die in der DDR aufgebauten Netzwerke bis heute erhalten. Sie haben sich in dem Sinne sogar ausgebreitet, als heute wieder engere Verbindungen nach Vietnam bestehen, da durch die Bleiberechtsregelung von 1997 die Aufenthaltsfrage geklärt ist und Reisen in die Heimat somit ohne Schwierigkeiten möglich sind. Viele der ehemaligen Vertragsarbeiter haben inzwischen ihre damals in Vietnam verbliebenen Kinder nach Deutschland geholt, und kulturelle und wirtschaftliche Querverbindungen haben sich zwischen den Netzwerken der Ehemaligen aus der DDR in Vietnam und den vietnamesischen Netzwerken in Deutschland nach der Wende herausgebildet.
Der Nutzen der Netzwerke
Die Netzwerke der ehemaligen Studenten und Schüler wie auch die der Vertragsarbeiter basieren dabei auf einer positiven emotionalen Bindung an Deutschland, die nahtlos von der DDR auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen wurde. Sie können als stabile Basis für positive Beziehungen auch zum vereinten Deutschland gesehen werden. Die Netzwerke waren bei der individuellen, sozialen und wirtschaftlichen Reintegration sehr hilfreich und fungieren bis heute als ökonomische Stütze. Sie haben bei Existenzgründungen geholfen und nicht zuletzt durch deutsche Kredite Arbeitsplätze in Vietnam geschaffen. In der bereits zitierten Studie des Sozialministeriums in Vietnam (1996) werden alleine ca. 14 000 Arbeitsplätze erwähnt, die durch das Rückkehrerprogramm der Bundesrepublik Deutschland in Vietnam entstanden seien.
Gleichzeitig dienen die Netzwerke auch den sich inzwischen in Deutschland etablierenden vietnamesischen Unternehmern als Basis etwa beim Aufbau deutsch-vietnamesischer wirtschaftlicher Beziehungen.
Auch in anderer Form wird Entwicklung unterstützt. Als Beispiel sei ein vietnamesischer Unternehmer in Deutschland genannt, der 1986 ohne eigene finanzielle Mittel von seiner Dorfgemeinschaft zum Studium in die DDR geschickt worden war. Er brachte es nach der Wende im Herbst 1998 zu einem erfolgreichen Unternehmer und Mediator zwischen Deutschland und Vietnam. Er sieht es heute als seine Pflicht an, seinerseits begabte Schülerinnen und Schüler seines Heimatdorfes ebenso wie soziale Einrichtungen durch Spenden zu unterstützen. Von der Dorfgemeinschaft, die ihm den Weg in die DDR ermöglicht hatte, wird dies auch erwartet. Dies ist sicherlich kein Einzelfall, sondern Ausdruck der Verbindung traditioneller vietnamesischer sozialer Stützungsstrukturen mit westlicher Qualifizierung.
Die Netzwerke der Rückkehrer haben noch eine weitere Funktion: Sie bilden ein nicht zu unterschätzendes Reformpotenzial. So sind etwa die ehemaligen "Moritzburger" fast alle in mittleren bis leitenden Positionen tätig und nehmen damit Einfluss auf die Entwicklung des Landes. Mehrere Minister und Vizeminister haben ihr Studium in der DDR absolviert, ihr Wissen fließt in ihre Arbeit mit ein; ihre in der DDR geknüpften Verbindungen sind ihnen heute nützlich. Auch die Vertragsarbeiter hatten bei ihrer Rückkehr europäisches Know-how und die Kenntnis westlicher Mentalität im Gepäck, was ihnen und ihrem Heimatland nützlich ist: Vietnam ist heute aufnahmebereit für diese Einflüsse. Waren die Kompetenzen, welche die Absolventen der DDR-Universitäten mitbrachten, Mitte der siebziger Jahre im Land oft nicht nutzbar, so werden solche Kenntnisse heute - infolge des Aufbaus und der Öffnung des Landes nach Westen - dringend gesucht und genutzt. Die vietnamesische Regierung hat die Entwicklungsmöglichkeiten, die sich durch die Rückkehr der Schüler und Schülerinnen, Studierenden und Arbeitskräfte bieten, frühzeitig erkannt. So formulierte das Sozialministerium bereits 1993: "Die Gemeinschaft der Vietnamesen, die im Ausland eingesetzt waren, speziell in Deutschland, sind soziale Arbeitskräfte mit hoher Qualität, besitzen technisch-fachliches Können in vielen ökonomischen Branchen. Das sind Arbeitskräfte, die sehr wichtig für die sozial-ökonomische Entwicklung in den lokalen Orten und Entwicklungen sind."
Auch politisch werden die Beziehungen Vietnams zu den im Ausland lebenden Vietnamesen heute als bedeutsam eingeschätzt und von der Regierung bewusst gefördert. Nach einem Bericht der Viêt Nam News von 2005 wird dem Ausbau der Beziehungen zu im Ausland lebenden vietnamesischen Wissenschaftlern, Künstlern, Wirtschaftsleuten und Akademikern für die wirtschaftliche Entwicklung Vietnams eine hohe Bedeutung zugemessen, sie soll in der Zukunft stärker gefördert werden. Es gibt dem Bericht zufolge sogar Überlegungen, die doppelte Staatsangehörigkeit zu ermöglichen, um diese Beziehungen flexibler gestalten zu können. Der Bericht benennt private Geldtransfers von Auslandsvietnamesen im Wert von derzeit mehr als drei Milliarden US-Dollar jährlich, die nicht nur den Familienangehörigen zugute kommen, sondern auch die Entwicklung der Ökonomie und der Gesellschaft in Vietnam vorantreiben. Und der stellvertretende Außenminister Nguyên Phú Bình formuliert abschließend: "We highly value the overseas Vietnamese community's contribution to their fatherland."