Einleitung
Sechs Jahrzehnte nach seiner fast vollständigen Zerstörung bildet das deutsche Judentum die am schnellsten wachsende jüdische Gemeinde der Welt. Als im Frühjahr 1945 die letzten Überlebenden der Konzentrationslager auf deutschem Boden befreit wurden, lag ein blühendes, neues deutsches Judentum außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Wie kam es trotzdem innerhalb nur weniger Jahrzehnte zu dieser Entwicklung?
Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst die unterschiedliche Herkunft der einzelnen Gruppen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in Betracht ziehen. Da sind zum einen die osteuropäischen Juden, die sich nach Kriegsende als so genannte Displaced Persons (DPs) auf deutschem Boden befanden und ihre Anwesenheit als Übergangssituation verstanden. Die wenigen, die aus dieser Gruppe blieben, sprachen davon, in Deutschland "hängengeblieben" zu sein. Daneben gab es deutsche Juden, die entweder die Lager überlebten, versteckt waren, durch die Hilfe eines nichtjüdischen Familienmitglieds überlebten oder aber aus dem Exil zurückkehrten. Eine dritte Gruppe bildeten die verschiedenen Immigranten, die seit den 1950er Jahren die Bundesrepublik Deutschland als neue Heimat wählten. Sie kamen aus solch unterschiedlichen Ländern wie Ungarn und der Tschechoslowkei, Israel und dem Iran, seit den 1990er Jahren vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion.
Hängengeblieben
Es gehört zu den tragischen Ironien der Geschichte, dass im Schatten des Holocaust Deutschland zum Rettungshafen für jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa wurde - wenn auch nur kurzfristig und übergangsweise. Über 200 000 jüdische Überlebende aus Osteuropa fanden hier ein vorübergehendes Asyl, bis 1948 der Staat Israel gegründet wurde und gleichzeitig die USA ihre Einwanderungsbestimmungen lockerten.
Die Todesmärsche - Evakuierungen aus den Vernichtungslagern - sowie die Befreiung der Konzentrationslager hatten in den letzten Kriegswochen Tausende mehr schlecht als recht am Leben erhaltene osteuropäische Juden in viele Ortschaften der amerikanischen Besatzungszone im süddeutschen Raum geführt. Hinzu kamen jene zumeist polnischen Juden, die während der Kriegszeit in den asiatischen Teil der Sowjetunion geflüchtet waren und nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatorte in Polen von neuer antijüdischer Gewalt bedroht wurden. Dem gewalttätigsten Pogrom in der polnischen Stadt Kielce fielen am 4. Juli 1946 nach der Verbreitung einer Ritualmordlegende etwa vierzig Juden zum Opfer. In zahlreichen Orten vor allem Bayerns, in denen vorher niemals Juden gelebt hatten, gründeten die aus Osteuropa Geflüchteten jüdische Komitees und richteten Betsäle ein. Volksschulen, in München sogar ein Gymnasium, Talmudschulen und berufsbildende Schulen sollten auf die weitere Auswanderung vorbereiten und durch geregelte Erziehung dem Leben jener Menschen, die zumeist ihre ganzen Familien verloren hatten, wieder einen Hauch von Normalität vermitteln.
Die meisten lebten weiterhin in Lagern. Diese DP-Lager waren nicht mit den Konzentrationslagern zu vergleichen, doch empfanden sich die Überlebenden auch hier noch keineswegs als in der Freiheit angekommen. "Wir sind befreit, aber nicht frei", lautete eine Erkenntnis, die man von vielen jüdischen DPs auf deutschem Boden noch 1947 und 1948 hören konnte. Diese Übergangsexistenz versuchte man durch kulturelle, politische und sportliche Aktivitäten so kurzweilig wie möglich zu gestalten. Vieles von dem, was man in den Jahren zuvor nicht hatte erleben dürfen, wollte man nun nachholen. Jüdische Theatergruppen führten in jiddischer Sprache heitere Stücke wie auch Tragödien auf, die an die unmittelbare Vergangenheit erinnerten. In der jiddischen Presse jener Jahre lesen wir über spannende Fußballspiele zwischen Vereinen wie Maccabi Neunburg vorm Wald gegen Hakoah Schwandorf.
Dort, wo es möglich war, blieben viele Juden erst einmal unter sich. Dies betraf bis 1957 das bis dahin bestehende DP-Lager in Föhrenwald, heute Waldram bei Wolfratshausen. Hier existierte in gewissem Sinne eine Art freiwilliges Ghetto, denn viele weigerten sich hartnäckig, das Lager zu verlassen. Man hatte sich nach fast zwei Jahrzehnten Lagerexistenz so sehr an dieses Leben gewöhnt, dass es gerade den Älteren schwer fiel, inmitten einer Stadt, umgeben von Deutschen, weiterzuleben.
Dies betraf auch das Zentrum der jüdischen DPs, München, wo nicht nur viele der ehemaligen Föhrenwalder dicht beieinander in einer Straße oder Siedlung untergebracht wurden. In Bogenhausen, um die Möhlstraße herum, hatte es in den ersten Nachkriegsjahren eine vitale jüdische Kultur gegeben, der Schwarzmarkt fand hier sein Zentrum, und die Straßenbahnlinie 12 hieß bei den Münchnern "Palestine-Express". Die DPs fassten niemals einen Beschluss, in Deutschland zu bleiben; sie blieben einfach. Kein polnischer oder ungarischer Jude, dessen Familie von Deutschen ausgelöscht wurde, hatte seine Zukunft ausgerechnet in Deutschland geplant. Es waren die Umstände, die man für das Verharren auf der, wie es zeitgenössisch hieß, "blutgetränkten Erde" verantwortlich machte: Krankheiten, betagte Eltern, das Abwickeln von Geschäften. Die Realität sah komplexer aus. Viele konnten sich nach Jahren der Lagerhaft weder physisch noch psychisch weiterbewegen, manche fühlten sich als Jiddisch-Muttersprachler in der deutschen Sprache mehr zu Hause als in der hebräischen oder englischen, andere fanden eine deutsche Lebensgefährtin (es hatten wesentlich mehr junge Männer als Frauen überlebt), einige hielt der Krieg in Israel zurück, wieder andere schließlich hatten ihr privates Wirtschaftswunder in Deutschland erlebt.
Die Meinung in der jüdischen Welt war nahezu einhellig: Man verdammte die Präsenz eines deutschen Nachkriegsjudentums. Wie könne man nur in einem Land leben wollen, das einen nur wenige Jahre vorher herauswerfen oder umbringen wollte! Von den "Fleischtöpfen Ägyptens" war die Rede, vom Verrat am jüdischen Volk. Noch bis in die 1960er Jahre weigerten sich viele internationale jüdische Organisationen, die deutsch-jüdische Gemeinschaft anzuerkennen. Erst allmählich setzte sich die Überzeugung durch, dass mit dem Heranwachsen einer neuen Generation in Deutschland auch jüdisches Leben hier legitim war.
Zurückgekommen
Im Gegensatz zu den osteuropäischen DPs hatten die deutsch-jüdischen Überlebenden oder Rückkehrer nicht mit dem Vorwurf zu leben, keinen kulturellen Bezug zu dem Land zu haben, in das sie nach 1945 gekommen waren. Sie lebten in ihrer alten Heimat und mussten trotzdem feststellen, dass kaum etwas so geblieben war, wie sie es gekannt hatten. Für diejenigen, die aus den Lagern in ihre Heimatstädte zurückkehrten, mag die Schilderung des in Buchenwald befreiten, späteren Stuttgarter Gemeindevorsitzenden Josef Warscher repräsentativ sein: "Also von wegen Empfangskomitee und so - null. (...) Der Bus hat uns im Osten der Stadt abgesetzt - und da war ich eben. Es ist schon komisch, Sie steigen in irgendeinem Stadtteil aus, stehen mitten auf der Straße und fragen sich, was jetzt? Ich kam heim und es gab kein Heim mehr (...). Ich kannte niemanden mehr, als ich nach Stuttgart zurückkam."
Gleichzeitig kehrten aber auch die ersten jüdischen Emigranten aus dem Exil zurück. Man darf ihre Zahl freilich nicht überschätzen: Von den etwa 500 000 aus dem deutschsprachigen Europa emigrierten Menschen waren um die 90 Prozent Juden oder jüdischer Herkunft gewesen. Von diesen so genannten rassisch Verfolgten kehrten nur vier bis fünf Prozent zurück, von denen wiederum nur etwas mehr als die Hälfte jüdischen Glaubens waren. Sie bildeten eine Minderheit unter den Remigranten. "Heimkehr in ein fremdes Land" war der richtige Ausdruck für diese Remigration, im Sinne des Soziologen René König, der über seine Rückkehr schrieb: "Ich bin also nicht im eigentlichen Sinn heimgekehrt: dieses Erlebnis hatte ich einzig bei Begegnungen mit Menschen, die wie ich ins Exil gegangen waren und nun hoffnungsvoll nach Deutschland zurückkehrten. Klar ist aber wohl, dass ich als ein anderer Mensch nach Deutschland gekommen bin."
Die wenigsten Exilanten wurden zurückgeholt oder waren als politisch oder kulturell Aktive sofort wieder in ihre jeweilige Gesellschaft - sei es im Osten oder Westen - eingebunden. Man kennt die Namen von jüdischen und nichtjüdischen Intellektuellen und Schauspielern, die zurückkehrten, von Theodor W. Adorno über Willy Brandt und Bert Brecht bis hin zu Therese Giese, Anna Seghers und Carl Zuckmayer. Der Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner hielt noch in den 1940er Jahren seine Eindrücke der Rückkehr voller Skepsis in dem bemerkenswerten Film "Der Ruf" fest. Doch blieben prominente Rückkehrer die Ausnahme.
Die meisten der "einfachen" Emigranten hatten ein neues Zuhause gefunden, von dem sie sich nicht mehr trennen wollten: sei es im Jerusalemer Stadtteil Rechavia, wo Deutsch die vorherrschende Sprache zumindest innerhalb des Hauses blieb, sei es in den New Yorker Washington Heights, die manche Zeitgenossen als "Frankfort-on-the-Hudson" oder zynischer als "The Fourth Reich" bezeichneten.
In den Westen kehrten unbekanntere, dafür zahlenmäßig mehr Personen zurück. Bei vielen war es wohl die Verzweiflung in ihrer neuen Heimat, die sie zur Rückkehr trieb. Sie kamen zumeist aus den letzten, gerade noch möglichen Zufluchtstätten: aus Schanghai und Bolivien, aus Venezuela und Kenia, wie etwa die junge Stefanie Zweig, deren Schicksal "Nirgendwo in Afrika" verfilmt und mit einem Oscar gekrönt wurde. Andere kamen in fremden Uniformen, eigentlich nur auf Zwischenstation, und blieben: Der spätere Nürnberger Gemeindevorsitzende Arno Hamburger etwa gelangte mit der Jüdischen Brigade in britischer Uniform aus Palästina über Italien in seine fränkische Heimatstadt, wo er auf dem Jüdischen Friedhof seine Eltern versteckt vorfand. Der Mitherausgeber der "Welt am Sonntag", der aus Augsburg stammende Ernst Cramer, kehrte in amerikanischer Uniform zurück, ebenso der langjährige Münchner Gemeindevorsitzende Hans Lamm, der bei den Nürnberger Prozessen als Berichterstatter arbeitete und von dem aus dem schwedischen Exil zurückgekehrten Erlanger Historiker Hans-Joachim Schoeps promoviert wurde.
Die Rückkehrer stießen auf wiedergegründete jüdische Gemeinden. Die oftmals mit nichtjüdischen Partnern verheirateten und somit vor der Deportation bewahrten deutschen Juden hatten die ersten Nachkriegsgemeinden organisiert. Wie beispielsweise in Köln geschah dies häufig unmittelbar nach der Befreiung, sogar noch vor Kriegsende. Die wenigen vor Ort Überlebenden sorgten für Gottesdienste, Beerdigungen, Krankenpflege, Zuteilung von Nahrung. Doch waren sie die legitimen Erben der um ein vielfaches größeren Vorkriegsgemeinden? Die Rechtslage war nicht eindeutig. Selbstverständlich gab es nun wieder eine jüdische Gemeinde in Orten, in denen eine solche auch vorher bestanden hatte. Aber die meisten Mitglieder dieser Gemeinden befanden sich im Exil. Hatten nicht die Organisationen der deutsch-jüdischen Emigranten Anspruch auf Rechtsnachfolge ihrer alten Gemeinden? Oder sollte der Staat Israel als Staat der Juden nicht auch Sprachrohr der vielen namenlosen jüdischen Opfer sein? In jeder Besatzungszone wurden schließlich Nachfolgeorganisationen eingerichtet, die das materielle Erbe der Vorkriegsgemeinden unter den verschiedenen Adressaten aufteilten.
Wie war es um das geistige Erbe bestellt? In den Gemeinden Nord- und Westdeutschlands stammte ein relativ großer Teil der Mitglieder aus Deutschland. In Süddeutschland dagegen, wo sich die Zentren der DPs befanden, lebten mehrheitlich osteuropäische Juden. Hier wurde ein harter Kampf um die Ausrichtung der Gemeinden gefochten. Durften Juden nichtdeutscher Staatsangehörigkeit Mitglieder der Gemeinde werden? Wenn ja, sollten sie das aktive und passive Wahlrecht erhalten? Diese Fragen wurden mitunter erst von deutschen Gerichten entschieden. Die Minderheit der deutschen Juden fürchtete, dass sie von der Mehrheit der osteuropäischen Juden dominiert werden würde, dass die religiösen Traditionen des polnischen und nicht des deutschen Judentums sich durchsetzen würden, wenn die Mehrheit das Sagen hätte. In letzter Instanz kam man nicht an einer demokratischen Lösung vorbei. Die meisten Gemeinden brachen daher völlig mit der Vorkriegstradition eines liberalen Ritus und richteten sich im Gottesdienst nach den Regeln der in Osteuropa vorherrschenden Orthodoxie, auch wenn nur wenige Gemeindemitglieder wirklich orthodox lebten.
Die geographische Aufteilung im deutschen Nachkriegsjudentum ist durchaus von Bedeutung. Die wichtigsten Organisationen und Repräsentanten kamen aus der ehemals britischen Zone. In Düsseldorf hatte Karl Marx (nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter aus dem 19. Jahrhundert) mit der "Allgemeinen" die wichtigste jüdische Zeitung aufgebaut, in Hamburg wirkte Hendrik George van Dam, der langjährige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Bayern als Zufluchtsort ehemaliger DPs dagegen regelte vor allem seine eigenen jüdischen Belange, Berlin hatte durch den Viermächtestatus und bis 1952 noch als Einheitsgemeinde in Ost und West ebenfalls eigene Gesetzesmäßigkeiten aufzuweisen.
Die Gründung des Zentralrats 1950 versuchte die Zersplitterung zu überwinden, aber viele regionale Unterschiede blieben über Jahrzehnte bestehen. Es ist bemerkenswert, dass trotz der osteuropäischen Mehrheit fast alle führenden Repräsentanten des Zentralrats bis heute zu den in Deutschland vor dem Krieg geborenen Juden zählten, man denke an die Begründer des Zentralrats wie Heinz Galinski, Philipp Auerbach und Norbert Wollheim, an den ersten Generalsekretär Hendrik George van Dam wie auch an die späteren Vorsitzenden Herbert Lewin, Werner Nachmann, Paul Spiegel und Charlotte Knobloch. Noch 1969 waren unter den 18 Mitgliedern des Direktoriums des Zentralrats 15 deutsche Juden. Selbst der Nachfolger van Dams als Generalsekretär, Alexander Ginsburg, war, ebenso wie der spätere Vorsitzende Ignatz Bubis, als Kind ostjüdischer Eltern in Breslau geboren und sprach akzentfreies Deutsch, auch wenn er in Lettland aufgewachsen war. Als der Zentralrat gegründet wurde, vertrat er um die 20 000 Juden, eine Zahl, die sich in den folgenden Jahrzehnten auf dem Niveau von ungefähr 30 000 einpendeln sollte. Diese Konstanz erklärt sich nicht aus einer ausgeglichenen Geburten- und Sterberate. Viele junge Menschen wanderten aus, Geburten wurden nach Abwanderung der meisten DPs immer weniger, dafür gewannen die jüdischen Gemeinden aber immer wieder neue Mitglieder durch Zuwanderung.
Dazugekommen
Deutschland mag sich nicht als das natürlichste Land für jüdische Zuwanderung ausnehmen, und dennoch wurde es immer wieder zum Ziel jüdischer Zuwanderer aus Ländern, in denen sie sich bedroht fühlten. Schließlich war Deutschland aus historischen Gründen kaum in der Lage, seine Tore vor jüdischen Flüchtlingen zu schließen. Man darf freilich die Proportionen nicht übersehen. Während Millionen jüdische Einwanderer nach Israel gelangten und Hunderttausende sich die USA als neue Heimat wählten, war die Bundesrepublik Deutschland bis zum Fall der Mauer das Einwanderungsland von einigen Tausend Juden, von denen ein guter Teil später in eines der beiden erstgenannten Länder oder ein anderes Ziel weiterwanderte.
Woher stammten die Zuwanderer? Die jüdische Restbevölkerung in Osteuropa war in den 1950er wie auch in den 1960er Jahren wieder zum Sündenbock für politische Missstände geworden. Im letzten Lebensjahr Stalins machte dieser jüdische Ärzte für einen angeblichen Komplott gegen ihn verantwortlich und ließ zahlreiche jüdische Intellektuelle umbringen. 1952 fand in Prag der so genannte Slansky-Prozess statt, in dem die Mehrzahl der Angeklagten und später Hingerichteten kommunistische Funktionäre jüdischer Herkunft waren. Sie wurden, obwohl stramme Antizionisten, eines "trotzkistisch-titoistischen-zionistischen" Komplotts beschuldigt und als "Kosmopoliten" verurteilt. Hier verband sich die staatskommunistische Ideologie mit einem populistischen Nationalismus, der in den Juden wieder die Fremden erblickte. Im Zuge des Slansky-Prozesses wurden auch jüdische Bürger der DDR aus ihren Ämtern entfernt und manche von ihnen inhaftiert. Als unmittelbare Folge der Bedrohung schlossen sich die jüdischen Gemeinden der DDR, die außerhalb Berlins nur wenig mehr als eintausend Mitglieder zählten, am 9. Juli 1952 zum Verband der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik zusammen. Als sich die Lage in den folgenden Monaten weiter verschlechterte, flüchteten knapp die Hälfte von ihnen, darunter die meisten Gemeindevorsitzenden, in den Westen. Bei Auflösung der DDR lebten in sämtlichen Gemeinden, inklusive Ost-Berlins, noch 350 Juden.
Aus Polen kamen jüdische Flüchtlinge infolge der antijüdischen Kampagnen 1957 und 1968 in den Westen, aus Ungarn 1956, aus der Tschechoslowakei 1968 und aus der Sowjetunion im Zuge der Lockerung der Ausreisebestimmungen in den 1970er Jahren. Für rumänische Juden war die Ausreise leichter als aus anderen osteuropäischen Staaten, so dass im Laufe der 1960er und 1970er Jahre ebenfalls einige nach Deutschland gelangten. Aus dem Iran gab es eine jüdische Emigrationswelle, die sich vor allem in die USA bemerkbar machte. Manche iranische Juden gelangten nach Hamburg, wo sie das religiöse Leben der Gemeinde entscheidend prägten und zumeist im Teppichhandel tätig waren. Auch Pforzheim war Ziel einer kleinen Einwanderergruppe aus dem Iran und dem zentralasiatischen Buchara, vor allem in der Schmuckbranche. Daneben gab es immer wieder Einwanderer aus Israel, von denen manche Wurzeln im nordafrikanischen Judentum haben. Amerikanische Juden gelangten entweder über die Streitkräfte, über Radio Free Europe oder andere Organisationen nach Deutschland. Insgesamt stellt sich das "neue deutsche Judentum" nach 1945 als eine äußerst heterogene Gruppe heraus, die trotz zahlreicher Einwanderungsschübe sehr überschaubar blieb. Die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik blieb bis Ende der 1980er Jahre immer unter 30.000. Damit bildeten sie 0,05 Prozent der Gesamtbevölkerung, eine im Alltagsleben kaum wahrnehmbare Gruppe.
Seit den 1980er Jahren ist innerhalb der deutsch-jüdischen Gemeinden ein neuer Ton wahrnehmbar. Hierzu gehört das Zuschaustellen eines neuen politischen Selbstbewusstseins. Marksteine dieser Entwicklung waren die Verhinderung der Aufführung des Fassbinder-Stückes "Der Müll, die Stadt und der Tod" in Frankfurt/Main 1985 sowie im selben Jahr die öffentlichen Proteste gegen den Besuch des Bundeskanzlers Helmut Kohl und des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf dem Friedhof von Bitburg, auf dem sich auch Gräber von Waffen-SS-Mitgliedern befanden. Anlässlich der beiden Affären haben jüdische Funktionäre nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen diplomatische Protestnoten eingelegt, sondern den Protest auf die Bühne bzw. auf die Straße getragen.
Für diese neue Offenheit in der Auseinandersetzung stand auch ein Umbruch in der Führungsriege des Zentralrats. Auf den wegen einer Korruptionsaffäre postum in Ungnade gefallenen Werner Nachmann und den Auschwitz-Überlebenden Heinz Galinski folgte mit dem Frankfurter Gemeindevorsitzenden Ignatz Bubis ein Mann, der keine öffentlichen Diskussionen scheute, Tausende von Schulklassen besuchte, beliebter Gast in Talkshows war und sogar als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt wurde - wenige Jahre, nachdem er im Häuserkampf eine Zielscheibe der Frankfurter linken Szene und vermutlich Vorbild für die Figur des "reichen Juden" in Fassbinders Stück gewesen war. Bubis war auch an jenem Abend der geplanten Premiere des Stückes auf der Bühne des Frankfurter Schauspielhauses zu finden. Mit ihm und seinem Nachfolger Paul Spiegel erhielten der Zentralrat und sein Präsident eine Aufmerksamkeit, die ihnen in den Anfangsjahrzehnten nicht zuteil geworden war.
Das hing auch mit einem erstarkenden Interesse an jüdischen Themen in der deutschen Öffentlichkeit zusammen. Zunächst drückte dieses sich in einer zunehmenden Medienpräsenz des Holocaust aus. Die amerikanische Fernsehserie "Holocaust" schuf ein neues deutsches Wort, das über Nacht in aller Munde war. Vor allem die junge Generation begann nach Ausstrahlung der Serie durch die dritten Fernsehprogramme im Januar 1979 intensiver, ihre Eltern und Großeltern nach ihrer Rolle während der NS-Zeit zu fragen. Bürgerinitiativen, Schülerwettbewerbe und Lokalgeschichten rekonstruierten die jüdische Vergangenheit zahlreicher Orte. Ehemalige jüdische Bürger wurden eingeladen, Denkmäler für die ermordeten Juden aufgestellt. Neben das Interesse für die Zeit der Vernichtung trat auch die Beschäftigung mit der reichen jüdischen Geschichte und den Resten des jüdischen Lebens in der Gegenwart. Die Ausstellung "Jüdische Lebenswelten" im Berliner Gropius-Bau 1991 repräsentierte dieses neue Interesse ebenso wie auf populärer Ebene die Begeisterung für Klezmer-Musik, wobei oft vergessen wird, dass diese dem osteuropäischen, nicht dem deutsch-jüdischen Kontext entstammt. Seit den 1980er Jahren wurden neue jüdische Museen gegründet und neue universitäre Einrichtungen zur Erforschung und Lehre der jüdischen Geschichte und Kultur eingerichtet.
Das neue Interesse der nichtjüdischen Öffentlichkeit blieb nicht ohne Folgen innerhalb der kleinen jüdischen Gemeinschaft. Man besann sich nun auch selbst auf eigene Traditionen und sprach offener über eine Zukunft des Judentums in Deutschland. Zu diesem Zweck gründete der Zentralrat der Juden in Deutschland 1979 die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, die Rabbiner und Religionslehrer für die jüdischen Gemeinden ausbilden sollte. Die meisten Studierenden sind Nichtjuden, die einen akademischen Abschluss ähnlich wie in den bereits seit den 1960er Jahren bestehenden Judaistik-Instituten anstreben.
Ebenfalls seit den 1980er Jahren ist eine Diversifizierung des religiösen Lebens festzustellen. Die meisten jüdischen Gemeinden nach 1945 waren orthodox geprägt, auch wenn die Mitglieder nur in seltenen Fällen einen von der Orthodoxie vorgeschriebenen Lebensstil einhielten. Nun kehrte das im Deutschland des 19. Jahrhunderts entstandene liberale Judentum auf dem Umweg über die amerikanischen Conservative- und Reform-Gemeinden nach Deutschland zurück. Dies bedeutete jetzt auch die Gleichberechtigung der Frau im Gottesdienst. Damit wurden auch in deutschen Gemeinden die ersten Rabbinerinnen eingestellt.
Der ständige, leichte Zustrom von Einwanderern und die inneren Entwicklungen wären wohl nur kosmetische Veränderungen einer kleinen und stark überalterten Gemeinschaft geblieben und hätten den demographischen "Untergang des deutschen Judentums", wie ihn schon 1911 der Arzt Felix Theilhaber prophezeit hatte, kaum aufhalten können. Immerhin konnten der Rückgang gestoppt und die Zahlen konstant gehalten werden. Die entscheidende Veränderung kam mit dem Fall der Mauer und der Öffnung der Sowjetunion. Ein kleiner Teil jener jüdischen Auswanderer, die nach Israel oder in die USA gehen, gelangt seitdem nach Deutschland: klein gemessen an der Gesamtzahl der Auswanderung nach Israel, bedeutend jedoch in Relation zur Zahl der in Deutschland lebenden Juden. Innerhalb nur weniger Jahre hat sich die jüdische Gemeinschaft vervierfacht, und sie wächst weiter an.
Angekommen?
Synagogeneinweihungen sind willkommene Gelegenheiten für öffentliche Statements und Gradmesser für jüdische Befindlichkeiten. Salomon Korn, der das neue Zentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main entworfen hatte und später ihr Vorsitzender wurde, sprach anlässlich der Einweihung 1986 den seitdem oft zitierten Satz: "Wer ein Haus baut, will bleiben." Zum ersten Mal wurde deutlich ausgesprochen, was bereits zu diesem Zeitpunkt einen guten Teil der Realität widerspiegelte: Nicht alle Juden in Deutschland saßen auf gepackten Koffer, bei den meisten waren sie längst ausgepackt.
Mittlerweile ist Deutschland zum beliebtesten Einwanderungsziel jüdischer Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion geworden. In den vergangenen Jahren kamen sogar mehr jüdische Einwanderer aus Russland und der Ukraine nach Deutschland als nach Israel. Synagogeneinweihungen sind keine Seltenheit mehr. In vielen Städten, in denen seit Jahrzehnten keine Juden mehr lebten - insbesondere im Osten Deutschlands - sind neue, oftmals rein russischsprachige Gemeinden gegründet worden. In anderen Städten, von Düsseldorf bis Straubing, leben heute mehr Juden als vor 1933. Es wäre dennoch ein Irrtum anzunehmen, das blühende jüdische Leben der Weimarer Republik oder des 19. Jahrhunderts würde auf diese Weise wieder entstehen.
Die Zuwanderer sind in einem atheistischen Staat groß geworden und von der jüdischen Religion weit entfernt worden. Auch sie füllen in einer ohnehin stark säkularen Gesellschaft nicht die neuen Synagogen. Diese sind am Samstag nicht stärker besetzt als die meisten christlichen Kirchen am Sonntag. Zudem sind die neuen Gemeindemitglieder zu einem großen Teil auf Sozialhilfe angewiesen, müssen erst die deutsche Sprache erlernen und sich in der neuen Umgebung zurechtfinden. Die Gemeinden sind in gewissem Sinn zu Sozialämtern und Sprachvermittlungsinstituten geworden. Es wäre aber falsch, nur diese Seite in den Vordergrund zu stellen. Auch wenn die Ausübung der jüdischen Religion in der Sowjetunion praktisch unmöglich war, empfanden sich die Zuwanderer als Juden, war dies doch als "Nationalität" in ihren Ausweisen vermerkt, hatten sie deswegen doch oft berufliche Zurückweisungen erfahren. Zudem war ihnen ein kulturelles Interesse am Judentum oft nicht fremd, und die Situation in Israel lag ihnen am Herzen. So bringen sie dem jüdischen Kulturangebot häufig Interesse entgegen und fühlen sich bewusst als Juden, wenn auch nicht unbedingt im religiösen Sinne. Ihre Kinder, die in Deutschland aufwachsen, nehmen an Veranstaltungen jüdischer Jugendzentren teil und sind mittlerweile Teil einer neuen deutsch-jüdischen Kultur geworden.
Wird diese Bestand haben? In manchen Gemeinden stellen die "Neuen" nicht nur die Mehrheit, sondern bereits den Vorstand und sorgen sich aktiv um die Zukunft jüdischen Lebens. In anderen Gemeinden sind nur einzelne Neuzuwanderer aktiv. Doch auch diese tragen dazu bei, dass jüdisches Leben in Deutschland im 21. Jahrhundert vielfältiger wird. Neben den Synagogen wachsen jüdische Schulen. Eine neue Grundschule wurde in Düsseldorf, ein jüdisches Gymnasium und sogar eine Jeschiwa (Talmudschule) wurden in Berlin gegründet. Es entstehen Schachklubs und Sportvereine, die gesellschaftliches jüdisches Leben fördern. Neben den deutsch-jüdischen Schriftstellern der Nachkriegsgeneration wie Barbara Honigmann und Maxim Biller steht nun ein Wladimir Kaminer, dessen Bücher und "Russendisko" nichts spezifisch Jüdisches an sich haben, aber eben erst durch diese Zuwanderungswelle ermöglicht wurden.
Zwei Beispiele mögen verdeutlichen, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder sichtbarer geworden ist, aber man dennoch mit Begriffen wie einer "Renaissance" jüdischen Lebens vorsichtig umgehen sollte. In Berlin ist in den 1990er Jahren die Große Synagoge in der Oranienburger Straße wieder aufgebaut worden. Die goldene Kuppel ist zum Wahrzeichen des Stadtviertels geworden, zu einer Touristenattraktion wie das Jüdische Museum von Daniel Libeskind oder das Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor. Doch wer genau hinsieht, wird bemerken, dass sich unter der golden glänzenden Kuppel keine Synagoge mehr befindet. Nicht die einstmals größte deutsche Synagoge wurde wieder errichtet, sondern nur das Vorgebäude mit der Kuppel. Es wirkt ein wenig wie ein Laden, dessen Schaufensterauslagen zwar kräftig leuchten, dessen Regale im Inneren aber leer stehen. Neben einem kleinen Gebetsraum unterhalb der Kuppel beherbergt das Gebäude ein Museum, das an die reichhaltige Vergangenheit erinnert.
Ein weiteres Beispiel ist die 2006 eröffnete neue Synagoge am St. Jakobsplatz in München. Die alte Hauptsynagoge war im Hinterhof versteckt gewesen und von der Bevölkerung nicht wahrgenommen worden. Nun zeigt sich das neue Jüdische Zentrum mit Synagoge, Gemeindezentrum und Museum sozusagen auf dem Präsentierteller. Es bildet eine der wenigen modernen Bauten in der bayerischen Landeshauptstadt, eine neue Touristenattraktion direkt neben Viktualienmarkt und Marienplatz. Die Deutsche Post gab eine Sonderbriefmarke mit dem Jüdischen Zentrum als Motiv heraus, und am Tag der Begegnung standen über zehntausend Münchnerinnen und Münchner Schlange, um den Bau zu besichtigen. Doch füllt sich eine Synagoge nicht unbedingt mit neuem Leben, weil man die Architektur schätzt. Außerdem stand bereits am Tag der Grundsteinlegung die Synagoge im Rampenlicht der Presse, als nämlich eine Gruppe von Neonazis einen Anschlag geplant hatte, der zahlreiche Opfer gefordert hätte.
Mit diesen Herausforderungen muss die jüdische Gemeinschaft auch im 21. Jahrhundert leben. Polizeischutz ist weiterhin notwendig, Antisemitismus nicht verschwunden, die Assimilation bedroht die innere Fortexistenz. Trotzdem überwiegt ein positives Grundgefühl. Synagogen gehören wieder zum Straßenbild vieler deutscher Städte, jüdisches Leben wird vielfach als Bestandteil der gesamtdeutschen Gesellschaft angesehen, Juden haben sich auf eine Zukunft hier eingerichtet. Selbst internationale jüdische Organisationen haben dies akzeptiert: Ein israelischer Staatspräsident war zu Gast bei einer Synagogeneinweihung, das American Jewish Committee unterhält ein Büro in Berlin.
Sollten öffentliche Reden wirklich den Gradmesser der jüdischen Befindlichkeit ausmachen, so mag man den Worten der Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch anlässlich der Synagogenweinweihung in München am 9. November 2006 besondere Beachtung schenken: "Es heißt: Wer baut, bleibt. Denke ich diesen Satz zu Ende, dann kann ich heute sagen: Wir haben gebaut, wir bleiben, und wir gestalten mit."