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Vom eigenen Garten zur weltweiten Ressourcenverteilung - Essay | Gemeingüter | bpb.de

Gemeingüter Editorial Elinor Ostrom und die Wiederentdeckung der Allmende Was sind Gemeingüter? - Essay Vom eigenen Garten zur weltweiten Ressourcenverteilung - Essay Die Welt als Allmende: marktwirtschaftlicher Wettbewerb und Gemeingüterschutz Die Allmendeklemme und die Rolle der Institutionen. Oder: Wozu Märkte auch bei Tragödien taugen Umweltschutz im Alltag: Probleme im Umgang mit Gemeingütern Auf dem Weg zu einer Wissensallmende?

Vom eigenen Garten zur weltweiten Ressourcenverteilung - Essay

Roland Tichy Ulrike Guérot Ulrike Guérot Roland Tichy /

/ 16 Minuten zu lesen

Es ist notwendig, dass an vermeintlich freien Gütern kla­re Eigentumsrechte definiert werden, um ihre Übernutzung zu verhindern. Zur Regulierung der globalen Gemeingüter bedarf es einer Weltordnungspolitik.

Einleitung

Die Diskussion um Gemeingüter ist in zweifacher Hinsicht neu entbrannt: Zum einen wird diskutiert, was heute noch privates oder staatliches Eigentum sein darf (etwa der Garten, auf den aber eine Windparktrasse muss, oder "seltene Erden" und ob zum Beispiel China diese teilen muss), zum anderen mit Blick darauf, was öffentlich geschützt werden sollte - das Klima, die Natur oder auch Freiheit, Demokratie und "Europa" als Gemeingüter -, und wer wie viel bzw. was dafür bezahlt. In diesem Beitrag möchten wir die Brücke zwischen beiden Debatten schlagen: Zunächst werden der Begriff der Allmende sowie die Risiken und politisch-ökonomischen Verzerrungen analysiert, die entstehen, wenn öffentliche Güter (Wasser, Luft) "frei" gestellt werden. Anschließend argumentieren wir, dass der Schutz von weltweiten Gemeingütern mittelfristig international organisiert werden muss, und zeigen, welche Rolle Europa dabei spielen könnte. Vor diesem Hintergrund sollte die europäische Integration selbst als schützenswertes Gut im Sinne einer globalen Allmende gesehen werden.

Geschichte wiederholt sich, wusste Georg Wilhelm Friedrich Hegel - einmal als Tragödie und dann als Farce, wie Karl Marx ergänzte. Dies scheint sich bei der derzeitigen Debatte um Gemeingüter zu bestätigen. Da wird in Vorworten auf populäre, aus dem historischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext entwendete Zitate zurückgegriffen, etwa auf Martin Luthers Wort vom "fressenden Kapital". Es ist bemerkenswert, wie hier ein Denkmuster der Vormoderne, einer im wesentlich agrarisch-feudalistischen Gesellschaft ohne Bevölkerungs- und Wohlfahrtswachstum, auf die globale Gegenwart angewandt wird. Gerne wird auch Jean-Jacques Rousseau als Kronzeuge der Gemeingüter mit folgender Passage zitiert: "Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und der einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft."

Gemeinsam ist diesen Denkfiguren ein Unbehagen an der modernen, arbeitsteiligen und technologisch fortgeschrittenen Welt, und in jedem Fall wird der Teufel in ihr in der bewährten Form des Privateigentums entdeckt. Der Mensch sei ja bekanntlich hilfreich und gut, nur der Besitz mache ihn in der geistigen Nachfolge Rousseaus schlecht. Also gehe es darum, das Privateigentum zurückzudrängen und an seine Stelle die göttlich gewollte Form des Gemeineigentums zu setzen, auf dass wieder Friede einkehre auf dieser Welt und der Mensch und die Wölfe sich in Lämmer verwandeln - und zwar im globalen Maßstab.

Hier entwickelt sich eine Debatte, die den Stand der Wissenschaft und Erkenntnis um rund 200 Jahre zurückwirft und mit dem moralischen Zeigefinger argumentiert, statt diesen zum Umblättern zu benutzen. Deshalb hier der Versuch, ein paar Vorurteile zu entkräften, und ein Vorschlag zu einer Weiterführung der Debatte.

Es gibt kein absolutes, unbegrenztes Eigentum

In der Gemeingüterdebatte wird einer idealisierten gemeinsamen Nutzung meist ein privater Eigentumsbegriff entgegengestellt, der mit Begriffen wie Neoklassik, Kapitalismus oder Privatisierung mehr dämonisiert als erklärt wird. Dabei kann jeder, der beispielsweise ein Reihenhaus mit Garten erwirbt, feststellen, wie begrenzt Eigentumsrechte tatsächlich sind und wie stark sie längst mit überwölbenden, gemeinwirtschaftlichen oder kollektiven Elementen verwoben sind: Es gibt kein unbegrenztes Recht am Reihenhaus; es darf beispielsweise weder für Gewerbezwecke benutzt noch umgebaut, erweitert, abgerissen oder baulich ergänzt werden. Befindet sich ein Baum im Garten, darf dieser in den allermeisten Städten nicht gefällt werden. Das Eigentumsrecht findet auch eine zeitliche Grenze: Bis 22 Uhr darf auf der Terrasse laut Musik gehört werden, danach gilt sie als unerlaubte Ruhestörung. Bis ins Kleinste geregelt sind auch der Gebrauch von Rasenmähern, die Grünbepflanzung oder die Zu- und Abfuhr von Wasser.

Das alles ist im Großen und Ganzen auch gar nicht zu kritisieren. Eigentum ist längst kein absoluter Begriff, sondern eingehegt durch eine Vielzahl von Modifikationen, die Gebrauch und Umfang detailliert regeln, weil das Eigentum mit den Ansprüchen der Nachbarn oder einer wie auch immer definierten Gemeinschaft koordiniert werden muss. Die Kunst besteht darin, eigentumsrechtliche Begrenzungen oder Arrangements zu finden. Der Wirtschaftswissenschaftler Achim Lerch zeigt sein Unverständnis für diese Tatsachen, wenn er schreibt: "Private Eigentumsrechte [stellen] im Prinzip eine besondere Form des Gemeineigentums dar. Bis heute scheint Sicherheit darüber zu bestehen, was unter 'Privateigentum' zu verstehen ist, doch bezüglich des Begriffs 'Gemeineigentum' ist nach wie vor große Konfusion zu konstatieren - begünstigt durch die häufig unscharfe Verwendung des Begriffs." Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gemeineigentum ist als staatlich kontrolliertes Eigentum leicht zu fassen, Privateigentum eine allenfalls abgeleitete und geduldete Größe.

Auch die vielfach gescholtene Privatisierung kommunaler Einrichtungen ist so schlecht nicht, wie sie Verfechter der Allmende gerne anbringen. Nehmen wir das Beispiel der kommunalen Hallenbäder. Sie wurden vielerorts ohne Nachdenken über die Folgekosten hinsichtlich Energieverbrauch, Unterhalt und Sanierung gebaut und drohen tiefe Löcher in die Stadtkassen zu reißen. Dann steht oft entweder die Schließung oder eine Privatisierung an. Wird Letztere klug ausgestaltet und zum Beispiel mit dem Recht der Kommune ergänzt, das Bad vormittags den Schulen (annähernd) kostenlos zur Verfügung zu stellen, kann das für alle Beteiligten vorteilhafter sein als die sonst unvermeidliche Schließung. Privatisierung ist eben nicht notwendigerweise die Übertragung von Gemeineigentum an "gierige Privatinvestoren" oder "böse Konzerne", sondern einfach ein Weg, um eine wirtschaftliche Nutzung zu ermöglichen. Private Eigentumsrechte sind ein wirksames Mittel, um Fortschritt zu erzeugen und Wohlfahrt hervorzubringen. Es hat keinen Sinn, pathetische Forderungen nach Daseinsvorsorge und Infrastruktur zu erheben und sich keine Gedanken darüber zu machen, wie das jeweilige Produkt, die Dienstleistung oder der Nutzenstrom eigentlich organisiert und finanziert werden sollen. Die Klärung der Frage, wer wann und wie zu welchem Preis und mit welchen Einschränkungen was darf, erfordert höchst komplexe Arrangements, welche die scheinbar klare Trennung zwischen Gemeingut und Privateigentum auflösen.

Folgerungen aus der Allmendediskussion

Von Befürwortern der Gemeingüter werden häufig die falschen Schlüsse aus dem wegweisenden Aufsatz "The Tragedy of the Commons" gezogen. Garrett Hardin hat darin 1968 gezeigt, dass unbegrenzte Weiderechte dazu führen, dass eine Gemeinschaftsfläche letztlich durch Übernutzung zerstört wird, weil es für jeden Einzelnen vorteilhaft ist, immer mehr Tiere dort weiden zu lassen. Nun sind historisierende Analysen, ob es nicht doch an dem einen oder anderen Ort und zu dem einen oder anderen Zeitpunkt beschränkende Nutzungsrechte gegeben hat, die eine Überweidung begrenzt haben, wenig hilfreich. Solche Regelungen mag es gegeben haben, und es gibt sie an vielen Orten nach wie vor. Die entscheidende Frage aber ist doch, was passiert, wenn stationäre, stabile Gemeinschaften zu schnell wachsen und die bisherigen Regeln zur Bewirtschaftung und die Erträge zur Ernährung der Vielen nicht mehr ausreichen. Die Überweidung der Allmende als Metapher für ein Gemeingut ist eine historische Tatsache, die sich bei Bevölkerungswachstum stets wiederholt hat.

Zum Beispiel drohte im 17. und 18. Jahrhundert das Gebiet des heutigen Deutschlands baumfrei zu werden, weil die Wälder zu schnell abgeholzt wurden. Die Reaktion war eine Aufforstung bei gleichzeitigem Verbot von einzelwirtschaftlichem Holzschlag und Jagd. Das hat zu sozialen Verwerfungen geführt, denn diese Maßnahmen wurden zum Ausbau und Schutz der adeligen Privilegien und derjenigen privater Waldbesitzer genutzt und führten zu anderen Ungerechtigkeiten - aber sie haben auch erst den nachhaltigen Fortbestand und die Pflege des Wald- und Wildbestandes ermöglicht und ökosoziale Katastrophen verhindert. Die Beschränkung des freien Zugangs zum Wald und das Jagdverbot haben die Aufforstung und damit die nachhaltige Nutzung erst ermöglicht. Der deutlich schlechtere Zustand des Waldes und der geringere Wildbestand in Frankreich sind auch darauf zurückzuführen, dass nach der Französischen Revolution genau diese Rechte als uneingeschränkte Bürgerrechte gewährt wurden. Es wird also durchaus richtig sein, gelegentlich eine Begrenzung der Nutzungsrechte für die Mitglieder einer Gemeinschaft durchzusetzen, um das Ökosystem aufrechtzuerhalten.

Die entscheidende Schlussfolgerung aus der Allmendediskussion lautet, dass es immer dann zu einer "Überweidung", zu einer übermäßigen Ressourcennutzung und damit zu Umweltzerstörung kommen wird, wenn Güter von jedermann beliebig, unbegrenzt und unkontrollierbar nutzbar sind. Gerade die Umweltzerstörung und die Umweltpolitik haben davon enorm profitiert. Lange galt ja saubere Luft als freies Gut, dessen Nutzung keinerlei Beschränkung unterworfen ist, und selbstverständlich ist es unvorstellbar, gleichsam eine Begrenzung des Atmens einzuführen. Aber die gewerbliche und vor allem die freie industrielle Nutzung der Luft muss begrenzt werden, wie dies zum Beispiel aktuell unter den Stichworten Klimaschutz und Kerosinabgabe diskutiert wird. Nun kann dies über Gebote und Verbote erfolgen, die den Schadstoffausstoß begrenzen oder verbieten. Es ist aber sehr schwer zu entscheiden, ob beispielsweise einem Stahlwerk, alternativ einem Kohlekraftwerk oder einer Zementfabrik der jeweilige Schadstoffausstoß erlaubt werden soll oder eben nicht - und wenn ja, in welchem Umfang und was sie gegebenenfalls dafür zu zahlen hätten. Die fortschrittlichste Lösung ist die Etablierung eines europaweit wirkenden Marktes für CO2-Zertifikate, der hier nur verkürzt beschrieben werden kann: Es wird die Gesamtmenge der erlaubten Verschmutzung festgelegt und jährlich reduziert. Die industriellen Nutzer müssen das Recht auf Schadstoffausstoß in Form von handelbaren Zertifikaten immer wieder neu erwerben. Damit werden die Kosten der Umweltverschmutzung in die Produktionskosten (und den Preis des Produkts) aufgenommen und dadurch verallgemeinert und damit die Nachfrage beschränkt; gleichzeitig besteht ein Anreiz, nach technischen Lösungen der Schadstoffvermeidung zu suchen und sie einzusetzen, um die sich ständig verteuernden Zertifikatspreise zu reduzieren oder ganz zu vermeiden. Es ist der eigentliche Nutzwert der Allmendedebatte, bislang freien Gütern in effizienter Form ein Preisschild anzuheften, um ihren Verbrauch zu reduzieren.

Demnach ist die aktuelle Gemeingutdiskussion streckenweise einfach rückwärtsgewandt, wenn etwa ein selbstverständliches Recht auf Luft und Wasser postuliert wird, ohne zu sehen, dass die massive Nutzung durch Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft diese knappen Ressourcen unwiderruflich zerstört. Es ist deshalb notwendig, dass an vermeintlich freien oder gemeinschaftlichen Gütern klare Eigentumsrechte definiert werden, um eine allgemeine Übernutzung zu verhindern und sie der effizientesten Nutzung zur Verfügung zu stellen.

Europa als Gemeingut

Nun ist es bei der Grenzziehung zwischen Privat- und Gemeineigentum entscheidend, um welche Art von Gut es sich handelt und welche Art der Ressourcennutzung diesem Charakter am besten Rechnung trägt. Es macht einen Unterschied, ob es sich um endliche oder unendlich vermehrbare (Ideen) oder begrenzt vorhandene Ressourcen (Luft, Wasser, Kohle) handelt; ob es zu einer Steigerung des Wohlstands durch gemeinsame Nutzung kommt oder ob die Nutzung exklusiv ist. Echte Gemeingüter liegen wahrscheinlich bei Software, Erfindungen und vor allem auch bei politischen Projekten und Arrangements vor. Im Folgenden soll daher beispielhaft analysiert werden, wie die Europäische Union (EU) und ihre integrative Ausgestaltung als typisches Gemeingut verstanden werden könnte und was dies im Rahmen der aktuellen, problematischen Diskussion über Europa in Deutschland bedeuten könnte. Vertiefte europäische Integration könnte für vieles, was derzeit als innenpolitisches Problem in Deutschland diskutiert wird (Ressourcenknappheit, Migration), eine Lösung sein. Europa könnte ferner einen Beitrag dazu leisten, die beginnende globale Debatte um weltweite öffentliche Güter und ihre gerechte Verteilung zu strukturieren, indem die europäische Integration als Vorbild im Sinne einer "Weltordnungspolitik" fungiert. Voraussetzung dafür wäre indes, die europäische Integration und ihre Vorbildfunktion - sowie die Werte, die mit der EU einhergehen, als da sind: good governance, rule of law, Menschenrechte, Multilateralismus - wieder als gut und verteidigungswürdig zu begreifen, vor allem auch in Deutschland.

Die Frage ist zum einen, wie die EU mit einer Politik des leading through example vorangehen kann; und zum anderen, wie sie die Durchsetzungsfähigkeit der eigenen Politikziele verbessern kann. Dazu müsste sie die Instrumente und ihre Integration verbessern. Doch genau dies geschieht zurzeit nicht. Europa bzw. die europäische Integration ist ein öffentliches, dazu noch ein abstraktes öffentliches Gut, ähnlich wie Freiheit oder Demokratie. Für alle drei gilt: Sie sind leicht verspielt, aber schwierig zurückzugewinnen - der Verlust ist erst spürbar, wenn sie verschwunden sind. Ebenso gilt für alle drei, dass sie nicht halb zu haben sind. Um den Erhalt dieser öffentlichen Güter, die stets und täglich in der Meinungsbildung neu verteidigt werden müssen, ist es derzeit zumindest partiell schlecht bestellt: Das Vertrauen der Deutschen in die EU ist Meinungsumfragen zufolge so gering wie nie. Dazu kommt, dass öffentliche Güter meistens (umsonst) vom Staat zur Verfügung gestellt werden, wobei alle davon profitieren, aber niemand jenseits der normalen Steuerleistungen dafür "bezahlen" will. Dies gilt auch für die europäische Integration: Von "Gütern" wie Frieden oder einem Binnenmarkt möchten alle gerne profitieren - aber niemand möchte einen privaten Anteil dazu leisten oder gar dafür einen individuellen Preis bezahlen, der im Übrigen auch nicht so leicht zu berechnen wäre.

Was Europa anbelangt, so können die Vorteile der europäischen Integration, sofern sie sich auf den Binnenmarkt, die Handelsvorteile oder die gemeinsame Währung beziehen, durch ökonometrische Simulationen noch grosso modo berechnet werden, und die Vorteile Europas etwa für den deutschen Handel können in konkreten Zahlen ausgedrückt werden. Alle weiteren Integrationsvorteile bleiben jedoch abstrakt. Im Bereich der Außen- und Europapolitik gewinnt die Allgemeinheit durch die Bereitstellung des "öffentlichen Gutes Europa" zum Beispiel Frieden, Stabilität und sichere Grenzen oder gute nachbarschaftliche Beziehungen. Davon profitieren alle, die Bürgerinnen und Bürger eines Landes (etwa durch Reisemöglichkeiten), aber eben auch die Industrie (durch offene Handelswege oder den Wegfall von Währungsbarrieren). Dennoch käme es Letzterer nicht in den Sinn, allgemein für die Vorteile der europäischen Integration - also die "Bereitstellung" von Frieden, Stabilität, offenen Grenzen oder guten deutsch-französischen Beziehungen - etwas zu "bezahlen".

Dies ist einer der Gründe für die aktuelle Schieflage der europapolitischen Diskussion: Während allerorten über die (vermeintlich) sehr hohen Kosten für "Europa" diskutiert wird - vor allem mit Blick auf die Euro-Krise und den Rettungsschirm für Griechenland -, sind die Vorteile des "öffentlichen Gutes Europa" schwer fassbar und noch schwerer zu kalkulieren. Und doch wären die Kosten für "Nicht-Europa" (also gegebenenfalls der Wegfall des Binnenmarktes, die Schließung der Grenzen, Instabilität innerhalb Europas und an seinen Grenzen) zweifelsohne groß, sowohl für die Bürgerinnen und Bürger in allen europäischen Mitglied- und Nachbarstaaten als eben auch für die europäische Industrie.

Die Diskussion über das "Gemeingut Europa" sollte vor diesem Hintergrund auf eine andere Grundlage gestellt werden. Es muss in der öffentlichen Diskussion wieder gelingen, Europa für jede Bürgerin und jeden Bürger als Wert zu begreifen, den es zu verteidigen gilt. Dieser - zugleich alte wie neue - Begründungsnarrativ kann nur darin liegen, Europa und die europäische Integration nicht als Altruismus zu begreifen, sondern die Bereitstellung des "öffentlichen Gutes Europa" als ureigenstes Interesse aller europäischen Nationen und Bürger zu sehen, das zur Behauptung in der Welt notwendig ist - und ohne das die ökonomischen Ressourcen Deutschlands, aber auch die aller anderer Mitgliedstaaten - rasch erodieren würden. Kurz: Ohne vertiefte Integration und eine einheitliche europäische Außenpolitik dürften auch der Binnenmarkt und die gemeinsame Währung auf Dauer nicht haltbar sein.

Globale Ordnungspolitik und Global Common Goods

Europa steht vor schwierigen Aufgaben: Erstens muss es sich auf die Welt im 21. Jahrhundert einstellen, in der sich die Macht- und Kräfteverhältnisse deutlich zugunsten Asiens und anderer aufstrebender Staaten verschieben. Der "Westen" und seine Institutionen (das Bretton-Woods-System, die NATO) haben ihre Vormachtstellung im globalen System eingebüßt und stellen nicht mehr unbedingt die Mehrheit für normative globale Rechtsetzung. Zweitens ist Europa demographisch, aber auch wirtschaftspolitisch zunehmend marginalisiert und leidet unter einer akuten Schuldenkrise. Drittens wird die weltweit ungleiche Wohlstandsverteilung insgesamt zu einem immer massiveren Problem. Dieser Wandel betrifft heute jedoch alle großen internationalen Akteure und Mächte. Europa ist indes besonders betroffen, denn es hat noch keine außenpolitische Identität und Handlungsfähigkeit.

Vor diesem Hintergrund sollte die EU zur Verwaltung der weltweiten öffentlichen Güter eine "globale Ordnungspolitik" anstreben. Zwar sind die Rivalitäten zwischen den großen Mächten heute nicht mehr mit territorialen Eroberungsabsichten verbunden, wohl aber mit der Frage um die Verteilung der globalen öffentlichen Güter. In allen globalen Politikbereichen, zum Beispiel der Klimapolitik, geht es de facto um Wohlstandsverteilung (wer zahlt den Preis für Umweltschutz und Nachhaltigkeit?), die das Metathema des 21. Jahrhunderts sein wird. Die Definition weltweiter öffentlicher Güter ist zur Behandlung dieses Themenkomplexes zentral. Es muss daher das oberste Ziel einer europäischen Außenpolitik sein, an der Ausbildung globaler Ordnungsmacht im Rahmen der Vereinten Nationen mitzuwirken.

Wenn zukünftig von einer wirtschaftlich und gesellschaftlich immer stärker vernetzten Staatenwelt auszugehen ist (die sich allein technisch gesehen als "Weltnetzwerk" begreift: durch Transportnetze, Cybernetze, Infrastrukturnetze und alle möglichen Formen von smart grids), die unterschiedliche, sich überlappende Gravitationsfelder aufweist, in denen Entscheidungen von "Mächten" ohnehin nicht einseitig exekutiert werden können, dann könnte sich die bestehende multi-level-governance und institutionell verflochtene Ordnungsstruktur der EU als entscheidender Vorteil auf dem Weg zu globaler Ordnung und Integration erweisen. Das öffentliche Gut der europäischen Integration wäre gerade darum erhaltenswert.

Bedingungen europäischer Außenpolitik

Die Formulierung einer gemeinsamen EU-Außenpolitik wird von zwei Trends erschwert: zum einen von der "Präsidialisierung" des europäischen und globalen Systems durch "Gipfelpolitik" (G8, G20), die sich nicht nur - da im Wesentlichen exekutiv angelegt - einer parlamentarischen Kontrolle entzieht, sondern auch die Rolle der Außenminister entwertet; zum anderen durch eine Art "NGOisierung" von Außenpolitik, die durch zivilgesellschaftliche Internetplattformen oder Nichtregierungsorganisationen den Nationalstaat als alleinigen Akteur in Frage stellt. Beide Entwicklungen treiben die EU als Akteur von Außenpolitik auseinander.

In diesem Zusammenhang ist auf die generelle Verschiebung von Geostrategie zu Geoökonomie zu verweisen. Die relativ kurze historische Periode konzentrierterer staatlicher Gewalt und Macht von 1949 bis 1989 ist vorbei, und sie war überdies eher Ausnahme als Norm der Geschichte, ursächlich erst ermöglicht durch die heißen und kalten Kriege des 20. Jahrhunderts. Während die heutige Staatenwelt in ihrem Gefüge also eher den Gegebenheiten der Welt vor 1914 entspricht, zwingt die internationale Vernetzung immer mehr zu einer internationalen Ordnungspolitik, für die die EU zumindest theoretisch bestens gerüstet scheint. Die entscheidende Frage wird sein, ob die EU daraus Kapital im Sinne einer globalen Führungsrolle für internationale Ordnungspolitik und damit zum Schutz globaler öffentlicher Güter schlagen kann.

Daraus ergibt sich die Frage, was Außenpolitik heute überhaupt noch bedeutet, bzw. ob sie zur reinen Handelspolitik mutiert und wer Außenpolitik macht, nämlich nicht nur die Staaten. Die heutigen Wirtschaftsströme können vielleicht am besten mit dem Merkantilismus des 17. und 18. Jahrhunderts verglichen werden: Die russische Firma Gazprom wäre demnach die neue Hanse, und die chinesische Sinopec oder der Qatar Wealth Fund wären die neuen Ostindischen Handelsgesellschaften, welche die Kolonialisierung des 20. Jahrhunderts hervorgebracht haben.

Diese Unternehmen sind indes keine staatlichen, sondern oligarchische, von Eliten gesteuerte Gesellschaften, wie eben jene, die den britischen, französischen oder niederländischen Kolonialismus oder Imperialismus gesteuert haben, was aber auch dazu führt, dass der wirtschaftliche Erfolg nicht kollektiv politisch operationalisiert (und einer breiten Zivilgesellschaft zugeführt und dienstbar gemacht) werden kann. Für die Verteilung globaler öffentlicher Güter ist genau dies ein wachsendes Problem, das nur im Rahmen einer Weltordnungspolitik gelöst werden könnte, wobei die EU eine entscheidende Rolle spielen müsste. Wenn zum Beispiel große Nahrungsmittelkonzerne fruchtbare Landstriche in Afrika okkupieren (land grapping), weil das öffentliche Gut von Sicherheit und Eigentumsrechten dort nicht gewährt wird, dann fließt der Gewinn eines solchen Vorgehens eben nicht in öffentliche Kassen und kann in dem Land nicht gleichmäßig verteilt werden. Wenn die EU einen Teil solcher öffentlichen Sicherheit durch gute Außenpolitik herstellen könnte, müsste sie etwa gewährleisten, dass derartiges Vorgehen unterbunden wird. Das Primat der Politik müsste sich international kodifiziert so durchsetzen, dass staatliche Akteure in einer organisierten Staatenwelt die privaten Akteure in ihre Schranken weisen können. Auch dies wäre die Verteidigung globaler öffentlicher Güter mit dem Instrument der europäischen Integration, die sich für eine Weltordnungspolitik einsetzt.

Schlussbemerkung

Die Frage ist also: Wie können neue Konzepte ausgebaut und kohärent gemacht, auf moderne, globale und internationale Politikziele der EU zugeschnitten und gleichzeitig international relevant gemacht und durchgesetzt werden? Und wie kann dabei berücksichtigt werden, dass Staaten längst nicht mehr die einzigen - und vielleicht auch nicht mehr die wichtigsten - außen- und entwicklungspolitischen Akteure sind?

Im ersten Teil dieses Beitrags sollte klar geworden sein, dass die freie Nutzung von öffentlichen Gütern häufig zu ökosozialen Verwerfungen führt. Diese sind im nationalen Rahmen bisher durch staatliche Regulierung und Rechtsetzung aufgelöst worden, auch wenn dies immer zu großen politischen Diskussionen geführt hat, zum Beispiel in der Energie- und in der Umweltpolitik. Denn es ist die Politik, die letztlich durch Rechtsetzung die Arbitrage-Entscheidung zwischen Privateigentum und öffentlichen Gütern vornehmen muss und über die bestmögliche kollektive Nutzung der Letzteren entscheidet. Diese Diskussion gehört in den Raum öffentlicher Debatten.

Im zweiten Teil - und dies ist die Herausforderung für das 21. Jahrhundert - haben wir deutlich zu machen versucht, dass dies zunehmend eine global geführte Diskussion werden muss, denn das Metathema der internationalen Politik wird die Frage der weltweit gerechten Wohlstandsverteilung sein. Diese Debatte sollte international im Sinne einer Weltordnungspolitik organisiert werden, wobei der EU als integrative Macht mit großer Erfahrung in multilateraler Rechtsetzung eine große Rolle zukommen kann und sollte. Voraussetzung dafür ist indes allem voran, dass die EU bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern selbst wieder als schützenswertes Gut angesehen wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Zitat geht weiter: "Wieviel Laster, wieviel Krieg, wieviel Mord, Elend und Greuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: 'Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört.'" Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1754), zit. nach: ders., Schriften. Bd. 1, Frankfurt/M. 1995, S. 230.

  2. Achim Lerch, Die Tragödie der "Tragedy of the Commons", in: Silke Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, München-Berlin 2009, S. 85-95, hier: S. 87.

  3. Vgl. Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons, in: Science, 162 (1968) 3859, S. 1243-1248.

  4. Vgl. Thomas Petersen, Allensbach-Umfrage. Gemeinsames Interesse an Europa in Gefahr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.1.2011.

  5. Vgl. Wolfgang Wessels/Udo Diedrichs (Hrsg.), Die neue Europäische Union: im vitalen Interesse Deutschlands? Studie zu Kosten und Nutzen der Europäischen Union für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin, Januar 2006.

  6. Vgl. Parag Khanna, How to Run the World?, New York 2011.

Geb. 1955; Chefredakteur der "Wirtschaftswoche", Kasernenstraße 67, 40213 Düsseldorf. E-Mail Link: roland.tichy@wiwo.de

Dr. phil., geb. 1964; Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations, Reinhardtstraße 19, 10117 Berlin. E-Mail Link: ulrike.guerot@ecfr.eu