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Szenen aus Budapest - Essay | Ungarn | bpb.de

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Szenen aus Budapest - Essay

Sebastian Garthoff

/ 8 Minuten zu lesen

Der Autor schildert aus journalistischer Sicht Szenen, die er während seiner Tätigkeit in Ungarn wahrgenommen hat. Manchmal verbergen sich unschöne Wahrheiten hinter den Klischees.

Einleitung

Bevor ich als Journalist nach Ungarn komme, geben mir die Titelseiten der Reiseführer, Stadtpläne und Postkartenmotive mein Bild vom Land vor: ein Ziehbrunnen in der Hortobágy sowie die erleuchtete Kettenbrücke, unter der die Donau träge dahinfließt. Dahinter sorgt das neogotische Parlament für das gewisse Etwas.



Am Vortag meiner Ankunft im August 2006 bläst ein gewaltiges Gewitter den St.-Stephans-Tag weg, einen der drei Nationalfeiertage Ungarns, und hinterlässt mehrere Todesopfer. Nach dem Hochwasser im Frühjahr ist dies die zweite von drei Katastrophen in diesem ungarischen annus horribilis.

Budapest, das ist die Stadt, die 1871 entsteht, als sich die Stadtteile Buda, Óbuda und Pest zur neuen Metropolis der österreichisch-ungarischen Monarchie zusammenschließen. Neben Berlin entwickelt sie sich zur am schnellsten wachsenden europäischen Stadt im fin de siècle, die berühmt wird für ihre Gründerzeitgebäude, für ihre Kaffeehäuser, für ihr europäisches Flair. Das Leben in Budapest ist ein laissez faire, es treibt nicht voran. Budapest ist eine Stadt, die entkrampft, doch die auf längere Sicht auch bedrückend sein kann. Für einen Neuankömmling ist sie wie ein großer Gemischtwarenladen, der von allem etwas bereit hält.

Ich verstehe kein Wort Ungarisch. Meine ersten Vokabeln soll ich bald lernen. Es sind die Schlagworte einer nicht zur Veröffentlichung gedachten Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, in der er zugibt, die Wähler bewusst belogen zu haben. Durch eine undichte Stelle gelangt jene "Lügenrede" an die Öffentlichkeit. Die Bilder vom brennenden Budapest flimmern anschließend auf den internationalen Bildschirmen.

Auch in unserer Redaktion herrscht gespannte Erwartung. Frisch von der Uni oder noch studierend, sind unsere revolutionärsten Erlebnisse die Studentenratswahlen der heimischen Alma mater gewesen. Nun knallt es auf der Straße. Es ist zum einen die journalistische Pflicht, vielmehr noch das historische Interesse, das mich auf die Straßen, in das Tränengas und zwischen die nervösen Polizeiknüppel treibt. Seit dem Volksaufstand 1956 hat Ungarn derart schwere Ausschreitungen nicht mehr gesehen. Auch ich will einen Blick auf die Vertreter dieser auf Sparflamme gekochten Revolution werfen, bevor es zu spät ist. Jeder ist plötzlich auf der Straße - Journalisten, Hooligans, Schaulustige -, nicht um zu demonstrieren, sondern um dabei zu sein, wenn etwas los ist.

Die Menge skandiert Ria, ria, Hungaria (Auf, auf, Ungarn), und es scheint, sie sind mit dem, was sie tun, und dem, was sie wollen, uneins. Sie wünschen sich eine Revolution und wissen doch nichts damit anzufangen. Die Polizeiaufgebote stoßen vor, stoßen zurück, lassen keine Strategie erkennen. In letzter Konsequenz schießen sie Tränengas in die Menge. Es hält die Radikalen unter den Demonstranten nicht davon ab, ein Polizeiauto zu kapern und es am Blaha Lujza tér, einem der Hauptverkehrspunkte der Stadt, in Brand zu stecken. Als die Polizei mit Pferden auftaucht, werden Steine aus der Straße gerissen und nach ihnen geworfen. Doch auch die Knüppel der Polizisten zu Fuß sitzen locker. Manchmal ist es besser, einfach zu rennen.

Die Schlachtrufe auf den Straßen bleiben in diesen Tagen und Wochen dieselben. Ria, ria, Hungaria und Gyurcsány takarodj (Gyurcsány verschwinde) werden zu täglichen Begleiterscheinungen. Oft werden Parallelen zum Volksaufstand gezogen. "Der Vergleich mit dem Aufstand 1956 ist abwegig und geschichtsvergessen", meint András Heltai-Hopp. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere ist er einer der bekanntesten Journalisten Ungarns. 1956 sei für Freiheit und Demokratie gekämpft worden, sagt er, der selbst als junger Reporter Augenzeuge der Geschehnisse war. Beides habe Ungarn nun. "Wer 2006 von revolutionärem Umsturz redete, den musste man fragen: Wohin? Zu Unfreiheit und Diktatur?"

Viel Zeit verbringe ich in diesen Tagen im Café Kamara. Direkt gegenüber der Großen Synagoge gelegen, klein genug, um sich allein nicht einsam zu fühlen, scheint es mir als geeigneter Rückzugsort, als Fixpunkt. Die Wände sind mit vergilbten Zeitungsartikeln plakatiert, neben der Toilettentür ist Juri Gagarin gerade von seinem Flug aus dem All zurückgekehrt. Draußen, auf dem Boden der Tatsachen, findet um die Ecke die Großkundgebung des Fidesz statt. Die meisten Gäste tragen eine Rosette mit den ungarischen Nationalfarben am Revers, ein Symbol der Revolution von 1848, oder eine ungarische Fahne mit einem Loch in der Mitte, ein Symbol von 1956. "An diesen Feiertagen ist auf einmal jeder ein Ungar", sagt die Café-Betreiberin Krisztina. "Ich nicht. Ich bin römisch-katholisch."

Anstatt 1956 als Datum des nationalen Gedenkens und Heroismus zu begehen, geht der "Feiertag" am 23. Oktober 2006 in Krawallen unter. Auf dem zentralen Deák Ferenc tér kapern Radikale einen ausgestellten sowjetischen Panzer, der sich auch noch als betriebsfähig erweist. In der Nacht dasselbe Bild wie bereits Wochen zuvor. Die Bilanz am Ende der "Feierlichkeiten": 167 Personen, darunter 17 Polizisten, werden bei den Straßenkämpfen verletzt. 131 Personen werden wegen Randalierens, Gewalt gegen Polizisten und leichterer Vergehen in Haft genommen. Hinzu kommen etliche Millionen Forint Sachschäden. Noch Tage später ist das Tränengas in den Unterführungen nicht ganz verflogen.

Es sind die stillen Symbole, die den ungarischen Freiheitskampf angemessen würdigen: etwa Beethovens Schicksalssymphonie, die tagsüber durch die Straßen hallt. Es ist das simple "1956" in weißen Lettern auf schwarzem Grund. Es sind die vielen Menschen, die dem Kampf ihres Landes in Stille gedenken wollen. Doch Ungarn 2006 erlaubt kein stilles Gedenken - zumindest nicht, wenn Politik im Spiel ist.

Das Seuchenjahr 2006 hält noch eine weitere Tragödie bereit: Im November stirbt Ferenc Puskás, Kapitän der "goldenen Mannschaft", die in den 1950er Jahren den internationalen Fußball dominierte. Puskás ist so etwas wie der Königssohn, dem an der Ungarn statt (fast) alles gelang. Seine Beisetzung wird zum Staatsakt, und das Volk weint kollektiv. Im Nationalstadion, das offiziell seinen Namen trägt, versammeln sich neben der internationalen Fußballprominenz um Franz Beckenbauer und Michel Platini Tausende, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Ein Mittvierziger, der die "goldene Mannschaft" schon nicht mehr spielen gesehen hat, weint um dieses Relikt der Vergangenheit, weint aus tiefstem Herzen, blickt zurück auf die Urahnen, auf die alte Zeit. Weiter abseits skandiert eine Gruppe Jugendlicher Puskás' Namen, dazwischen brüllen sie Ria, ria, Hungaria, bevor das Stadion in Stille taucht. Als der Sarg unter den Klängen der 9. Sinfonie auf die letzte Ehrenrunde geht, brechen alle Dämme. Die Menschen strömen nach vorne zur Bande, Kerzen in der Hand, Tränen in den Augen. Auf dem Platz vor der St.-Stephans-Basilika wohnen die Menschen anschließend dem über Leinwände übertragenen Gottesdienst bei. Neben Königen findet der Fußballer Puskás in der Basilika seine letzte Ruhe. Jedem, der dies als anmaßend empfindet, ist zu entgegnen: Könige gab es viele, Puskás nur einen. Ungarn ist mit seinem Tod um eine Ikone, um eine goldene Erinnerung ärmer.

Es zeigt einmal mehr, wie sehr die Ungarn der Vergangenheit verhaftet sind. Es ist die Erinnerung an jene Zeit Mitte der 1950er Jahre, als sich der Kommunismus mit "Stalins bestem Schüler" Mátyás Rákosi in Ungarn bereits durchgesetzt hat. Doch die "goldene Mannschaft" fegt jedes europäische Team aus dem Stadion und ist die erste Mannschaft, die England zu Hause im Wembley-Stadion schlägt. Nach dem verlorenen WM-Endspiel gegen Deutschland 1954 in Bern kehren sich die Vorzeichen um. Verlierer kann das Regime nicht gebrauchen. Stattdessen steht es selbst kurz vor dem Exitus. Nur zwei Jahre später wird der Volksaufstand den Ostblock erschüttern. Doch der Westen kann, will nicht helfen, und das Land hat einmal mehr Grund zu trauern.

Nicht zuletzt ist Ungarn das Land des Szomorú vasárnap (Trauriger Sonntag), der "Hymne der Selbstmörder", und in den Selbstmordstatistiken in Europa vorne dabei, derzeit überboten nur von Litauen, Belarus, Russland und Slowenien. Zu den Selbstmördern gehört auch der Komponist des "Traurigen Sonntag", Rezs? Seress. Von einem Gemälde blickt er heute auf den Pianisten im Kispipa Vendegl? herab. In diesem Restaurant, so die Legende, in den dunklen, engen Straßen des Jüdischen Viertels, sei Anfang der 1930er Jahre die "Hymne der Selbstmörder" entstanden, und von dort hat sie ihren Siegeszug um die Welt angetreten.

Mitten in Budapest, am Fuße der Kettenbrücke, steht eine Statue, die den Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn 1867 allegorisch darstellt. Nach dem schwierigen 20. Jahrhundert ist das kleine Land an der Donau seit 2004 Teil der Europäischen Union. Es identifiziert sich mit dem europäischen Gedanken und strebt keine Grenzrevisionen an. Im Innern aber würden Hände eher verdorren, ehe sie sich einander reichen.

Bereits kurz nach den Ereignissen im Herbst 2006 nehme ich es bewusst wahr: Graffiti und Slogans, die nicht nur gegen die Regierung, sondern vor allem gegen Juden wettern. Als Tolvaj zsídók (Judendiebe) werden sie bezeichnet und als trágya (Dünger). In meinem Stadtteil Ferencváros, seit wenigen Jahren Budapests Bezirk für Kultur und abendliche Unterhaltung, sind regelmäßig Mülleimer mit dem Schriftzug "Juden unter alles" in deutscher Sprache verziert. Gereinigt werden sie selten.

Dem "heißen Herbst" folgt ein heißer Sommer. Doch nicht nur das Quecksilber im Thermometer klettert nach oben, auch die gesellschaftliche Stimmung kocht. Bei der Vereidigung der von der rechtsradikalen Jobbik-Partei gegründeten "Ungarischen Garde" Ende August 2007 auf der Budaer Burg vor dem Amtssitz des Staatspräsidenten ist mir Ungarn ein größeres Rätsel, als es bisher war. Es sind Radikale da, doch sie verlieren sich in der bunten Menge der tausend Spießbürger. Als die "Ungarische Garde" aufmarschiert, schwillt das Klatschen zum Orkan an, und Jubel bricht aus. Ein junger Ordner, adrett in Garde-Uniform und mit einem Scheitel wie mit dem Lineal gezogen, lässt mich in den Pressebereich vor. Als er meinen Akzent wahrnimmt, lächelt er.

Auch Mária Wittner ist anwesend. Ihr Name ist in Ungarn ein Begriff. Als junge Arbeiterin kämpft sie mit der Waffe in der Hand während der Revolution 1956 gegen die Kommunisten. Dreizehn Jahre sitzt sie im Gefängnis, bevor sie begnadigt und erst 1970 freigelassen wird. Viel später erzählt sie, wie man ihr bei der Vernehmung den Gummiknüppel in die Intimteile stieß. Ein halbes Jahrhundert später versammelt sie sich mit Tausend anderen, um der Premiere dieser "Ungarischen Garde" beizuwohnen, einer rechtsradikalen Organisation, die ihre Mitglieder auch an der Waffe ausbilden will. Wittner erklärt, dass sich "Menschen, die um ihre Heimat bangen, nun gegen den Satan - die gegenwärtige Regierung - und 50 Jahre Kommunismus verbünden". Die Meute jubelt, mehr noch, als gegen Juden, Homosexuelle und Roma gedonnert wird.

Schon die Nachricht über die Bildung der sonderbaren Garde erregt Unmut, tragen deren Mitglieder doch Uniformen und Insignien, die jenen der ungarischen Faschisten der 1940er Jahre, den "Pfeilkreuzlern", ähneln. Dennoch wohnen Tausende Sympathisanten der Vereidigung der ersten 55 Gardisten auf der Budaer Burg bei, welche die "Verteidigung der Nation" zum Ziel haben. Man wolle Aufgaben beim Katastrophen- und Zivilschutz übernehmen. Ebenso finden sich ein katholischer und ein reformierter Pfarrer sowie eine lutherische Pastorin zur Segnung der Garde-Fahne bereit. Die Kirchen lassen danach verlautbaren, dass dies ohne ihr Wissen geschehen sei. In den nächsten Jahren finden Hunderte von weiteren Freiwilligen den Weg in den "eingetragenen Verein". Ein Verbotsverfahren bleibt in der Schwebe. 2009 finden bereits 19 Prozent der Ungarn die "Garde" "akzeptabel".

Ungarn ist noch nicht "angekommen". Der Eindruck entsteht, dass sich noch etwas bewegt, sich bewegen müsste. Doch dieser Eindruck kommt zu selten vor. Mit den gewaltsamen Ausschreitungen auf den Straßen der Hauptstadt geht die Vorstellung vom Musterland unter den neuen EU-Mitgliedstaaten buchstäblich in Rauch auf. Danach produziert das Land mit der "Ungarischen Garde" und dem drohenden Staatsbankrott während der globalen Krise weitere Negativschlagzeilen. Ungarn ist ein schönes Land. Doch es ist tief gespalten.

Master of Arts (CEU Budapest), geb. 1984; von 2006 bis 2009 Journalist bei der Wochenzeitung "Pester Lloyd" in Budapest.
E-Mail: E-Mail Link: sebastian_garthoff@web.de