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Homo neurobiologicus - ein neues Menschenbild? | Hirnforschung | bpb.de

Hirnforschung Editorial Die Illusion des freien Willens - Essay Homo neurobiologicus - ein neues Menschenbild? Eine sehr kurze Geschichte der modernen Hirnforschung Neuromarketing und Neuroökonomie Plastizität und Regeneration des Gehirns Demokratie und die Macht der Gefühle

Homo neurobiologicus - ein neues Menschenbild?

Gerhard Roth

/ 16 Minuten zu lesen

Jüngste Erkenntnisse der Hirnforschung haben große Bedeutung für das herrschende Menschenbild, das gekennzeichnet ist durch einen Geist-Gehirn-Dualismus und einen "frei" wirkenden Willen.

Einleitung

Kaum etwas hat in den vergangenen Jahren den Diskurs zwischen den Wissenschaften und den Medien so sehr bestimmt wie das Vordringen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und Konzepte in Themenbereiche, die bisher Theologen, Philosophen, Geistes- und Sozialwissenschaftlern vorbehalten waren, etwa die Frage nach der Willensfreiheit, dem Wesen von Geist und Bewusstsein, der Persönlichkeit und ihrer Veränderbarkeit, Glück und Zufriedenheit bis hin zum Glauben an Gott und einem Leben nach dem Tod.



Während die einen das Ende abendländischen Denkens befürchten, sehen andere den Vormarsch der Neurowissenschaften als eine Modeerscheinung an, die bald wieder vergehen wird. Ist tatsächlich der "Homo neurobiologicus" das neue Leitbild? Im Folgenden möchte ich anhand dreier Themenbereiche, die wesentlich unser Menschenbild bestimmten, diese Frage in der gebotenen Kürze zu beantworten versuchen.

Die naturalistische Sicht von Geist und Bewusstsein

Die Frage nach dem Wesen und der Funktion von Geist und Bewusstsein beschäftigt die Menschen, seit es Philosophie und Wissenschaften gibt. Traditionell werden Geist und Bewusstsein als etwas angesehen, das sich von den Geschehnissen der materiell-physikalischen Welt wesensmäßig unterscheidet ("ontologischer Dualismus"); danach entzieht sich Bewusstsein grundsätzlich der Erklärung durch die empirischen Wissenschaften. Für andere werden Bewusstseinszustände unmittelbar von bestimmten Hirnprozessen hervorgebracht und lassen sich auf diese vollständig reduzieren ("neurobiologischer Reduktionismus"). Für wieder andere entspringt Bewusstsein zwar den Hirnfunktionen, ist jedoch nicht oder nicht vollständig auf sie zurückführbar ("Emergentismus"). Insbesondere das private Erleben von Bewusstsein ("phänomenales Bewusstsein") wird als unüberwindliches Hindernis für eine naturwissenschaftliche Erklärung angesehen. Man spricht hier von einer "fundamentalen Erklärungslücke".

Resultate der empirischen Bewusstseinsforschung. Bewusstsein tritt beim Menschen in einer Vielzahl von Zuständen auf: a) als Sinneswahrnehmungen von Vorgängen in der Umwelt und im eigenen Körper; b) als mentale Zustände wie Denken, Vorstellen und Erinnern; c) als Selbst-Reflexion; d) als Emotionen, Affekte, Bedürfniszustände; e) als Erleben der eigenen Identität und Kontinuität; f) als "Meinigkeit" des eigenen Körpers; g) als Autorschaft und Kontrolle der eigenen Gedanken und Handlungen; h) als Verortung des Selbst und des Körpers in Raum und Zeit; i) als Realität des Erlebten, als Unterscheidung von Realität und Vorstellung. Die unter e) bis i) genannten Zustände bilden zusammen ein "Hintergrund-Bewusstsein", vor dem die unter a) bis d) genannten spezielleren Bewusstseinszustände mit wechselnden Inhalten, Intensitäten und Kombinationen auftreten.

Alle einschlägigen Untersuchungen zeigen, dass bestimmte Bewusstseinszustände, von einfachen Wahrnehmungen bis hin zu Zuständen des Wissens oder Glaubens, und bestimmte Hirnvorgänge untrennbar miteinander verbunden sind. Ebenso lässt sich mit Hilfe der Kombination der Elektroenzephalographie (EEG) oder der Magnetenzephalographie (MEG) mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI) nachweisen, dass allen Bewusstseinszuständen unbewusste Prozesse zeitlich (200 Millisekunden oder länger) in systematischer Weise vorhergehen. Man kann entsprechend in vielen Fällen nicht nur verlässlich von bestimmten Hirndefiziten auf bestimmte Bewusstseinsstörungen schließen und umgekehrt, sondern auch bei Variation der Reizdarbietung und der Beeinflussung spezifischer neuronaler Mechanismen das Auftreten von bestimmten Bewusstseinszuständen gut vorhersagen.

Die verschiedenen Inhalte von Bewusstsein können nach Schädigungen bestimmter Gehirnteile, insbesondere der Großhirnrinde, mehr oder weniger unabhängig voneinander ausfallen. So gibt es Patienten, die völlig normale geistige Leistungen vollbringen, jedoch glauben, dass der sie umgebende Körper nicht der ihre ist bzw. bestimmte Körperteile nicht zu ihnen gehören. Andere wiederum besitzen bei sonst intakten Bewusstseinsfunktionen keine autobiographische Identität mehr. Dies deutet auf eine modulare, d.h. funktional getrennte Organisation der Bewusstseinsinhalte hin.

Bewusstseinsrelevante Hirnstrukturen. Dieser Modularität entspricht, dass am Entstehen von Bewusstsein stets viele, über das ganze Gehirn verteilte Zentren mitwirken; es gibt kein "oberstes" Bewusstseinszentrum. Allerdings können Geschehnisse nur dann bewusst werden, wenn sie von Aktivitäten der assoziativen Großhirnrinde (Kortex) begleitet sind, und zwar im hinteren und unteren Scheitellappen (parietaler Kortex), im mittleren und unteren Schläfenlappen (temporaler Kortex) und im Stirnlappen (präfrontaler Kortex). Alles, was nicht in der assoziativen Großhirnrinde abläuft, ist uns nach gegenwärtigem Wissen grundsätzlich nicht bewusst.

Bewusstsein ist aus neurobiologisch-psychologischer Sicht ein besonderer Zustand der Informationsverarbeitung, der dann eintritt, wenn das Gehirn neue, wichtige und meist detailreiche Informationen verarbeiten muss. Während der Bewusstseinszustände finden entsprechend Umstrukturierungen vorhandener kortikaler neuronaler Netzwerke aufgrund von Sinnesreizen und Gedächtnisinhalten statt, und zwar durch eine schnelle Veränderung der Kopplungen (Synapsen) zwischen Neuronen. Hierbei spielen die so genannten Neuromodulatoren Serotonin, Dopamin, Noradrenalin und Acetylcholin eine wichtige Rolle, die über das so genannte limbische System Emotionen, Motivation und Bedeutungen vermitteln. Derartige schnelle Umverknüpfungsprozesse sind stoffwechselintensiv und führen im Kortex zu einem überdurchschnittlichen Verbrauch an Zucker und Sauerstoff, was wiederum den lokalen kortikalen Blutfluss erhöht. Dies macht man sich bei bildgebenden Verfahren wie fMRI zunutze.

Eine wichtige Rolle beim Bewusstwerden von Wahrnehmungsinhalten scheint die simultane oder sequenzielle Aktivierung kortikaler Areale zu sein, und zwar durch eine Kombination aufsteigender und absteigender, d.h. rückkoppelnder Verbindungen zwischen primären und assoziativen Kortexarealen. Entsprechend bleiben sensorische Erregungen unbewusst, wenn sie ausschließlich aufsteigende Verbindungen aktivieren und nicht zu Rückwirkungen assoziativer Areale auf primäre Areale führen. Die Interpretation dieser Befunde lautet: Sinnesreize werden zuerst unbewusst im primären sensorische Kortex nach ihren Details "vorsortiert". Diese Informationen werden zu assoziativen Arealen weitergeleitet und dort unter Zuhilfenahme von Gedächtnisinhalten interpretiert. Diese Interpretation wird zum primären sensorischen Kortex zurückgeleitet, und hierdurch werden die Wahrnehmungsdetails sinnvoll gruppiert.

Zusammengefasst lässt sich heute experimentell nachweisen, mit welchen neuronalen Strukturen und Prozessen das Entstehen von Bewusstsein und auch die Inhalte dieser Zustände verbunden sind, seien sie perzeptiver, kognitiver oder emotional-psychischer Art. Am eindrucksvollsten ist dies zweifellos bei optischen Täuschungen, wo man zeigen kann, dass bestimmte Neurone des visuellen Kortex diesen Täuschungen genauso "unterliegen" wie die subjektive Wahrnehmung, während dies für Neurone außerhalb des Kortex nicht zutrifft - sie reagieren "noch" auf die physikalischen Eigenschaften der Reize. Dies bedeutet, dass bestimmte neuronale Ereignisse einerseits und Erlebniszustände andererseits "zwei Seiten einer Medaille" sind, die unterschiedlich wahrgenommen werden, nämlich einmal aus Sicht des Experimentators und zum anderen aus der Perspektive des Selbsterlebens. Auch das Selbsterleben ist eine Eigenschaft kortikaler neuronaler Netzwerke, aber als solche ist sie von der Außenperspektive verschieden und lässt sich deshalb auch nicht auf sie reduzieren.

Das bewusste Ich

Wer oder was ist das Ich? Auch dies hat seit Jahrtausenden die klügsten Menschen beschäftigt. Ich kann Namen, Beruf, Adresse und Familienverhältnisse angeben, und dies beschreibt meine äußere Identität. Die innere Identität wird mir durch die eigentümliche Gewissheit "ich bin ich!" vermittelt. Dazu gehört die Aussage: "Dies ist mein Körper, dies sind meine Gedanken, Vorstellungen und Absichten." Das Ich scheint also Träger dieser Inhalte zu sein. Aber jeder Versuch, durch Introspektion herauszubekommen, wer oder was dieses Ich darüber hinaus ist, verläuft im Sande. Dies hat den Philosophen David Hume (1711 - 1776) zu der Ansicht gebracht, dass das Ich nur ein Bündel besonderer Bewusstseinszustände ist, die nacheinander erlebt und in diesem Erleben integriert werden.

Das Gehirn und seine Ich-Zustände. Die Sicht Humes scheint sich zu bestätigen, wenn man psychologisch oder neurowissenschaftlich die Ich-Zustände untersucht: Wir sind offenbar ein Bündel von unterschiedlichen Ich-Zuständen, die mit unterschiedlichen Regionen der Großhirnrinde in Verbindung gebracht werden können. Als erstes ist das Körper-Ich zu nennen, d.h. das Gefühl, dass dasjenige, in dem ich "stecke" und das ich zu beherrschen scheine, mein Körper ist. Eng damit verbunden sind das Verortungs-Ich, d.h. das Bewusstsein, dass ich mich gerade an diesem Ort und nicht woanders befinde, sowie das perspektivische Ich, d.h. der Eindruck, dass ich der Mittelpunkt der von mir erfahrbaren Welt bin. Alle diese Ich-Empfindungen haben mit Funktionen des Scheitellappens zu tun. Hier entstehen während der Entwicklung des Gehirns das Körperschema und die Raum- und Handlungswelt, in die der Körper "hineingestellt" wird, und schließlich gesellt sich zum Körper das Ich, das dadurch zugleich zum Mittelpunkt der Raum- und Handlungswelt wird.

Ein anderer Typ ist das Erlebnis-Ich, d.h. das Gefühl, ich habe diese Wahrnehmungen, Ideen, Gefühle und nicht etwa ein anderer. Damit verwandt sind das Autorschafts- und Kontroll-Ich, d.h. das Gefühl, dass ich Verursacher und Kontrolleur meiner Gedanken und Handlungen bin, und das autobiographische Ich, d.h. das Gefühl der Kontinuität in meinen verschiedenen Empfindungen. Das Erlebnis-Ich ist vornehmlich eine Funktion des Schläfenlappens und des Übergangs zum Scheitellappen, wo Sehen, Hören und Fühlen zusammenkommen. Das Autorschafts-Ich ist gebunden an die Tätigkeit motorischer Kortexareale in Zusammenarbeit mit Scheitellappen und präfrontalem Kortex. Das autobiographische Ich hat mit einer Region am vorderen Rand des Schläfenlappens und im Bereich des unteren Stirnhirns (orbitofrontaler Kortex) zu tun. Schließlich gibt es das selbstreflexive Ich, d.h. das Nachdenken über sich selbst, das sprachliche Selbst und das ethische Ich oder Gewissen, also eine Instanz, die mir sagt oder befiehlt, was ich zu tun und zu lassen habe. Das erstere hat mit Funktionen des präfrontalen Kortex zu tun, das sprachliche Ich mit dem Wernicke- und dem Broca-Sprachzentrum. Das ethische Ich schließlich ist vornehmlich eine Funktion des orbitofrontalen Kortex; Patienten mit Schädigungen in diesem Bereich verhalten sich typisch "unmoralisch" bzw. "unethisch".

Welche Funktionen hat das Ich? Traditionell wird das Ich als oberste Kontrollinstanz von Denken, Planen und Handeln angesehen. Allerdings gab es daran schon immer Zweifel, denn häufig erfahren wir, dass unsere Wünsche und Handlungen in andere Richtungen gehen als beabsichtigt und dass uns Gefühle überwältigen. Das würde die von einigen zeitgenössischen Philosophen vertretene Meinung unterstützen, dass das Ich eine wirkungslose Instanz ist, eine bloße Illusion. Dagegen spricht aber die Tatsache, dass Patienten mit schweren Ich-Störungen zugleich massive Verhaltensstörungen aufweisen.

Welche Funktion könnte das Ich tatsächlich haben? Eine erste Funktion erfüllt es als Zuschreibungs-Ich: Das Gehirn entwickelt eine von Bewusstsein begleitete Instanz, über die es zu einer Erlebniseinheit wird, und damit kommt es zur Ausbildung von Identität. Offenbar ist es von großem Vorteil, in die vom Gehirn konstruierte Erlebniswelt eine Instanz hineinzusetzen, die von sich meint, die unterschiedlichen Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen und Gefühle seien ihre Zustände. Dies dürfte die wichtige Unterscheidung der eigenen mentalen Zustände von denen anderer und damit die Unterstellung einer Erlebniswelt bei anderen Menschen (Theory of Mind) überhaupt erst ermöglichen.

Die zweite Funktion besteht im Handlungs- und Willens-Ich. Hier geht es um die Schaffung einer Instanz, die es ermöglicht, den Willen auf eine Handlungsabsicht zu "fokussieren", ohne sich um Ausführungsdetails zu kümmern. Eine bewusste Repräsentation der vielen Untersysteme, die an der Kontrolle und dem letztendlichen Auslösen einer Handlung beteiligt sind, würde eine effektive Handlungssteuerung unmöglich machen. Eine dritte Funktion besteht im Interpretations- und Legitimations-Ich. Das bewusste, sprachliche Ich hat die Aufgabe, die eigenen Handlungen vor sich selbst und vor der sozialen Umwelt zu einer plausiblen Einheit zusammenzufügen und zu rechtfertigen, und zwar unabhängig davon, ob die gelieferten Erklärungen auch den Tatsachen entsprechen.

Willensfreiheit - gibt es so etwas?

Das bewusste Ich ist als Erlebniszustand also keineswegs eine Illusion. Das Illusionäre an ihm besteht vielmehr in der Vorstellung, es sei "Herr im Hause". Dies stellt die traditionelle Sicht von "Willensfreiheit" in Frage, nach der das Ich bei so genannten willentlichen Entscheidungen das letzte Wort hat. Natürlich bestreitet kein Vertreter dieser Sicht, dass es bei Entscheidungen Motive gibt, die uns in eine bestimmte Richtung drängen, aber wir haben die Möglichkeit, aus geistiger Kraft heraus solche Antriebe zu überstimmen und unserem Handeln eine andere Richtung zu geben. Dieses Konzept liegt auch dem deutschen und kontinentaleuropäischen Strafrecht und seinem Schuldbegriff zugrunde. Sofern der Täter wusste, was er tat, und in der Lage war, seine Handlungen zu steuern, hatte er die Möglichkeit, aufgrund dieses freien Willens der Versuchung zur Tat zu widerstehen. Dass er dies nicht getan hat, begründet seine strafrechtliche Schuld.

Aus neurobiologisch-psychologischer ebenso wie aus philosophischer Sicht hat dieser Begriff von Willensfreiheit erhebliche und in der Strafrechtstheorie seit langem bekannte Schwächen. Erstens unterstellt er, dass Willensfreiheit zwar kausal das Handeln steuert, seinerseits aber nicht kausal determiniert wird, sondern "frei" ist. Es ist bisher keinem Vertreter dieser Sicht gelungen, plausibel zu machen, wie so etwas funktionieren soll. Entsprechend wird "Willensfreiheit" als metaphysische Entität angesehen, die sich der Sicht der Naturwissenschaften entzieht. Zweitens kann man leicht nachweisen, dass eine Person, die der Neigung bzw. Versuchung zu einer bestimmten rechtswidrigen Tat widersteht, dies nur dann tun kann, wenn ein noch stärkeres Motiv sein Handeln bestimmt, z.B. die Angst vor dem Entdecktwerden.

Neurobiologie und Handlungspsychologie gehen von einem Motiv-Determinismus aus: Unser Handeln wird davon bestimmt, welches unter den gerade herrschenden Motiven sich durchsetzt. Diese Motive mögen "angeboren" sein, aus frühkindlichen oder sonstigen Erfahrungen oder aus der gerade vorliegenden Bedürfnislage resultieren. Sie können unbewusst, als Gefühle oder als rationale Erwägungen auftreten. Sie werden in ganz unterschiedlichen Bereichen unseres Gehirns, im überwiegend unbewusst arbeitenden limbischen System bzw. in der bewusstseinsfähigen Großhirnrinde verarbeitet und dann im Handlungssteuerungssystem zusammengebracht, das seinerseits bewusste und unbewusste Anteile hat. In den so genannten Basalganglien wird unmittelbar vor einer Handlung auf unbewusste Art der "Schlussstrich" gezogen, den wir gegebenenfalls, aber nicht immer, als Willensruck erleben.

Es ist also nicht notwendig so, dass das Gehirn "schon längst entschieden hat", ehe das bewusste Ich davon erfährt. Dies ist nur bei automatisierten oder hoch emotionalen Entscheidungen der Fall, und hier erleben wir zuweilen drastisch, dass irgendetwas "in uns" ist, das entscheidet und wogegen wir machtlos sind. Bei komplexen Entscheidungen hingegen kommt dem bewussten Ich eine bedeutende Rolle zu, nämlich als "Bühne" des Abwägens von Handlungsalternativen und ihrer jeweiligen Konsequenzen. Ob und in welcher Weise wir diesen bewussten Abwägungen folgen, hängt wiederum von der Motivlage ab, und manchmal rät der Verstand, etwas zu tun - allein, wir tun dann doch etwas anderes und wundern uns. Der Motiv-Determinismus unseres Willens ist letztlich darin begründet, dass wir unseren Willen nicht selbst wollen können, er formt sich ohne unser Zutun.

Woher kommt dann aber das Gefühl, aus freiem Willen heraus zu handeln? Das unabweisbare Gefühl der "freien Willensentscheidung" haben wir, wenn wir keinem äußeren oder inneren Zwang unterliegen und die realistische Möglichkeit haben, eine bestimmte Sache tun oder auch lassen zu können. Ich möchte jetzt Kaffee trinken, eine Tasse Kaffee steht vor mir, und in einem bestimmten Moment greife ich nach der Tasse. Ich könnte die Bewegung früher oder später ausführen oder sie auch ganz sein lassen. Ich tue genau davon eines, und ich bin dabei frei in dem Sinne, dass es nur von mir und von niemandem sonst abhängt, was ich tue. Selbstverständlich werde ich dabei immer auch von unbewussten Motiven bestimmt, aber es sind Motive, die aus meiner Lebenserfahrung stammen, und solche, die durch Gegenmotive "überstimmt" werden können. Willensfreiheit in diesem Sinne drückt sich meist darin aus, dass wir eine bestimmte Sache "gern" tun - wir stehen dahinter, hätten aber auch anders handeln können, wenn wir nur anders gewollt hätten. Wir haben aber nicht anders gewollt, und so haben wir das eine getan und nicht etwas anderes.

Wir sehen also, dass Determiniertheit durch Motive und Willensfreiheit keine Gegensätze sind, sondern das eine sich aus dem anderen ergibt. Ein "unbedingter" Wille ist nutzlos, und sein Wirken wäre von Zufall nicht zu unterscheiden.

Anlage, Gehirn und Umwelt

Ein drittes Herzstück unseres herkömmlichen Menschenbildes ist die Frage, ob menschliches Handeln hauptsächlich von "angeborenen Faktoren" (Genen) bestimmt ist oder von Lernen, Erziehung und damit von Umwelteinflüssen. Lange Zeit haben sich unterschiedliche Sichtweisen abgewechselt. Seit den 1970er Jahren herrscht bei uns unter dem Einfluss der behavioristischen Psychologie ein Erziehungsoptimismus vor, der nur langsam schwindet. Eine Anlage-Umwelt-Dichotomie erweist sich aber als falsch; vielmehr arbeiten Gene und Umwelt in einer komplizierten Weise zusammen, und der Ort dieses Zusammenwirkens ist das Gehirn.

Dies ergibt sich unter anderem aus der Erkenntnis, dass es nicht einzelne Gene sind, die ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Persönlichkeitseigenschaft bestimmen, sondern dass viele Gene beteiligt sind, und dies meist indirekt, über komplexe Hirnentwicklungsprozesse, die je nach Umwelteinflüssen in unterschiedlicher Weise verhaltensrelevant werden können. Dabei sind genetische Varianten, Gen-Polymorphismen, besonders interessant. Diese zeigen für sich genommen bei ihren Trägern keine auffallende Wirkung, sondern nur in Kombination mit nichtgenetischen Faktoren. Ebenso hat sich der seit langem hartnäckig behauptete wie bestrittene Einfluss frühkindlicher Erfahrung bestätigt, besonders in Form psychischer Traumatisierung infolge Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellen Missbrauchs. Dieser Einfluss lässt sich auch neurobiologisch anhand von Defiziten im Stressverarbeitungssystem nachweisen.

Aus heutiger Sicht sind es vier Faktoren, die unsere Persönlichkeit und unser Handeln bestimmen, nämlich 1) genetische Prädispositionen, 2) Eigenheiten der Hirnentwicklung, 3) frühe psychische Prägungen, insbesondere im Rahmen der Bindungserfahrung, und 4) weitere psychosoziale Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Zwischen diesen Hauptfaktoren besteht eine sich verstärkende oder schwächende Interaktion, wie insbesondere Studien zur Genese gewalttätigen Verhaltens und psychischer Erkrankungen zeigen. In solchen Studien findet man an Hauptfaktoren neben dem Geschlecht (meist männlich) und dem Alter (meist Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 25) bestimmte genetische Prädispositionen, vorgeburtliche, geburtliche oder nachgeburtliche Hirnschädigungen und einen niedrigen Serotoninspiegel. An psychologischen und sozialpsychologischen Hauptfaktoren findet man traumatisierende psychische Belastungen in der Kindheit und Erfahrung von Gewaltausübung in der eigenen Familie und im engeren Lebensbereich.

Bei den genetischen Faktoren handelt es sich nicht etwa um "Verbrechergene", sondern um die bereits erwähnten Gen-Polymorphismen. Im Zusammenhang mit erhöhter Neigung zu Gewalt betreffen diese fast immer den Auf- und Abbau des Neurotransmitters Serotonin. Der Neurotransmitter bzw. -modulator Serotonin wirkt beruhigend und besänftigend; er liefert der Psyche die Botschaft: "Nichts und niemand bedroht dich!" Entsprechend führt ein abnorm niedriger Serotoninspiegel bei vielen Personen zu einem ständigen Gefühl großer innerer Unruhe und des Bedrohtseins. Dies äußert sich bei Mädchen und Frauen häufig in einer starken Tendenz zur Selbstverletzung, bei Jungen und Männern hingegen häufig in gewalttätigem Verhalten, das als "reaktiv" bezeichnet wird, da es aus einem Gefühl des Bedrohtseins resultiert.

Wichtig ist, dass ein genetisch bedingter, niedriger Serotoninspiegel durch starke negative Umwelteinflüsse weiter gesenkt werden kann. Diese wirken nicht automatisch traumatisierend, sondern hauptsächlich bei Personen, die bestimmte Serotonin-Polymorphismen aufweisen. Eine große Längsschnittstudie von Forschern aus Neuseeland zeigte, dass bei Kindern, die ohne größere psychische Belastungen aufgewachsen waren, aber Serotonin-Polymorphismen aufwiesen, die Neigung zu Gewalt nur gering erhöht war, und dasselbe war der Fall bei Kindern ohne Serotonin-Polymorphismen, die psychische Traumatisierungen erlebt hatten. Wenn aber beides zusammenkam, war die Gewaltbereitschaft um mehr als das Doppelte erhöht.

Diese Befunde wurden inzwischen vielfach bestätigt und zeigen, dass im Hinblick auf Gewaltbereitschaft, aber auch bei psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depression oder Schizophrenie in aller Regel weder die Gene noch die Umwelt die Hauptursache sind, sondern das Zusammentreffen beider Typen von Faktoren. Man stellt sich heute vor, dass die das Serotonin-System betreffenden Gen-Polymorphismen eine erhöhte Verletzbarkeit ("Vulnerabilität") für schwere psychische Belastungen darstellen. Treten solche Belastungen vor der Geburt und in der Kindheit nicht auf, dann kann die weitere psychische Entwicklung normal oder mit nur geringen Störungen verlaufen. Ist umgekehrt eine solche Vulnerabilität nicht vorhanden, dann kann ein Mensch eine Fülle psychischer Belastungen aushalten, ohne psychisch krank oder gewaltkriminell zu werden. Verhängnisvoll wird es, wenn eine erhöhte genetisch bedingte Verletzbarkeit auf starken psychischen Stress in früher Kindheit trifft. Umgekehrt ließ sich in Aufsehen erregenden Tierexperimenten zeigen, dass mütterliches Fürsorgeverhalten in den Neugeborenen über das Freisetzen bestimmter Gehirnstoffe diejenigen Genprozesse aktiviert, welche die Wirksamkeit des Stressverarbeitungssystems erhöhen.

Zugleich zeigt sich, dass Persönlichkeit und Psyche eines Menschen im Kindes- und frühen Jugendalter weitgehend festgelegt und in späterem Lebensalter zunehmend resistent gegen weitere Veränderungen werden. Dies bedeutet: Veränderungen sind möglich, aber sie sind immer schwerer zu erreichen. Diese Erkenntnis hat große Auswirkungen auf unsere bisherigen Vorstellungen von Erziehung, Personalführung und Psychotherapie, die aber hier nicht weiter dargestellt werden können.

Fazit

Anhand dreier Beispiele habe ich zu zeigen versucht, dass Erkenntnisse der Hirnforschung eine große Bedeutung für das derzeit dominierende Menschenbild haben, welches gekennzeichnet ist durch einen expliziten oder zumindest impliziten Geist-Gehirn-Dualismus, durch die Annahme eines rationalen Ichs als Steuermann und eines jenseits der Naturkausalität "frei" wirkenden Willens und schließlich durch den Glauben an die große Macht der Erziehung und die lebenslange gleichmäßige Veränderbarkeit des Menschen.

Dem stehen folgende Erkenntnisse gegenüber: 1) Geist und Bewusstsein sind untrennbar mit Hirnprozessen verbunden, bilden mit ihnen eine Einheit und überschreiten nicht die Grenzen des Naturgeschehens. 2) Menschliches Wollen und Handeln unterliegen einem Motiv-Determinismus, der seine Wurzeln in der Persönlichkeitsentwicklung einer Person hat, die wiederum von Genen, Gehirnentwicklung, frühen psychischen Prägungen und späteren psychosozialen Erfahrungen bestimmt wird. Die Auffassung eines indeterminierten "freien" Willens dagegen ist in sich widersprüchlich und empirisch unhaltbar. 3) Gene und Umwelt interagieren auf komplexe Weise miteinander, und zwar vermittelt über Hirnprozesse, die Psyche und Verhalten kontrollieren: Gene bestimmen, welche Umwelteinflüsse wirksam werden, und umgekehrt können psychische und psychosoziale Umwelteinflüsse die Wirksamkeit ("Expression") von Genen beeinflussen. Insofern ist jeder Gen-Umwelt-Dualismus obsolet.

Allerdings: So beeindruckend diese Erkenntnisse sind, sie gehen nicht über das hinaus, was Philosophen und Wissenschaftler seit der Antike in Opposition zum dominierenden Menschenbild gedacht und geschrieben haben. Schon immer sind große Denker von der Einheit von Geist und Gehirn bzw. Körper ausgegangen, haben die Macht des bewussten Ichs und die Existenz einer metaphysischen Willensfreiheit bezweifelt; ebenso haben viele erkannt, dass die Persönlichkeit eines Menschen eine komplizierte Mischung aus Anlage, Entwicklung und Erziehung ist und es mit zunehmendem Alter immer schwerer wird, Menschen zu ändern. Die Bedeutung der hier vorgestellten neuen Erkenntnisse der Hirnforschung liegt also nicht in deren Originalität, sondern in der empirischen Unterstützung bestimmter - meist alternativer - Ansichten vom Menschen. Schließlich zeigt sich, dass die neuen Erkenntnisse keineswegs von Neurobiologen allein gewonnen wurden, sondern in enger Zusammenarbeit mit Psychologen, Psychiatern, Genetikern, Anthropologen und Soziologen. Dies macht den Vorwurf eines neurobiologischen Reduktionismus überflüssig.

Wie ein neues Menschenbild aussehen wird, weiß niemand, denn zum einen können sich die hier vorgestellten Erkenntnisse zumindest teilweise verändern, und zum anderen wird das Bild des Menschen von sich nicht überwiegend von wissenschaftlichen Erkenntnissen bestimmt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diesem Beitrag liegt folgende Literatur zu Grunde: Jens B. Asendorpf, Psychologie der Persönlichkeit, Berlin-Heidelberg-New York 20043; Antonio R. Damasio, Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1994; Lise Eliot, Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren, Berlin 2001; Hans Förstl/Martin Hautzinger/Gerhard Roth (Hrsg.), Neurobiologie psychischer Störungen, Heidelberg u.a. 2006; John-Dylan Haynes/Geraint Rees, Decoding mental states from brain activity in humans, in: Nature Review Neuroscience, (2006) 7, S. 523 - 534; Eric R. Kandel/James H. Schwartz/Thomas M. Jessell, Neurowissenschaften, Heidelberg 1996; Brian Kolb/Ian Q. Wishaw, Neuropsychologie, Heidelberg 1993; Michael Pauen, Das Rätsel des Bewusstseins. Eine Erklärungsstrategie, Paderborn 1999; ders./Gerhard Roth, Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, Frankfurt/M. 2008; Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt/M. 2001/2003; ders., Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, Stuttgart 2007; Henrik Walter, Neurophilosophie der Willensfreiheit, Paderborn 1998.

Dr. phil., Dr. rer. nat., geb. 1942; Gründungsrektor des Hanse-Wissenschaftskollegs Delmenhorst; Professor am Institut für Hirnforschung, Universität Bremen, 28334 Bremen; Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes.
E-Mail: E-Mail Link: gerhard.roth@uni-bremen.de