Umbruch im Schatten Berlusconis
Italien steht nach 1994, als Silvio Berlusconi erstmals für sieben Monate die Regierungsgeschäfte des Landes führte, seit nunmehr gut drei Jahren erneut im Blickpunkt der europäischen Aufmerksamkeit. Mit dem Wahlsieg der Mitte-rechts-Koalition im Mai 2001 rückte plötzlich wieder ins Bewusstsein, dass sich Italien, sechstgrößte Industrienation der Welt, nach dem Ende der "ersten Republik" noch immer in einem äußerst schwierigen und im westeuropäischen Maßstab einzigartigen Umbruch seines politischen, administrativen und auch gesellschaftlichen Systems befindet. Zwar gehören alte Anomalien wie die "blockierte Demokratie", d.h. das Fehlen einer Alternanz von Rechter und Linker an der Macht, inzwischen der Vergangenheit an, aber es sind neue an ihre Stelle getreten. Das "Phänomen Berlusconi", mit seiner Verquickung von Politik, Medienmacht und ökonomischen Interessen, die alle Grundregeln der Demokratie verletzt, macht dies deutlich. Diese Situation hat nicht zufällig im April 2004 das Europäische Parlament auf den Plan gerufen und den Europarat im Juni 2004 zu einem ähnlichen Monitum veranlasst.
Das Parteien- und Koalitionssystem
Wesentliches Kennzeichen des politischen Systems der zweiten Republik ist der bipolarismo imperfetto, d.h. ein unvollkommenes bzw. gemäßigtes Mehrheitssystem zweier großer Parteienbündnisse von mitte-rechts und mitte-links. Der 1993 per Volksabstimmung erzwungene Wechsel vom reinen Verhältnis- zu einem abgeschwächten Mehrheitswahlrecht - Abgeordnetenhaus und Senat werden jeweils zu 75 Prozent nach dem Mehrheitsprinzip gewählt, die verbleibenden 25 Prozent proportional auf all jene Parteien verteilt, welche die Vier-Prozent-Hürde überspringen - hat nicht zur Herausbildung eines stabilen Zweiparteiensystems geführt. Ursache ist das italienische Phänomen der "Proportionalisierung des Mehrheitswahlrechtes", nämlich die Aufteilung der Wahlkreise zwischen sich in einer gemeinsamen Wahlliste vereinigenden Parteien, je nach Kräfteverhältnissen und Wahlchancen der Parteien und Kandidaten in den verschiedenen geographischen Gebieten. So gewinnen bis zu 24 Parteien Sitze im Parlament. Tatsächlich ist nicht die Proporzkomponente Ursache für den "unvollendeten Bipolarismus", denn wegen der bestehenden Vier-Prozent-Hürde gelingt es den kleineren Parteien kaum, auf diesem Weg Sitze zu erringen. Da es auf nationaler Ebene nur einen Wahlgang gibt, sind die beiden größten Parteien, Forza Italia (FI) einerseits und Democratici di Sinistra (DS) andererseits, um tatsächlich Siegchancen zu haben, auf die Herstellung möglichst breiter - und damit äußerst heterogener - Bündnisse angewiesen und deswegen zu zahlreichen Absprachen über die Wahlkreiskandidaturen mit den kleinen und selbst kleinsten Parteien gezwungen.
Weder im Mitte-rechts- noch im Mitte-links-Spektrum ist klar, welche Parteien sich bei einer Wahl tatsächlich auch in einer gemeinsamen Liste zusammenschließen. Dabei kann jede noch so unbedeutende Gruppierung bei der Entscheidung über Sieg oder Niederlage eines Bündnisses bzw. über den Fortbestand oder das Ende einer Regierung zum Zünglein an der Waage werden.
Dass der instrumentelle Charakter der Koalitionen überwiegt, zeigen die vorhandenen Schwächen bei der Formulierung gemeinsamer politischer Programme wie auch die Tatsache, dass immer dann, wenn ein Wahlbündnis nicht unbedingt erforderlich ist, nämlich im ersten Wahlgang bei Provinz- und Kommunalwahlen oder bei Europawahlen, die Parteien vorzugsweise getrennt an den Start gehen, um die eigene Identität zu pflegen und ihren aktuellen politischen Marktwert zu bestimmen - so z.B. geschehen im Falle des Mitte-rechts-Lagers im Juni 2004. Die notwendige Profilierung und das Kräftemessen gehen dabei auf Kosten der Regierungsarbeit, denn beides beschwört vor und nach den Wahlen zusätzliche Konflikte innerhalb der Koalition herauf.
Das italienische Parteiensystem kann trotz gewisser Stabilisierungstendenzen auch zwölf Jahre nach Aufdeckung des Schmiergeldskandals tangentopoli noch immer nicht als konsolidiert gelten. Es kommt nach wie vor zu Zusammenschlüssen und Abspaltungen. Als letzte bedeutende Formation entstand im Jahr 2001 aus Partito Popolare Italiano, Rinnovamento Italiano, I Democratici und Teilen der Unione Democratica per l'Europa (UDEUR) die Partei der Margherita (Margerite). Als reformistisch orientierte Partei hat sie in gewisser Weise das Erbe der laizistischen und der katholischen Mitte-links-Strömungen angetreten und macht nun den Linksdemokraten (DS) in vielen Gebieten Italiens Konkurrenz im Kampf um die Rolle als stärkste politische Kraft des Mitte-links-Spektrums. Trotz dieses gelungenen Fusionsexperiments ist die Zersplitterung im Mitte-links-Lager nach wie vor groß und eine Einheitspartei im Moment reine Utopie. Letzteres gilt ungeachtet der angekündigten Kandidatur Romano Prodis für das Amt des Ministerpräsidenten bei der nächsten Parlamentswahl (planmäßig im Jahr 2006) und trotz der anlässlich der Wahlen im Juni 2004 geschaffenen gemeinsamen Liste (Uniti nell'Ulivo per l'Europa). Diese Liste, die nur die gemäßigte Linke, d.h. DS, Margherita und SDI (Socialisti Democratici Italiani) sowie den eher unbedeutenden Movimento Repubblicani Europei zu integrieren vermochte - das Regierungslager sprach deshalb spöttisch vom Triciclo (Dreirad) -, hatte nicht den erhofften Erfolg. Das angestrebte Wahlergebnis von "35 Prozent plus x", das ein politisches Aufbruchsignal bedeutet hätte, wurde verfehlt. Dagegen konnten die ganz links stehenden kleineren Parteien Stimmen hinzugewinnen. Dementsprechend ist Prodis Aufforderung zur raschen Gründung einer Föderation aller Parteien des Mitte-links-Lagers mit großer Zurückhaltung aufgenommen worden. Die Zukunft des Ulivo ist offen. Die Integration von UDEUR, PdCI (Partito dei Comunisti Italiani), Verdi, Di Pietro und vor allem RC dürfte aufgrund bestehender Rivalitäten und inhaltlicher Differenzen - insbesondere in außen- und wirtschaftspolitischen Fragen
Nicht nur im Mitte-links-Spektrum, auch im "Haus der Freiheiten" gibt es erhebliche Differenzen. Mit Forza Italia, Alleanza Nazionale, Lega Nord, Unione Democristiana e di Centro (UDC), den Republikanern (PRI) und Nuovo PSI (als rechtsorientierte sozialistische Partei auch ein europäischer Sonderfall) sind hier mindestens so viele Interessengegensätze wie Gemeinsamkeiten unter demselben Dach vereint. Bereits vor Beginn der italienischen EU-Ratspräsidentschaft waren die Gräben innerhalb des Bündnisses sichtbar geworden (u.a. in Gestalt verlorener Parlamentsabstimmungen), brachen aber erst nach Ablauf dieser Schonfrist vollends auf und führten mit der Verschiebung der Kräfteverhältnisse infolge der Europawahl 2004 schließlich zu einer handfesten Regierungskrise. Während die kleinen Bündnispartner Berlusconis allesamt zulegen konnten, büßte Forza Italia 8,4 bzw. 4,2 Prozentpunkte gegenüber den letzten Parlaments- bzw. Europawahlen ein. Da Berlusconi die Wahl zu einem Plebiszit über seine Person gemacht hatte, bedeutete dies eine schwere Niederlage für ihn (die er zunächst eingestand, dann aber doch von "professionell organisiertem Wahlbetrug durch die Linke" sprach).
Die verlorenen Provinz- und Kommunalwahlen waren ein weiterer Rückschlag. Die Zusammenarbeit im Mitte-rechts-Lager (insbesondere mit der Lega Nord) funktionierte vielerorts nicht, was sich bei den Stichwahlen am 26./27. Juni als fatal erwies. Die Konsequenzen sind bedeutsam: Aus dem "Haus der Freiheiten", das bislang "das Bündnis des Präsidenten" war, in dem Berlusconi nahezu das alleinige Sagen hatte, ist plötzlich eine echte Parteien-Koalition geworden, in der die kleineren Bündnispartner neue Forderungen erheben und mit allem Nachdruck - nämlich unter Androhung von Koalitionsbruch und Neuwahlen - mehr Einfluss und politische Kurskorrekturen verlangen. Die im Juli 2004 von AN erzwungene Ablösung des "Superministers" für Wirtschaft und Finanzen Giulio Tremonti war deutlichster Ausdruck dessen. Während die Lega, durch den Verlust ihrer Führungsfigur (Umberto Bossi trat wegen seiner schweren Erkrankung am 19. Juli 2004 von seinem Amt als "Minister für institutionelle Reformen" zurück
Hinzu kommt, dass anstelle der von ihm - im Rahmen seines im Fernsehen inszenierten "Pakts mit den Italienern" - versprochenen Steuersenkungen seit seinem Amtsantritt ein Ansteigen der Steuerlast um 0,9 Prozent festzustellen ist, bei gleichzeitig galoppierenden Lebenshaltungskosten und wachsenden Problemen sozialer wie territorialer Ungleichheit.
Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation beider Lager wird klarer denn je: Das politische System Italiens wird auf absehbare Zeit zweigleisig organisiert bleiben, zwischen Koalitionen einerseits und Parteien andererseits, und auch die Instabilität wird andauern. Die durchschnittliche Dauer der Regierungen der zweiten Republik (beginnend 1994 mit Berlusconi I) ist zwar signifikant angestiegen - sie beträgt gegenüber 305 Tagen in der ersten Republik (1948 - 1993) derzeit 521 Tage -, aber Italien liegt damit noch immer unter dem europäischen Durchschnitt. Zudem ist dieser Anstieg maßgeblich auf den Sonderfall der Regierung Berlusconi II zurückzuführen, welche über die größte parlamentarische Mehrheit nach dem Zweiten Weltkrieg verfügt und den Rekord als längste Regierung Italiens gebrochen hat. Aufgrund der genannten strukturellen wie politisch-kulturellen Rahmenbedingungen ist jedoch davon auszugehen, dass die fehlende Homogenität beider Bündnisse wie auch die Tatsache weiterhin stark selbstreferentiell agierender - d.h. sich von den tatsächlichen Problemen der Bevölkerung abkoppelnder und allein auf die Wahrung ihrer Veto-Möglichkeiten bedachter - Parteien auch in Zukunft jedem der beiden Pole Probleme bereiten wird.
Die neue territoriale Dimension italienischer Politik
Neben dem Wandel des Parteiensystems stellt die gewachsene Bedeutung des Territoriums das zweite wesentliche Merkmal der zweiten Republik dar. Tatsächlich entstand in den Peripherien durch die sozialstrukturellen und wirtschaftlichen Veränderungen der siebziger und achtziger Jahre in Italien ein Reformbedarf, der von den traditionellen Parteien nicht erkannt bzw. ignoriert worden war. Insbesondere den Regierungsparteien in Rom liefen Anfang der neunziger Jahre die Wählerinnen und Wähler in Scharen davon. In vielen Regionen Italiens, vor allem im Norden und Nordosten, hatte sich ein massives Legitimations- und Steuerungsproblem der öffentlichen Hand aufgebaut, und Forderungen nach territorialer Autonomie wurden laut. Diese Probleme ließen sich nicht mehr wie gewohnt mit großzügigen finanziellen Mitteln zudecken, nicht zuletzt wegen der maroden Staatsfinanzen Italiens und der nahenden Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Nach dem Wegfall des Ost-West-Konflikts verloren die Parteien so ihre Funktion als "Kitt der ersten Republik". In der Folge wurden Reformen möglich, die das politische und gesellschaftliche System Italiens nachhaltig verändert haben. Meilensteine waren die in den Jahren 1993 bis 1995 eingeführten Direktwahlen von Bürgermeistern, Provinz- und Regionspräsidenten, die 1997 durch die "Bassanini-Gesetze" eingeleitete Verwaltungsmodernisierung, die Gesetze zur Reform der Finanzverfassung in den Jahren 1997 bis 2000, die Verfassungsreform 1999 und schließlich auch und vor allem die per Volksabstimmung vom 18. Oktober bestätigte Verfassungsreform 2001.
In der Folge all dessen etabliert sich in Italien allmählich eine "föderale Kultur". Auf lokaler wie auch regionaler Ebene ist eine neue politische Klasse entstanden, die - ausgestattet mit stabileren Mehrheiten - einen neuen, pragmatischen Politikstil entwickelt hat und vielfach auf größere zivilgesellschaftliche Partizipation setzt. Die Restaurierung der historischen Stadtzentren, ein systematisches (auch internationales) Stadt- und Regionalmarketing, neue Strategien der Wirtschaftsförderung, Beschäftigungsinitiativen sowie entschiedenere Kriminalitätsbekämpfung sind Ergebnisse dieser Veränderungen. Bürgermeister und Regionspräsidenten haben aufgrund ihrer direkten Legitimation durch das Volk und einer damit einhergehenden größeren Unabhängigkeit von den Parteien im nationalen Politikprozess signifikant an Einfluss zulegen können und gehen immer häufiger auf Konfrontationskurs zu Rom.
Allerdings befinden sie sich seit der Machtübernahme der Regierung Berlusconi II in einer zunehmend prekären Lage, denn diese betreibt eine Sparpolitik auf Kosten der Regionen und lokalen Gebietskörperschaften, nachdem bis zum Jahr 2000 noch ein Zuwachs an finanzieller Autonomie zu verzeichnen gewesen war. Die regionale Verschuldung hat sich infolgedessen in den letzten vier Jahren mehr als verdoppelt. Die Hebesätze auf regionale Steuern und Abgaben sind ausgereizt, und die bis 2006 aufgestellten Haushaltspläne sind schon heute Makulatur. Durch die Unterfinanzierung lassen sich viele Projekte nicht mehr realisieren und die hohen Erwartungen, welche die Gesellschaft inzwischen an Regionen und Kommunen stellt, kaum mehr erfüllen - von der Übernahme neuer Kompetenzen, wie sie mit Bossis Gesetz zur so genannten devolution geplant sind, ganz zu schweigen (hierfür wären 45 bis 50 Milliarden Euro zusätzlich notwendig).
Welch rasanten Bedeutungs- und Funktionswandel das Territorium in den letzten zehn Jahren durchlaufen hat, verdeutlicht allein der Umstand, dass von "Föderalismus" zu sprechen noch in den achtziger Jahren einem Angriff auf die Grundfesten des Staates und der Nation gleichkam. Inzwischen sind die Regionen ein anerkannter Modernisierungsfaktor für das italienische Staatswesen.
Mit dem Auftreten der Lega Nord wurde die räumliche Dimension erstmals von der Ressource zum Gegenspieler von Politik und Parteien in Rom. Dies war jedoch nur der Anfang eines umfassenderen Aufstandes der "Provinz" gegen die Institutionen des italienischen Staates und seine Verkrustungen ("Bewegung der Bürgermeister", "Bewegung Nordosten" u. a. m.). Ursachen sind massive Infrastrukturdefizite Italiens (Transport, Verkehr, Kommunikation), Defizite im Bildungssektor, bei Technologie und Raumordnung sowie ein Mangel an politischer Regulation bei gleichzeitig fundamentalen äußeren Veränderungen in Gestalt der Transnationalisierung mit wachsender Konkurrenz aus dem Osten. Die hieraus resultierenden einschneidenden Folgen für Ökonomie und Lebenswelt haben in weiten Teilender Bevölkerung eine "neue Unsicherheit" erzeugt. Im Nordosten bedroht der Verfall der Sozialstrukturen die Grundlagen des ökonomischen Modells vom "dritten Italien". Deshalb verlangt man dort nach staatlicher Modernisierung und der Bereitstellung "kollektiver Güter" bei weniger direkten Eingriffen Roms in die Wirtschaft. Im Norden wird generell auf Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Privatisierungen, Förderung des Mittelstandes, weniger Steuern, Entbürokratisierung und mehr Selbstbestimmung gepocht. Die föderale Staatsreform wurde angesichts der zentrifugalen Tendenzen von nahezu allen Parteien als notwendig akzeptiert, doch über die Reichweite der regionalen Autonomie und die Mitbestimmungsrechte an der nationalen Politik gibt es noch immer höchst unterschiedliche Auffassungen. Obwohl die bereits erzielten Reformen vornehmlich das Verdienst der Mitte-links-Regierungen sind, wurden erst im Juni 2004 Tendenzen wachsender Zustimmung für die Mitte-links-Parteien in Norditalien erkennbar. Die politischen Grenzen in der zweiten Republik sind insgesamt unschärfer als je zuvor, Mehrheitswechsel von einem zum nächsten Urnengang fast überall möglich.
Die Parteizentralen in Rom tun sich allesamt schwer bei der Kommunikation mit den Peripherien und der eigenen Parteibasis. Sie sind immer weniger in der Lage, vor Ort dauerhaft integrative Wirkung zu entfalten. Besondere Probleme hierbei hat Forza Italia, nicht zuletzt infolge der von ihr unterschätzten "Kraft des Raumes". Als Berlusconi-Wahlverein anfänglich allein um den medial und damit virtuell vermittelten Leader herum konstituiert, musste FI einsehen, dass eine national ausgerichtete Parteikonfiguration und eine ausschließlich über Berlusconi versuchte Integration zu wenig ist, um bei Gemeinde-, Provinz- und Regionalwahlen erfolgreich zu sein. Der Rückgriff auf lokal verankerte Vertreter der ersten Republik, vor allem Mitglieder der untergegangenen Democrazia Cristiana (DC), aber auch Sozialisten (PSI), Republikaner (PRI) und Liberaldemokraten (PLI), sollte das Problem lösen helfen. Mit ihnen als Mediatoren zwischen Zentrum und Peripherie hatte die Partei plötzlich auch subnational mehr Erfolg. Die Vermittlung zwischen Partei und Territorium erfolgt stark institutionell und personalisiert, über Bürgermeister, Provinzpräsidenten und Parlamentsmitglieder.
Damit ruht nicht nur das "Haus der Freiheiten" auf einem brüchigem Fundament, sondern Forza Italia selbst. In FI spiegeln sich die Interessengegensätze und ökonomischen wie sozialpolitischen Differenzen ihrer Bündnispartner wider: Lega Nord auf der einen und AN und UDC auf der anderen Seite. Das ist der Grund, warum die Regierung Berlusconi II in ihren bisher drei Amtsjahren wirtschafts- und steuerpolitisch weitgehend in Untätigkeit verharrte, keine ihrer vollmundigen und widersprüchlichen Versprechungen eingelöst und stattdessen eine konzeptionslose Tagespolitik betrieben hat. Bei den Wahlen im Juni 2004 wurde das entsprechend quittiert, denn sowohl in den süditalienischen als auch den norditalienischen Hochburgen wandten sich die Wähler von Forza Italia ab und gaben ihre Stimme AN, UDC, Lega oder DS.
Wo die territoriale Dimension für FI einen Schwachpunkt darstellt, bedeutet sie für die politische Linke eine Stärke: DS, PdCI und RC haben ihre traditionellen Hochburgen (im Wesentlichen Emilia-Romagna, Toskana und Umbrien) auch in der zweiten Republik behalten. Den Links-Parteien ist gelungen, was Mitte-rechts kaum bzw. nicht geschafft hat, nämlich die Konsolidierung des sozialen Kapitals in ihren Hochburgen. Tatsächlich wurde im "roten Gürtel" stets eine viel stärker raumorientierte Politik betrieben, und Markt und Soziales wurden unmittelbarer reguliert als andernorts. Die Tatsache, dass der PCI sich immer auch als "Partei der lokalen Verwaltung" verstanden und damit nicht nur in Opposition zur Regierung, sondern auch zum Zentralismus definiert hatte, entpuppte sich beim Umbruch zur zweiten Republik als Vorteil. Das über Jahrzehnte aufgebaute Vertrauen der Zivilgesellschaft gegenüber den lokalen Institutionen wird heute von den Linksdemokraten durch im roten Gürtel vielfach bessere öffentliche Dienstleistungen und ein - trotz desintegrierend wirkender externer Faktoren - noch immer erfolgreiches Wirtschaftssystem auf Basis kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) bestätigt. Damit ist die Parteibindung inzwischen allerdings auch hier nicht mehr so unmittelbar wie früher. Statt den "Faktor Raum" aber zum Element des politischen Wettbewerbs zu machen, versuchte die Linke lange Zeit erfolglos die Strategien Berlusconis, nämlich Personalisierung und Mediatisierung, zu imitieren. Erst seit kurzem gelingt es ihr, aus der territorialen Dimension vermehrt politisches Kapital zu schlagen. Seit den Juni-Wahlen 2004 wird Italien auf der Ebene der Provinzen und Kommunen zu etwa 70 Prozent von Mitte-links-Koalitionen regiert.
Verfassungsreformen als Schlusspunkt der Transformation?
Bisher wurde die italienische Verfassung im Wesentlichen nur im Titel V, der die Kompetenzen der Regionen und lokalen Gebietskörperschaften zum Gegenstand hat, verändert. Tatsächlich von einer "zweiten Republik" sprechen zu können setzt jedoch eine umfassende Staats- bzw. Verfassungsreform voraus. Am 17. Oktober 2003 hat die Regierung Berlusconi II, um den Transformationsprozess zu einem Ende zu bringen, deshalb einen entsprechenden Gesetzentwurf im Parlament eingebracht (Senato ddl. costituzionale No. 2544), der in Teil II der Verfassung ("Ordnung der Republik") nicht weniger als 43 Artikel berührt. Staats- und Regierungsform, Gesetzgebungsverfahren und das Verhältnis sämtlicher Verfassungsorgane zueinander werden verändert. Nach fünfmonatiger Beratung wurde das Gesetz am 25. März 2004 in erster Lesung vom italienischen Senat verabschiedet und liegt nun in der Abgeordnetenkammer (C. 4862), wo es im September zur Abstimmung kommen wird; nötig sind jeweils zwei Lesungen in beiden Kammern. Eine große Verfassungsreform wird seit dem Ende der so genannten ersten Republik nahezu einhellig von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft Italiens gefordert,
Der zentrale methodische Unterschied zu allen bisherigen Reformversuchen ist, dass die Regierungsmehrheit das Projekt im Alleingang - gegen den energischen Widerstand der parlamentarischen Opposition wie auch der Regionen, Provinzen und Kommunen - vorantreibt, was in die insgesamt konfrontativ ausgerichtete, machtorientierte Politik Berlusconis passt. Art. 138 der italienischen Verfassung ermöglicht Verfassungsänderungen auch ohne Zweidrittelmehrheit, wenn diese anschließend in einem Referendum von einer Mehrheit der Teilnehmenden angenommen werden (referendum confermativo). Dabei hat diederzeitige Mitte-links-Opposition selbst die "Büchse der Pandora" geöffnet, indem sie in ihrer Regierungszeit mit dem Gesetz zur Föderalisierung 2001 erstmals diesen Weg beschritten hat. Es gibt jedoch zwei wesentliche Unterschiede: Erstens ändert das Reformgesetz 2544 die "demokratischen Spielregeln", und zweitens ist es weitaus umstrittener als das Verfassungsgesetz von 2001. Tatsächlich hat die geplante Verfassungsreform der Regierung Berlusconi II mehrere große und viele kleine Fehler.
Zugleich werden die Kompetenzen des Staatspräsidenten, der bisher im politischen System Italiens durchaus einigen Einfluss hat (etwa auf die Regierungsbildung, bei der Kontrolle der Gesetzgebung, bei der Ernennung der Minister sowie durch seine Befugnis zur Auflösung des Parlaments), eine wichtige demokratische Garantiefunktion ausübt und sich auch in die Tagespolitik einmischt, auf rein repräsentative Aufgaben beschränkt - vergleichbar dem deutschen Bundespräsidenten. Italien soll eine neo-parlamentarische Regierungsform erhalten. Das bedeutet, dass zwar im Grundsatz ein "Vertrauensverhältnis" zwischen Parlament und Regierungschef besteht, dieser jedoch nicht mehr vom Parlament gewählt wird. Stattdessen avanciert der Spitzenkandidat des bei der Wahl zur Abgeordnetenkammer siegreichen politischen Bündnisses automatisch zum Regierungschef. De facto handelt es sich um eine Direktwahl. Ständige Regierungswechsel wie in der ersten Republik (und zum Teil noch in der zweiten) und Regierungen, die nicht unmittelbar vom Volk legitimiert sind, sollen unmöglich gemacht werden. Daraus resultiert aber letztlich ein Parlament am Gängelband des Premiers, was einen zentralen Unterschied zu präsidentiellen Systemen wie z.B. den USA darstellt, die auf starken Gegengewichten, insbesondere einem von der Exekutive unabhängigen Parlament, fußen. Die Aushebelung bzw. das Fehlen der checks and balances ist das eigentliche Problem der Reform. Abgeordnetenkammer und Staatspräsident werden geschwächt, die Regionen und die parlamentarische Opposition (die in Italien einen eher schwachen Stand hat) jedoch nicht in ihren Rechten gestärkt. Ebenso wenig werden Elemente direkter bzw. partizipativer Demokratie hinzugefügt.
Ein weiterer großer Schwachpunkt ist die vollkommen unzureichende Reform des Senats. Dieser sollte eigentlich zu einer "Kammer der Regionen" gemacht werden, d.h. zu einer wirklichen Vermittlungsinstanz zwischen nationaler und subnationaler Politik. Damit würde nicht nur die föderale Reform Italiens endlich komplettiert, sondern auch das obsolete, weil ineffektive System der vollkommenen Gleichberechtigung beider Kammern fände ein Ende. Stattdessen erfolgt eine halbherzige Umgestaltung ohne tatsächliche Mitbestimmung der Regionen, die zu noch mehr Komplexität führen dürfte. Der Senat soll nur unwesentlich von 315 auf 209 Mitglieder verkleinert werden und ist als wirkliche Territorialvertretung angesichts der geringen Fläche Italiens damit viel zu groß. Zudem ist die vorgesehene Bindung zur subnationalen Politik, die im Wesentlichen in der zeitgleichen Wahl von Regionalräten und Senat besteht, äußerst fragwürdig und schwach. Vor dem Hintergrund der für den Senat geplanten Wiedereinführung des Verhältniswahlrechts ist absehbar, dass dieser fest im Griff der Parteien bleiben wird. In Anbetracht der nicht vorhandenen "Vertrauensbindung" zur Regierung besteht die Gefahr neuer politischer Blockadesituationen. Insbesondere aber wegen der fehlenden Interessenvertretung der Regionen ist der institutionelle Kollaps vorprogrammiert, denn Konflikte lassen sich nicht politisch verarbeiten und werden deshalb vor dem Verfassungsgericht landen. Das aber ist schon jetzt vollkommen überlastet, denn aufgrund der unvollendeten Föderalismusreform 2001 ist die Zahl der Kompetenzkonflikte sprunghaft angestiegen. Im Moment sind über 200 Klagen anhängig, Tendenz steigend. Da der Senat seine neuen Kompetenzen schon im Jahr 2006 übernehmen soll, seine Neukonstitution aber erst 2011 erfolgt, wird obendrein der Re-Zentralisierung Tür und Tor geöffnet. Die für den Gesetzgebungsprozess geplanten Änderungen sind kompliziert und ineffektiv, nach wie vor müssten ca. 90 Prozent aller Gesetze von beiden Kammern beschlossen werden. Dabei könnten neuralgische Bereiche wie Justiz und Medien in Zukunft von der Abgeordnetenkammer (im Griff des Premiers) allein entschieden werden. Hinzu kommt ein höchst widersprüchlicher Umgang mit der Rolle der Regionen. Einerseits erhalten sie neue, "ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen" in den Bereichen Schule, Gesundheitswesen und lokale Polizei, indem das von der Lega Nord erzwungene Gesetz zur devolution in die große Verfassungsreform integriert wird.
Die Verfassungsreform der Regierung Berlusconi II ist nicht nur nicht geeignet, die bestehenden Probleme Italiens zu lösen und den Transformationsprozess zu beenden, denn sie führt weder zu einer Verbesserung des politisch-institutionellen Entscheidungssystems noch zur Komplettierung der bisherigen Reformen und mehr Demokratie. Sie geht noch dazu von völlig falschen Voraussetzungen aus und verschweigt bereits erreichte substanzielle Veränderungen im politischen System Italiens. So sind z.B. die Rollen von Regierung und Opposition in der zweiten, bipolar strukturierten Republik sehr klar verteilt und die extreme Parteienherrschaft inzwischen Geschichte, nicht zuletzt infolge der Autonomisierung subnationaler Politik. Das Mehrheitswahlrecht und die Reformen der neunziger Jahre haben außerdem auf allen Ebenen längst mehr Regierungsfähigkeit und Stabilität bewirkt. Die europäische Integration hat im Policy-Bereich ebenfalls Änderungen induziert und stabilisierende Effekte gehabt. Hinzu kommen die Reformen des Präsidialamtes und der Ministerien durch die Gesetze No. 300/1999 und No. 303/1999 sowie No. 317/2001, mit Hilfe derer die Führungs- und Koordinationskompetenz des Ministerpräsidenten deutlich vergrößert wurde.
Darüber hinaus gibt es Besonderheiten im Regierungssystem, die der Exekutive erhebliche Handlungskompetenzen verschaffen, welche in manch anderem Land in dieser Form undenkbar wären, wie etwa das Verfahren der leggi delega. Dabei wird die Regierung durch das Parlament zum Erlass von Gesetzen ermächtigt, was vielfach "Blanko-Schecks" in wichtigen politischen Fragen gleichkommt - eine Praxis, die in dieser Qualität in der Ära Bettino Craxi Einzug gehalten hat. Der umfangreiche Gebrauch und das Ausmaß der Entscheidungsspielräume haben das Verfassungsgericht schon mehrfach zum Einschreiten gezwungen. Hinzu kommt der Missbrauch der decretazione d'urgenza, d.h. die Anwendung und vielmalige Verlängerung von eigentlich nur in Krisensituationen übergangsweise zulässigen Regierungsdekreten. Schließlich ist noch auf den überreichlichen Gebrauch der Vertrauensfrage hinzuweisen (von der Regierung Berlusconi bislang schon 22 Mal benutzt), die als Instrument zur Überwindung der innerkoalitionären Differenzen in den höchst heterogenen Bündnissen herhalten muss, sich aber mehr denn je als wirksames Mittel im Gesetzgebungsverfahren erweist. All diese Elemente bedeuten eine Art des Regierens im permanenten Ausnahmezustand und damit die partielle Aussetzung liberaldemokratischer Grundsätze - insofern ist Italien tatsächlich ein politisches Laboratorium Europas. Doch zugleich dokumentieren sie die Durchsetzungsfähigkeit der italienischen Regierungen, wie gerade Berlusconi, der ein Gesetz nach dem anderen durch das Parlament peitschen lässt, darunter die Gesetze zur Immunität der höchsten Staatsämter (vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt), zum Mediensektor (Gasparri-Gesetz), zur Strafprozessordnung (Cirami-Gesetz), zur Einwanderung (Gesetz Bossi-Fini; vom Verfassungsgericht wegen der Aufhebung rechtsstaatlicher Prinzipien für teilweise verfassungswidrig erklärt), zur Bilanzfälschung, zur Aufhebung der Erbschafts- und derSchenkungssteuer, zur Legalisierung von "Schwarzgeldern" aus dem Ausland usw., anschaulich macht.
Auch die Übernahme zentraler Ministerien durch Berlusconi zur Abwendung bzw. Überwindung politischer Krisen - nach elf Monaten als Außenamtschef im Jahr 2002 wurde er im Juli 2004 für zwei Wochen "Superminister" für Wirtschaft, Haushalt, Finanzen und Süditalien-Politik - gehört in den Kontext des Regierens im Ausnahmezustand. Kurzum: Statt Machtlosigkeit der Regierung ist Machtkonzentration inzwischen ein zentrales Problem des politischen Systems Italiens. Das bedeutet nicht, dass Verfassungsreformen nicht notwendig wären. Doch sie müssen an den richtigen Stellen, mit entsprechendem Augenmaß erfolgen und begleitet sein von effektiven Lösungen für das Problem des Interessenkonflikts
Fazit und Ausblick
Der italienische Transformationsprozess wird in absehbarer Zeit kein Ende finden. Zwar hat sich seit dem Ende der ersten Republik bereits einiges bewegt, viele entscheidende Reformen stehen jedoch noch aus, wie z.B. die der Finanzverfassung und der Justiz,