Einleitung
Mit Parolen wie "Die Gruppe ist ein Papiertiger" attackierten im Oktober 1967 Erlanger Studenten Repräsentanten der Gruppe 47, die sich im Gasthof "Pulvermühle" in der Fränkischen Schweiz zur jährlichen Tagung zusammengefunden hatten, und forderten sie zur politischen Stellungnahme heraus, insbesondere zur Unterstützung des Kampfes gegen die Manipulation der Öffentlichkeit durch die Springer-Presse. Mitglieder der Gruppe 47 verfassten noch am Abend eine Anti-Springer-Resolution, welche die Kontrolle von 32,2 Prozent aller deutschen Zeitungen und Zeitschriften durch den Springer-Konzern als "Gefährdung der Grundlagen der Demokratie" kennzeichnete, und forderten Schriftsteller, Publizisten, Kritiker und Wissenschaftler zum Boykott des Verlagshauses Springer auf.
Die Tagung in der "Pulvermühle" sollte die letzte der Gruppe 47 sein. Ihre regelmäßigen Treffen waren zum Forum der Literatur und Literaturkritik sowie des politischen und kulturellen Austausches in der Bundesrepublik Deutschland geworden. Die Gruppe 47, binnen zwanzig Jahren zu einer zentralen Position im literarischen Feld aufgestiegen und im In- und Ausland als "neue deutsche Nachkriegsliteratur" gefeiert, zerfiel. Ihr Ende markierte einen Einschnitt; nach 1968 konnte keine andere Gruppe in Deutschland mehr eine vergleichbare Position sowie eine vergleichbare öffentliche Resonanz erlangen.
Was war geschehen? Eine Welle von Protesten hatte 1967 und 1968 die Bundesrepublik Deutschland erfasst. Das Repräsentationsmonopol der etablierten Parteien und Interessengruppen wurde in Frage gestellt und mit einer Gegenmacht und Gegenöffentlichkeit konfrontiert. Studenten und Jugendliche waren die zentrale Trägergruppe innerhalb der Protestierenden, doch waren die Proteste mehr als eine Studenten- oder Jugendrevolte.
In der Bundesrepublik verbanden sich Ostermarschbewegung, Opposition gegen die Notstandsgesetze und Studentenbewegung zur Außerparlamentarischen Opposition (APO), die sich in Reaktion auf die Bildung der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD im Dezember 1966 formierte. Antiautoritär, antihierarchisch und antibürokratisch in ihrer Zielorientierung kritisierten die Gruppen der Neuen Linken Machtstrukturen nicht nur im Staat, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen: in Betrieben und Büros, Schulen und Hochschulen, in der Familie und den Geschlechterbeziehungen, in Verlagen und Redaktionen sowie nicht zuletzt im Theater- und Literaturbetrieb.
Hat die APO das Ende der Gruppe 47 herbeigeführt? Ist das Ende der Gruppe 47 als erste und unmittelbare Folge des Formierungs- und Mobilisierungsprozesses der 68er Bewegung in der Bundesrepublik anzusehen? Der Zusammenhang zwischen der Mobilisierungsdynamik der APO und dem Zerfall der Gruppe 47 soll nachfolgend in drei Thesen skizziert werden.
Ende des Konsenses
Erste These: Der Prozess der Formierung einer Außerparlamentarischen Opposition verstärkte die latenten Spannungen in der Gruppe 47. Das Auftauchen eines neuen Akteurs im politischen Feld enthüllte eine Identitätskrise der Gruppe, die sich seit ihren Anfängen als eine neue literarische Generation und "anitiautoritäre" Linksopposition verstanden hatte.
Die Spannungen in der Gruppe 47 entluden sich zwischen 1966 und 1968 in politischen Definitions- und Konkurrenzkämpfen. Eine "Mentalität, die man oberflächlich als links bezeichnen kann",
Die Gruppe hatte sich seit ihrer Gründung 1947 als literarische und politische Avantgarde verstanden, legte aber den Grundsatz der Trennung von Literatur und Politik als Leitidee fest und reagierte damit auf die Politisierung der Literatur unter dem Nationalsozialismus sowie in den Ländern des "realen Sozialismus". Wenn ihre Mitglieder politisch intervenierten, so orientierten sie sich am Vorbild des klassischen "allgemeinen Intellektuellen", der sich "in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen".
Diese Konzeption des "allgemeinen Intellektuellen" wurde durch die weltweit sich formierende intellektuelle Neue Linke (Nouvelle Gauche bzw. New Left) in Frage gestellt. Dem "allgemeinen Intellektuellen" wurde die Konzeption einer "intellektuellen Avantgarde" entgegengesetzt, die Bewusstsein durch Handeln, Aufklärung durch Aktion schafft. Die neue Definition des Intellektuellen, die auch vom Sozialistischen Deutschen Stundentenbund (SDS) vertreten wurde, stellte die Interventionsstrategie der Gruppe 47, ihre "Aufrufe" und "Erklärungen", in Frage. Engagement, so die Prämisse, musste über Manifeste hinausgehen, Kritik sich nicht nur in Worten, sondern auch in Handlungen manifestieren. Der "Primat der Praxis", den der antiautoritäre Flügel des SDS verfocht, ließ die Gruppe als "Papiertiger" erscheinen und ihre Praktiken als Absage an eine "mögliche Praxis".
Wenn Handeln zur Conditio sine qua non intellektuellen Engagements wurde, konnte dies in letzter Konsequenz (und diese wurde von Hans Magnus Enzensberger, der dem engeren Kreis der Gruppe angehört hatte, vorübergehend gezogen) eine "Unterbrechung der Künstlerlaufbahn" (Walter Benjamin) bedeuten und damit eine Aufhebung von Literatur zugunsten von politisch-sozialen Kämpfen um die Veränderung des Status quo. Auf das Postulat eines "Primats der Praxis" reagierte Richter als Verteidiger des Konzepts des "allgemeinen Intellektuellen" mit einer Gegenoffensive. Er regte die Gründung eines aus Schriftstellern bestehenden "kulturpolitischen Beirats" innerhalb der SPD an und wartete, während die Studenten vor der "Pulvermühle" demonstrierten und die Mitglieder der Gruppe zu politischen Stellungnahmen und zum Übertritt zur APO provozierten, auf die Ankunft Karl Schillers, um im Anschluss an die Gruppentagung mit ihm das Projekt zu besprechen.
Was ist und kann Literatur?
Zweite These: Das Erscheinen der APO veränderte die Debatten in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur, weil sie neue Themen aufwarf, sondern auch, weil sie den politischen Diskurs theoretisierte und polarisierte und durch ihre provokativen Aktionen heterogene Akteure zu Stellungnahmen zwang. Die Gruppe 47 wurde ein "Opfer" dieser Strategien und reproduzierte sie zugleich in ihren eigenen Reihen.
Am Anfang stand ein Wort. Aufgeworfen von einem 23-jährigen Jurastudenten mit dem Haarschopf der Beatles, gerichtet gegen die ranghöchsten Repräsentanten der deutschen Nachkriegsliteratur und Literaturkritik, eingefangen von laufenden Mikrofonen, verlieh es einem jungen Autor einen Namen und einer Sprechhandlung das Gewicht einer Revolte: das Wort "Beschreibungsimpotenz" von Peter Handke. Es fiel auf der Tagung der Gruppe 47 in Princeton (1966), auf der Handke erstmals anwesend war. Er hatte, als er seinen Vorwurf lancierte, bereits zwei Romane veröffentlicht und ein Theaterstück geschrieben, das den Titel "Publikumsbeschimpfung" trug. Am Ende des Stückes heißt es: "Sie werden von e i n e m Ort zu verschiedenen Orten gehen./ Zuvor aber werden sie noch beschimpft werden./ Sie werden beschimpft werden, weil auch das beschimpfen eine Art ist,/ mit ihnen zu reden. Indem wir beschimpfen, können wir unmittelbar/ werden. Wir können einen Funken springen lassen. Wir können/ den Spielraum zerstören. Wir können eine Wand niederreißen. Wir können/ Sie beachten. Dadurch, daß wir Sie beschimpfen, werden Sie uns nicht mehr zuhören./ Sie werden uns anhören. Der Abstand zwischen uns wird nicht mehr/ unendlich sein."
Legitim war für ihn, den Repräsentanten einer Grazer Schriftstellergruppe, die sich an der Philosophie Ludwig Wittgensteins orientierte, einzig eine Literatur, die Sprachkritik übte und zur Sprachneuschöpfung beitrug. Diese Definition diente ihm dazu, sich von der Gruppe 47 und einer Literatur abzugrenzen, die auf Gesellschaftskritik und insbesondere auf Vergangenheitsbewältigung ausgerichtet war. Handke, österreichischer Staatsbürger, beurteilte diese Literatur als "läppisch"
Auf Handkes Kritik folgte eine magische Verneinung der Gruppe 47 aus der Feder Hans Magnus Enzensbergers. Er stellte einerseits das Credo der Gruppe in Frage, nach dem Literatur in der Lage sei, die Mentalitätsstrukturen zu ändern, die den Aufstieg des Nationalsozialismus möglich gemacht hatten, sowie andererseits ihre Vorstellung, dass Schriftsteller als Intellektuelle die Rolle einer Gegenmacht einnehmen können.
In dieser Situation, in der die Revolution notwendig und aus Sicht der Neuen Linken auch möglich geworden schien, fragte Enzensberger nach dem Beitrag der Literatur zur Transformation der Gesellschaft. Seine Bilanz fiel negativ aus. Gedichte, Erzählungen und Dramen waren, so seine These, an das Risiko geknüpft, "nutz- und wirkungslos" zu sein. "Wer Literatur als Kunst macht", so Enzensberger, sei "damit nicht widerlegt, er kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden".
Enzensberger war überzeugt, dass alle möglichen Revolutionen in der Literatur bereits gemacht worden waren, und schlug vor, sich auf die Beziehung zwischen Schreiber und Leser zu konzentrieren, um diese zu revolutionieren. Er plädierte für eine Partizipation des Lesers an der Arbeit des Schriftstellers, für eine kritische Wechselwirkung, ein Feedback zwischen Schreiber und Leser durch "Korrekturen", "Widerstände", "Gegenbeweise", "Beschimpfungen".
Die unterschiedlichen Ziele der beiden Schriftsteller werden sichtbar, wenn man die Antworten auf die Frage vergleicht: Was kann Literatur, und wozu schreiben? Handke ging von der Prämisse aus, dass Literatur noch verändern kann, zumindest den Leser und den Autor selbst.
Die Stellungnahmen Handkes und Enzensbergers repräsentieren die beiden Dimensionen der Emanzipationsstrategie der Neuen Linken: die Befreiung des Individuums aus der Unterordnung unter das Kollektiv, seine Selbstbefreiung und Selbstverwirklichung, ermöglicht durch die Schaffung neuer Kommunikationsformen einerseits und die Transformation der Lenkungs- und Entscheidungsmechanismen durch neue Formen der Partizipation (autogestion) andererseits. Handke verkörperte die "neue Sensibilität", von Herbert Marcuse als Element der Desintegration der "eindimensionalen Gesellschaft" analysiert, Enzensberger den Intellektuellen auf der Suche nach einem neuen revolutionären Subjekt. Er schreibt: "Einen Autoschlosser, der von sich selbst sagt: Ich gehöre dem antiautoritären Lager an, oder Ich bin Mitglied der Außerparlamentarischen Opposition - einen solchen Autoschlosser gibt es nicht." Die politische Substanz der APO sei noch nicht "ausgegoren", ihre "organisatorischen Strukturen zwar neuartig, aber schwach". Dennoch schrieb er ihr zu, eine politische Theorie entwickelt zu haben, die, verglichen mit dem "herrschenden Gedankengut", vom Godesberger Programm bis zu den üblichen Regierungserklärungen, "frei von wahnhaften Zügen" sei.
Erschöpft waren die Möglichkeiten, die der Primat der Praxis eröffnete, damit aber noch keineswegs. Denkbar wurde auch, die schriftstellerische Kompetenz in den Dienst eines Experiments zu stellen wie dasjenige der "Praxis kollektiven Schreibens" (Martin Walser) und damit aus Arbeitern "Schreibende" zu machen.
Günter Grass und Enzensberger repräsentierten in ihrem literarischen und politischen Engagement den Konflikt zwischen der alten und der Neuen Linken. "Wir haben unsere politischen Differenzen ausgelebt", erklärte Grass später. Dies habe zu Distanzen und Brüchen geführt, die so leicht nicht mehr zu korrigieren gewesen seien. 1968 bekräftigte er die ursprüngliche Position der Gruppe 47. Er hielt fest an der Prämisse, dass es Aufgabe der Literatur sei, Vergangenes für die Zukunft gegenwärtig zu halten und eine Epoche mit all ihren Widersprüchen, Absurditäten, ihrer kleinbürgerlichen Enge und ihren Verbrechen darzustellen.
Die Abgrenzungen, Distanzierungen und inszenierten Positionierungen deuteten bereits im Vorfeld darauf hin, dass die Chancen für das für Oktober 1968 in Prag geplante (und am Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen gescheiterte) Treffen der Gruppe 47 schlecht standen.
Lektoren und Verleger
Dritte These: Die Definitions- und Distinktionskämpfe zwischen den Autoren wurden ergänzt und überlagert durch Macht- und Konkurrenzkämpfe zwischen Lektoren und Verlegern. Es waren die in starke Abhängigkeitsverhältnisse eingebundenen Lektoren, welche die Leitidee der autogestion/"Selbstverwaltung" der 68er Bewegung am lautstärksten aufgriffen.
Den Differenzen zwischen den Autoren folgte der Aufstand der Lektoren unmittelbar nach der Buchmesse 1968. "Wir Lektoren waren auch Leser", resümierte Suhrkamp-Lektor Urs Widmer die Situation innerhalb des Verlages: "Viele, wenn auch längst nicht alle der Bücher, die 1967/68 für viele plötzlich wie Handlungsanleitungen wirkten, waren bei Suhrkamp erschienen, und das schlug auf das Selbstverständnis aller Mitarbeiter zurück. Alle mussten ihre Arbeit neu überdenken. Es war Schluss mit einem interessierten, aber, was die praktische Umsetzbarkeit betraf, relativ akademischen Umgang mit Büchern. (...) Die Lektoren begannen manches, was bisher in den Büchern eingeschlossen war, auch für den Verlag zu fordern."
Als der "Lektorenaufstand" im Suhrkamp Verlag eskalierte, trat Grass im Oktober 1968 mit der Idee an seinen Verleger Eduard Reifferscheid heran, Mitspracherechte im Luchterhand Verlag zu etablieren. Reifferscheids Reaktion war kurz und lakonisch: "cui bono?"