I. Einleitung
"Bei zeitgeschichtlichen Dokumentationen zum Nationalsozialismus erscheinen so gut wie nie Historiker vor der Kamera." Diesen Befund konnte man unlängst in einer Fachzeitschrift lesen. Der Autor brachte die Abwesenheit der Historiker in Verbindung mit einer ZDF-Medienforschungsstudie, wonach die Zuschauer "am wenigsten gern aus Gesprächen mit Historikern lernen"
Grundsätzlich neu ist diese Situation nicht. Die Geschichtswissenschaft hat noch nie das Monopol für die Vermittlung von Geschichte besessen. Friedrich Meinecke notierte anno 1908, "daß unsere historischen Studien nicht mehr wie damals das Ohr der Nation haben, nicht mehr getragen sind von einer allgemeineren Teilhabe"
Doch ist die Konkurrenz, der sich die Zunft der Historiker ausgesetzt sieht, in den letzten zwei, drei Jahrzehnten viel stärker geworden. Geschichte ist eine Ressource, um deren Nutzung eine steigende Zahl von Akteuren mit unterschiedlichen Zielen und Interessen in wachsender Formenvielfalt konkurriert. Zur Verdeutlichung genüge zunächst der Hinweis auf den Boom an Museen, Ausstellungen und Gedenkfeiern sowie den breiten Einzug historischer Themen in die audiovisuellen Medien. Der Geschichtsboom hat nicht nur Deutschland erfasst, sondern ist international. Henri Rousso, ein führender französischer Zeithistoriker, hat kürzlich ein Buch mit dem Titel "La hantise du passé" veröffentlicht, was man mit "Vergangenheitsbesessenheit" übersetzen könnte. Die Verhältnisse in Frankreich vor Augen, polemisiert er gegen das, was er "medial verordnete Gedächtnispflicht" nennt; er verwahrt sich gegen das Treiben der "Gedächtnisindustrie", die den Marktwert der Geschichte ausbeute und dabei das historische Wissen eher verneble als erhelle
Ein solches Buch verlängert die Kette der Indizien dafür, dass die Tradierung der Geschichte und die Auseinandersetzung mit ihr vielfältiger und diffuser geworden sind. Der Boom erfasst nicht nur die Zeitgeschichte, sondern greift über die Epochen hinweg. So zählt die Stuttgarter Ausstellung über die Zeit der Staufer, die 1977 unerwartet viele Besucher anzog, zu den frühen Anzeichen des Booms in Deutschland. Aber er betrifft die Zeitgeschichte doch besonders stark. Die Nähe zur Gegenwart verdichtet das Interesse. "Vergangenheitsbewältigung" als Medium der politischen Auseinandersetzung und als Prüfstein der politischen Kultur steigert die Resonanz. Zudem bezieht sich Zeitgeschichte auf Zeitgenossen, die über persönliche Erinnerungen und somit über eine Art Direktzugang zur jüngeren Vergangenheit verfügen; das wirkt motivierend und erweitert den Stimmenchor der Deutungskonkurrenz.
Es mag also nützlich sein, Klarheit über einige grundsätzliche Fragen zu gewinnen, wie: Welche Zugangsweisen zur Zeitgeschichte gibt es und wie kann man sie in typologisierender Absicht voneinander abgrenzen? Worin liegt das Spezifische des fachhistorischen Zugangs? Was macht "die Konkurrenz" anders und warum ist sie seit den siebziger Jahren stärker geworden? Welche Spannungen gibt es zwischen den - und womöglich auch innerhalb der - einzelnen Domänen der Vermittlung von Zeitgeschichte?
II. Zwei Beispiele
Der Untertitel meines Beitrags schlägt eine Dreiteilung vor. "Primärerfahrung" bezieht sich auf die selbst erlebte Vergangenheit. Darin liegt ein so elementarer Zugang zur Zeitgeschichte, dass seine Wirkung und Bedeutung besondere Aufmerksamkeit verdienen. Was man neuerdings "Erinnerungskultur" nennt, dient als lockerer Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit - mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke, von der Gedenkrede des Bundespräsidenten über die Denkmalpflege bis zum Fernseh-Infotainment über "Hitlers Frauen". Davon wird schließlich die zeitgeschichtliche Forschung abgegrenzt, in der Annahme, dass es charakteristische Unterschiede gibt zwischen Zeitgeschichte als persönlicher Erinnerung, als öffentlicher Praxis und als wissenschaftlicher Disziplin.
Ob diese Trias etwas taugt, sei erst einmal mit zwei Beispielen auf die Probe gestellt. Unlängst hat Sabine Arnold eine eindrucksvolle Studie über "Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis" veröffentlicht
Die Stilisierung begann schon im Februar 1943, als Regisseure der Moskauer Filmstudios die Schlacht in den Ruinen der Stadt nachstellten. Seither war die heroische Kriegserinnerung in der sowjetischen Kultur bis 1992 geradezu allgegenwärtig. Zu Füßen des zentralen Gedenkkomplexes auf dem Mamaj-Hügel in Stalingrad beschworen Pioniere, Komsomolzen, Parteisekretäre, Arbeiter und Armeeangehörige alljährlich ihren Willen zur Nachfolge; sie gelobten, ihr Leben in den Dienst der Partei zu stellen, die zu so großen Siegen befähigt. Die Standards der Wissenschaft repräsentiert in diesem Beispiel die Studie von Sabine Arnold. Mit analytischer Distanz untersucht sie Formen, Funktionen und Wirkungen des Stalingrad-Kults. Sie zeigt, wie die parteipolitisch verbreiteten Stereotypen, Bilder und Begriffe die persönlichen Erinnerungen zu überformen und zu verändern vermochten, ohne aber Bruchlinien zwischen privatem und "okkupiertem Gedächtnis" ganz verwischen zu können
Nun ließe sich einwenden, eine so dezidierte Dreiteilung sei spezifisch für Diktaturen. Wählen wir daher ein zweites Beispiel, das uns näher liegt, nämlich die Frage nach der historischen Einordnung des 8. Mai 1945. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner Gedenkrede zum 40. Jahrestag betont, "was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung". Diese Deutung hat sich in der öffentlichen Erinnerungskultur der Bundesrepublik inzwischen weithin durchgesetzt. Sie stimmt mit der Primärerfahrung von Minderheiten überein, insbesondere der befreiten KZ-Häftlinge, aber durchaus nicht mit der Primärerfahrung eines Großteils der Deutschen. Wohl die Mehrheit erlebte das Kriegsende als Zusammenbruch dessen, worauf man gebaut hatte; bei vielen Millionen kamen persönliche Lebenskatastrophen besonderer Art hinzu, vor allem im Zusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland. Auch die Besatzungsmächte interpretierten das Kriegsende ursprünglich keineswegs als "Befreiung" der Deutschen. Die sowjetische Zensur wies eine solche Auffassung scharf zurück
Die öffentliche Erinnerungskultur hat hier also eine Umdeutung vorgenommen. Diese orientiert sich - was ganz legitim ist - an Wertideen, die heute die politische Kultur prägen. Der Mai 1945 gewinnt, so gesehen, Symbolbedeutung für das Ende des Verbrechensregimes und die Öffnung großer Chancen für eine freiheitliche Entwicklung (im Westen) Deutschlands. Viele Deutsche haben die Realität des Kriegsendes damals aber nicht unter diesen Gesichtspunkten erlebt und gedeutet. Zwischen dem öffentlichen Gedenken und der persönlichen Erinnerung können daher Spannungen bestehen, über die im privaten Kreis gesprochen wird, die aber auch - wie im Mai 1985 - zu Protesten und öffentlichen Deutungskonflikten führen können. Und der Part der Geschichtswissenschaft? Er lässt sich exemplarisch an einer grundlegenden Studie über "Die amerikanische Besetzung Deutschlands"
Die vorgeschlagene Dreiteilung kann sich also auf den ersten Blick durchaus bewähren. Sieht man genauer hin, so wird das Bild freilich komplizierter. Dann kommen mancherlei Verflechtungen, Überschneidungen und Wechselbeziehungen zum Vorschein. Daher möchte ich in einem zweiten Anlauf nicht mehr von einzelnen Beispielen ausgehen, sondern einige systematische Überlegungen vortragen.
III. Primärerfahrung und kommunikatives Gedächtnis
Jeder speichert im Laufe seines Lebens eigene Geschichtserfahrungen. Dabei nimmt jeder andere Ausschnitte der Wirklichkeit wahr und verknüpft sie auf je eigene Weise mit dem subjektiven Beziehungsnetz seiner Lebenswelt. Franz Kafka notierte am 2. August 1914 in sein Tagebuch: "Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. - Nachmittags Schwimmschule." So eigentümlich können sich Öffentliches und Privates, Allgemeines und Besonderes vermischen, und im Grunde gibt es so viele Varianten von Primärerfahrung wie es Menschen gibt. Walter Kempowski hat diesen unerschöpflichen Reichtum eindrucksvoll demonstriert, als er aus verstreuten "Ego-Dokumenten" eine Art kollektives Tagebuch zusammenstellte, das die Realität des Krieges während einiger Wochen des Jahres 1943 mit nahezu endlos vielen Brechungen und Schattierungen spiegelt
Die persönliche Erinnerung wird aber durchaus nicht allein vom eigenen, primären Erleben bestimmt, sondern ist immer auch Teil größerer Zusammenhänge, von denen es beeinflusst wird, mit denen es lebt und sich verändert. Darauf will der Begriff des "kollektiven Gedächtnisses" aufmerksam machen, der indessen zwei deutlich zu unterscheidende Konstruktionsweisen umfasst. Für die eine hat sich der Begriff des "kommunikativen Gedächtnisses" eingebürgert
Der andere Modus hingegen ist nicht an die Selbstdeutung persönlicher Erfahrungen gebunden. Hier beginnt das Revier der öffentlichen Erinnerungskultur, die sich vom lebendigen Gruppengedächtnis löst, anders geformt und gestützt wird, nämlich institutionell. Mit der institutionellen Bearbeitung kommen andere Verfahrensmöglichkeiten zum Zug und treten andere Geltungskriterien in Kraft. Das lässt sich am leichtesten daran erkennen, dass die institutionell gestützte Erinnerung weit entfernte Zeiten einbeziehen kann, die längst nicht mehr von persönlichen Erinnerungen getragen werden. Wer eine Ausstellung über den Westfälischen Frieden macht, muss daher auch nicht mit dem Protest von Besuchern rechnen, die sich auf das eigene Erleben berufen. Bei der "Wehrmachtsausstellung" war das bekanntlich anders. Hier wird wieder ein Spezifikum der Zeitgeschichte sinnfällig, das uns schon am Beispiel der Erinnerung an den 8. Mai begegnet ist: Es können immer wieder Spannungen aufbrechen zwischen persönlichen Erinnerungen oder Gruppengedächtnissen einerseits und der institutionell gestützten, öffentlichen Erinnerungskultur andererseits, wobei zu den "Institutionen" im Beispielsfall der Wehrmachtsausstellung vor allem das Hamburger Institut für Sozialforschung, die einladenden Städte und die berichtenden Medien zu zählen sind.
Wie stark diese Spannungen sein können, zeigen zwei autobiographische Texte. Martin Walsers Kindheitsroman "Ein springender Brunnen" ist heftig dafür kritisiert worden, dass die Last der NS-Verbrechen dort nicht spürbar werde. Walser hingegen insistiert darauf, über diese Zeit so zu reden, wie er sie damals erfahren habe, und nicht so, wie man heute über sie rede. Sonst sei er "einer mehr, der über damals redet, als sei er damals schon der Heutige gewesen"
Bei dem anderen Text handelt es sich um die Autobiographie des Schweizer Klarinettisten Binjamin Wilkomirski: "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-48"
Wie man inzwischen weiß, handelt es sich bei diesem Buch um eine Erfindung - keine literarische, weil ja der Bonus des Selbsterlebten ganz und gar in Anspruch genommen war, sondern um eine Fälschung
Walser und Wilkomirski verkörpern zwei besonders weit auseinander liegende Varianten im Verhältnis von individueller und öffentlicher Erinnerung: Der eine liefert eine Abwehrschlacht des Eigensinns, der andere traf den Nerv der Zeit, indem er sein Selbst auslöschte. Im allgemeinen hat man es aber nicht mit einem so klaren Entweder/Oder zu tun, sondern mit recht komplizierten Verflechtungen. Die Mitlebenden kämpfen mit mehr oder minder großem Erfolg um die Wahrnehmung ihrer eigenen Erinnerungen im öffentlichen Raum. Und umgekehrt werden die eigenen Erinnerungen beeinflusst von den "Stützen und Zensuren", die die Öffentlichkeit bereit hält
IV. Zeitzeuge und Zeithistoriker
Über Chancen, Risiken und Techniken der Oral History liegt eine so ausgedehnte Literatur vor, dass ich mich hier auf wenige Hinweise beschränken kann. Es gibt eine Schrecksekunde, die wohl jeder kennt, der zeithistorische Vorlesungen hört oder hält: Aus dem Kreis der Seniorenstudenten erhebt sich jemand und sagt: "Das war aber ganz anders. Ich weiß das, denn ich habe es selber erlebt." In solchen Momenten macht sich abermals eine Spannung bemerkbar, diesmal zwischen Zeitzeugenschaft und Zeithistorie. Diese Spannung existiert unabhängig von den beteiligten Personen, sodass ein geflügeltes Wort sagt, der Zeitzeuge sei der natürliche Feind des Zeithistorikers
Aber im Metier des Historikers sind alle diese Vorbehalte auf das Konto "Quellenkritik" zu verbuchen und bezeichnen noch nicht die prinzipielle Trennlinie. Diese liegt vielmehr darin, dass der Erlebnishorizont des Zeitzeugen nicht identisch ist mit dem Erklärungshorizont des Zeithistorikers. Warum das so ist, hat Max Weber auf den Punkt gebracht, als er schrieb: "Stets gewinnt das ,Erlebnis', zum ,Objekt' gemacht, Perspektiven und Zusammenhänge, die im ,Erleben' eben nicht bewußt werden." Die Zeithistorie bringt daher unentwegt Perspektiven und Zusammenhänge hervor, die im "Erleben" eben nicht bewusst waren. Nur so kann sie erlebte Zeit in historische Zeit verwandeln; nur so kann - wie Jacob Burckhardt sagte - "Erkenntnis" werden, "was einst Jubel und Jammer war"
Zwar gilt für Historiker aller Epochen, dass sie erlebte Zeit in historische Zeit verwandeln und somit gewissermaßen enteignen
Die Begegnung von Zeitzeugenschaft und Zeithistorie kann andererseits, wenn man die fundamentale Differenz nicht überspielt, sondern in Rechnung stellt, höchst fruchtbar sein. Erfahrene Oral Historians betonen, wie heilsam der "Enttypisierungsschock" ist, der sich einstellt, wenn ein allzu schematischer Untersuchungsrahmen auf das "Vetorecht" widerspenstiger lebensgeschichtlicher Details stößt, sodass der Blick für Mischungen und Übergänge geschärft wird
Der wirkliche Zusammenhang ergibt sich aus einer anderen Überlieferung, aus den Akten des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes der SS: Nach dem Scheitern des "Blitzkriegs" wollte das NS-Regime die Konzentrationslager stärker in die Rüstungsproduktion einbeziehen; daher wurden die Kommandanten angewiesen, die Arbeitskraft der Häftlinge ökonomischer zu nutzen und die Lagersterblichkeit zu senken. In dieser Weisung liegt die Ursache für die Zäsur in der Lagergeschichte, nicht in der Person des Martin Weiß, der zuvor in Neuengamme ein brutaleres Regiment geführt hatte und im November 1943 als Kommandant nach Lublin-Majdanek ging
V. Erinnerungskultur
Wir haben uns bisher vorwiegend in der Reichweite der Stichworte "Primärerfahrung" und "kommunikatives Gedächtnis" bewegt und beginnen nun eine tour d'horizon auf den Feldern der "Erinnerungskultur". Da die Urform der Erinnerungskultur die religiöse ist, empfiehlt es sich, als Prototyp das Deutoronomium des Alten Testamentes vorzustellen
Auch das Christentum ist eine "Gedächtnisreligion". Es hat die Grundlagen der Gedächtniskultur des Okzidents wesentlich geprägt
Mehr und mehr hat indessen der säkularisierte Blick auf die Vergangenheit an Bedeutung gewonnen. Dabei nimmt die genuin politische Dimension des historischen Argumentierens und Repräsentierens breiten Raum ein, somit das weite Feld der Geschichtspolitik. Dass mit Geschichte Politik gemacht wird, ist ganz wertneutral gesagt. Eine Bewertung hängt davon ab, wie und wozu Geschichte als Argument - oder Waffe - eingesetzt wird. Bekanntlich findet man Geschichtsbilder in allen erdenklichen politischen Zusammenhängen, jeweils passend zurechtgelegt, auch um Kriege zu rechtfertigen
Der politische Gebrauch der Geschichte ist aber auch ein wichtiger Teil der Selbstverständigung pluralistisch verfasster Gesellschaften und mithin ein Lebenselixier der Demokratie
In der Bundesrepublik kommen spezielle Impulse hinzu: Das geschichtspolitische Interesse wird durch die "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"
Merkwürdig unsicher verhält sich das deutsche historische Gedächtnis hingegen zu Flucht und Vertreibung von über zwölf Millionen Ostdeutschen, wobei etwa zweieinhalb Millionen Menschen umkamen. Weitgehend der privaten Erinnerung überlassen bzw. in die Erinnerungsmilieus der Vertriebenenverbände abgedrängt, finden diese Schicksale in der gemeinsamen Erinnerung der Nation nur zögerlich und wenig Raum. Gewiss ist es schwierig, hierfür angemessene Formen des Erinnerns und Gedenkens zu finden, denn diese müssen den elementaren Wirkungszusammenhang mit dem nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg beachten und die Vertreibung der Deutschen in eine Gesamtschau der "ethnischen Säuberungen" einordnen, die das 20. Jahrhundert mit einer furchtbaren Gewaltspur durchziehen
Auch in anderen westeuropäischen Ländern hält die kritische Sondierung der eigenen Zeitgeschichte die interessierte Öffentlichkeit in Atem. So ist in Frankreich und Italien der Streit um die langen Schatten von Vichy beziehungsweise den italienischen Resistenza-Mythos seit längerem voll entbrannt
"Geschichtspolitik" erfasst aber bei weitem nicht alles, was der Hinweis auf den Geschichtsboom eingangs angedeutet hat. Historische Bezüge durchdringen ja nicht nur die politische Sphäre im engeren Sinne, sondern auch die Gesamtheit der kulturellen Öffentlichkeit und der Alltagswelt
Eine engere, auch resonanzreichere Beziehung verbindet Historie und Bildhauerkunst. Plastiken und Skulpturen zählen zu den zentralen Elementen der öffentlichen historischen Erinnerung, besonders auch als Mahn- und Gedenkzeichen für Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus. Exemplarisch sei das Mahnmal des Bildhauers Hubertus von Pilgrim hervorgehoben, das in mehreren Kopien den Weg des Evakuierungsmarsches von Dachauer KZ-Häftlingen im April 1945 säumt
Nach wie vor haben theatralische und literarische Gestaltungen großen Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein. Man denke nur an das enorme Aufsehen, das Rolf Hochhuths provozierendes Schauspiel "Der Stellvertreter" erregt hat, oder an zwei der berühmtesten und erfolgreichsten Romane der westdeutschen Gegenwartsliteratur, beide der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gewidmet: "Die Blechtrommel" von Günter Grass und "Die Deutschstunde" von Siegfried Lenz. Auch Romane, die man in den gängigen Literaturgeschichten vergeblich sucht, können sich als starke Beispiele für "Geschichte als Literatur" erweisen, so besonders Gert Ledigs Roman "Vergeltung", der das Inferno des Bombenkriegs in einer deutschen Stadt im Sommer 1944 so atemberaubend dokumentiert, wie das mit dem Handwerkszeug des Historikers nicht möglich wäre
Gegenüber den älteren Kunstgattungen haben neuerdings andere ästhetisch-kulturelle Vermittlungsformen deutlich an Breitenwirkung gewonnen. Das betrifft neben Museen und Ausstellungen vor allem die audiovisuellen Medien: den Film und das Fernsehen. Anscheinend ist unsere Zeit so "museumsfreudig und vor allem museumsgründungsfreudig wie keine zuvor"
Das Medium aber, das seit den siebziger Jahren den bei weitem größten Wirkungsvorsprung gewonnen hat und heutzutage als "häufigste und wichtigste Informationsquelle für zeitgeschichtliche Themen" dient, ist das Fernsehen. Dieser Befund gilt für die Mittelwerte aller Altersgruppen und aller Bildungsstufen
Wie die Massenmedialisierung der Geschichte wächst auch die Kommerzialisierung: "History sells". Große Teile der Kulturindustrie verarbeiten den Betriebsstoff "Geschichte" nach den Gesetzen des Markterfolgs, das heißt, sie bereiten ihn nach Maßgabe einer möglichst großen Einschaltquote oder Auflage und einer möglichst hohen Käufer- und Besucherzahl auf. Der Holocaust ist vom Marketing nicht ausgenommen ("Shoa Business")
Aufs Ganze gesehen will es scheinen, dass wir in einer Zeit durchgreifender Historisierung leben. Wurde um 1970 ernsthaft gefragt "Wozu noch Geschichte?", so ist unsere Gegenwart von Vergangenheitsbezügen regelrecht überflutet, auch von Nostalgiewellen in der Mode; man denke nur an das historisierende Baudekor, das anspruchsvolle Einfamilienhäuser mit Gauben und Erkern aufputzt. Will man die schwierige und strittige Frage wenigstens streifen, wie der expansive Historismus unserer Tage zu erklären ist, so verweist man gern auf das Kompensations-Theorem, wonach die "Vergangenheitszugewandtheit" der Kultur der Gegenwart - um es mit den Wortgirlanden Hermann Lübbes zu sagen - eine "Kompensation der belastenden Erfahrungen eines änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwundes" ist
In der Tat ist der Siegeszug des Konzepts "Geschichte als Fortschritt" - er reichte vom 18. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre und zwang sogar seinen Gegnern das Referenzsystem auf - mittlerweile überholt und ersetzt worden von dem anders akzentuierten Konzept "Geschichte als Gedächtnis". In den Gegen- und Ergänzungsbewegungen zur Moderne, die der Postmoderne-Begriff zu erfassen sucht, sind alle großen Zentraltheorien zerstoben, die so etwas wie eine Einheit der Geschichte synthetisiert haben. Daher beherrschen heute Chiffren und Kürzeln wie "Differenz" und "Alterität" die intellektuelle Szene. Der Singular der Geschichte ist in den Plural der Geschichten zerfallen. Diese Diffusion entspricht der Pluralisierung der Lebensformen und Lebensstile, die "ihre" Geschichte jeweils mit eigenem Sinn füllen. In den USA, dem Land der tausend Minderheiten, ist das noch viel ausgeprägter als hierzulande, weil dort die Geschlechter, Ethnien und Gruppenidentitäten ihre "Identitätspolitik", zum Teil auch ihr Streben nach Opfer-Image ("Culture of Victimization"), historisch grundieren und mit Verve um die Repräsentation "ihrer" Geschichte im öffentlichen Raum ringen.
VI. Geschichte als Wissenschaft
Was unterscheidet die zeithistorische Forschung von allen bisher betrachteten Zugangsweisen? Worin liegt das spezifisch "Wissenschaftliche" der Zeithistorie? Will man die Antwort in aller Kürze umreißen, so ist zunächst "der Zweifel an der Geltung von Aussagen" als "konstituierender Faktor" des wissenschaftlichen Denkens zu betonen
Damit sind einige Eingangsschwellen angedeutet, die den wissenschaftlichen Zugang zur Zeitgeschichte von anderen Zugängen unterscheiden, vor allem: Quellenkritik, Standpunktreflexion und Forschung als Prozess. Als quellenkritische Experten, auch als Experten der Archiv-Recherche, sind die Zeithistoriker in der Regel kaum angefochten. Sie haben zwar viel Konkurrenz bei der Vermittlung, aber wenig bei der Ermittlung historischer Tatsachen. Hier ist ihre Sachautorität groß, weil sie sich vom Vetorecht der Quellen und dem Zwang zu dokumentarischer Evidenz ableitet. Hier ist auch die fachinterne Einigungschance relativ hoch, was nicht ausschließt, dass manche Kontroverse durch die Jahrzehnte schwelt wie die um den Reichstagsbrand. - Standpunktreflexion: Damit wird die Perspektivengebundenheit jeder historischen Erkenntnis erkannt und anerkannt, gerade so aber auch die Möglichkeit eröffnet, eine Vielzahl von Blickwinkeln gegeneinanderzuhalten oder unterschiedliche Sichtweisen miteinander zu verbinden. Hier geht es nun nicht mehr um die Ermittlung historischer Tatsachen, sondern um ihre Verknüpfung und Einordnung, ihre Erklärung in größeren Zusammenhängen.
Damit öffnen sich weite Arenen für fachliche Kontroversen, da selbst die strengste historische Methode oft mehrere Möglichkeiten der Verknüpfung und Erklärung offen lässt. Daher können gedankliche Leistungen des Forschers, die für die Konstitution historischer Erkenntnis wichtig sind - wie die Art und die Weite der Kontextbildung oder die Gewichtung von Wirkungsanteilen in komplexen Wirkungszusammenhängen - strittig bleiben, ohne dass der Streit mit fachlichen Kriterien definitiv zu entscheiden ist. Anders gesagt: Forschung kann immer nur relationale Erkenntnis hervorbringen - in Relation zu dem Entwurf, in dessen Licht die Ergebnisse zum Vorschein kommen, wobei dem Entwurf immer die Begrenztheit der Forschungsperspektive anhaftet
Jeder Zeithistoriker weiß das, aber man muss es dreimal betonen, um der missverständlichen Sprachkonvention entgegenzuwirken, die Wissenschaft sei "objektiv". Besser wäre es, den Objektivitätsbegriff aus dem Verkehr zu ziehen, jedenfalls als Imponiervokabel im Gespräch zwischen Fachmann und Laien. Man erweckt sonst die Vorstellung, die Zeithistorie könne aus dem Strom der Zeit herausspringen und ihn vom festen, eben "objektiven" Ufer aus betrachten und beurteilen. Das kann sie aber keineswegs. Sie rudert vielmehr mittendrin, verfügt freilich mit ihren methodischen Standards über einige Navigationshilfen besonderer Art. Bei aller Wertschätzung der Leistung einzelner Forscher kommt dabei dem prozessualen Charakter der Forschung grundlegende Bedeutung zu. Denn die Debatten und Kontroversen der "scientific community" sind die einzige Gewähr dafür, dass die Chancen zur wechselseitigen Kontrolle und Korrektur genutzt werden oder zumindest grundsätzlich offen bleiben. Darin liegt ein wichtiges intersubjektives Korrektiv, das freilich keine "Objektivität" verbürgt, eher eine Art Fließgleichgewicht der Disziplin.
Dieses so knapp wie nur möglich umrissene Wissenschaftsverständnis ist hinreichend abgerüstet, um übertriebene Geltungsansprüche gar nicht erst aufkommen zu lassen. Gleichwohl tritt die Geschichtswissenschaft damit in ein Spannungs- oder auch Konkurrenzverhältnis zu Zugangsweisen, die anderen Regeln folgen. Mit Hilfe einiger kontrastierender Gegenüberstellungen lässt sich die Eigenart des wissenschaftlichen Zugangs noch etwas klarer und konkreter abgrenzen.
Die am weitesten ausholende Unterscheidung stellt "memory" und "history" einander gegenüber. Damit ist einerseits das kollektive Gedächtnis als Inbegriff aller nicht wissenschaftlichen Erinnerungsweisen gemeint und andererseits die Historie im Sinne eines wissenschaftlich fundierten Geschichtsbewusstseins. Sehr zugespitzt, aber ganz vorzüglich hat neuerdings Peter Novick die Differenz bezeichnet: Das kollektive Gedächtnis sei in gewisser Hinsicht nicht nur ahistorisch, sondern sogar antihistorisch. Etwas historisch zu verstehen bedeute ja, "sich seiner Komplexität bewusst zu sein, über eine hinreichende Distanz zu verfügen, es aus mehreren Perspektiven zu sehen, die Mehrdeutigkeit (auch die moralische Mehrdeutigkeit) der Motive und Verhaltensweisen der Protagonisten zu akzeptieren". Das kollektive Gedächtnis hingegen vereinfache; es nehme die Ereignisse aus einer einzigen, interessierten Perspektive zur Kenntnis und dulde keine Mehrdeutigkeit. Außerdem nehme die Historie die zeitliche Dimension der Vergangenheit ernst, ihre "Geschichtlichkeit", die aus Bedingungen erwachsen ist, die sich von denen, die heute gelten, unterscheiden. "Das kollektive Gedächtnis hingegen hat kein Gespür für das Verstreichen der Zeit; es negiert die ,Vergangenheit' seiner Gegenstände und beharrt auf ihrer fortdauernden Gegenwart."
Das enger gefasste Begriffspaar Gedächtnisfeier und Lernprozess hat Chaim Schatzker im Blick auf die Shoah erläutert. Gedächtnisfeier: darunter versteht er symbolische Akte der Trauer, rituelle Zeremonien, die vorwiegend an die Emotion appellieren. Sie überdecken oder mildern die schwer zu ertragende Wirklichkeit, entrücken sie, um sie erträglich zu machen. Sie spenden Trost angesichts der Wunden schmerzlicher Erinnerung. Grundsätzlich anders der Lernprozess: Hier dominiert die rationale, nüchterne Analyse, die methodisch kontrollierte Erklärung von Zusammenhängen; hier geht es nicht um Emotion, sondern um Kognition. Schatzker hat diese beiden Grundformen scharf voneinander getrennt. Er betont, beide seien berechtigt und notwendig, aber man dürfe sie nicht verwischen, sonst sei keiner der beiden ein guter Dienst getan
Gedächtnis- und Gedenkfeiern haben einen hohen emotionalen Gehalt. Je nach dem Charakter der Feier dominiert die Grundemotion der Trauer oder der Bewunderung, verbunden mit moralischen Wertbezügen, die in tröstender, mahnender oder preisender Absicht akzentuiert werden
Ein anderes Beispiel macht die Berechtigung der Abgrenzung von Gedenken und Erforschen klarer: Die jährliche Gedächtnisfeier in der KZ-Gedenkstätte Dachau ist gewiss nicht der richtige Ort, um so diffizile Fragen wie die Rolle der so genannten Funktionshäftlinge zu traktieren. Das waren Häftlinge, denen die SS-Macht über andere Häftlinge gab und die ihre Macht nicht selten schlimm gebrauchten. Solche Binnendifferenzierungen der Häftlingsgesellschaft zu erarbeiten, ebenso "ein differenzierteres Bild einer Bandbreite menschlicher Möglichkeiten auch in der schwarzen Uniform", zählt aber entschieden zu den Aufgaben der Geschichtswissenschaft
Der Grenzverlauf zwischen Historiographie und Literatur ist seit dem "linguistic turn" etwas ins Schwimmen geraten. Wir achten aufmerksamer als früher auf die Bedeutung der Sprachgebundenheit historiographischer Texte, auf ihre Durchwirkung mit literarischen Mustern und imaginativen Elementen. Aber der Parole "Auch Clio dichtet" ist doch sehr zu Recht entgegengehalten worden, dass der Historiker "einen anderen Kontrakt mit dem Leser hat als der Romancier" und sich daher "weniger Freiheiten mit dem Rohmaterial erlauben" darf
Was die Frage der Darstellbarkeit historischer Stoffe in den audiovisuellen Medien betrifft, so sind die Formen der Erprobung und die fachlichen Debatten noch sehr im Fluss. Der Diskussionsstand lässt sich daher kaum in wenigen Sätzen umreißen, zumal der Dachbegriff des Audiovisuellen sehr verschiedenartige Genres umfasst, mit weitem Pendelschlag zwischen Nonfiction und Fiction und mit jeweils eigenen Regeln der Produktion und Rezeption: von der betont lehrhaften Dokumentation über Mischformen des "infotainment" bis zum anspruchvollsten künstlerischen Experiment
Hierzu zählt die Tendenz zur Emotionalisierung, verbunden mit der Illusion, man sei dem historischen Geschehen ganz nah und könne es gewissermaßen sinnlich begreifen. Bilder und Töne, zumal bewegte Bilder und musikalische Effekte, haben eine große sinnliche Evidenz. Sie löschen Distanz, erwecken den Eindruck des authentischen Erlebens, so als sehe man mit den eigenen Augen, "wie es eigentlich gewesen ist". Was auf der Leinwand und dem Bildschirm vorkommt, muss visualisierbar sein. Aber das Auge ist, mit den Worten des Kunsthistorikers Willibald Sauerländer, des Menschen "verführbarster Sinn", und ihm bleibt vieles verborgen, was für die historische Erkenntnis unabdingbar ist: Begriffe, Kategorien, komplexe Erklärungen. Hier könnten Kommentare, verbale Erläuterungen helfen, aber des Gedankens Blässe schadet dem dramatisch bewegten, farbigen Bild und drückt auf die Quote. "Wie wird man ein Kriegsverbrecher?", fragt eine Stimme aus dem "Off" in "Hitlers Helfer" und gibt die Antwort im Stakkato: "Indem man einem Tyrannen folgt." Eine solche Pseudoerklärung vermittelt noch nicht einmal in homöopathischer Dosierung, was sich mit der Lektüre von 23 Seiten Wissenschaftsprosa über Hitlers charismatische Herrschaft fundiert erschließen ließe
Zur Emotionalisierung gesellt sich die Personalisierung. Das bewegte Bild braucht Aktion, und da Strukturen nicht handeln können, sieht man handelnde Personen. Dieses Darstellungsprinzip ist natürlich ganz legitim. Wer wollte es dem Publikum verargen, dass es die Personalisierung als die eingängigste und interessanteste Form der Welterfassung schätzt? Die Zeiten, in der bestimmte historiographische Denkschulen meinten, immerzu menschenleere Strukturlandschaften entwerfen zu müssen, sind glücklicherweise vorbei. Aber Fernsehproduktionen im Stil von "Hitlers Helfer" schneiden die Handlungen von ihren Bedingungen ab, um sie leichter servieren zu können. Strukturen und Prozesse sind weitaus schwerer zu visualisieren als Ereignisse und Handlungen. Der Zwang zum Bild bringt es daher mit sich, dass Fernsehdokumentationen generell dazu neigen, die Fülle der nicht an Personen gebundenen Bedingungsfaktoren weniger zu belichten oder gar auszublenden. So werden zum Beispiel institutionelle Zusammenhänge selten hinreichend erklärt, obwohl sie die Verhaltensmöglichkeiten der Menschen oft mehr beeinflussen, als es die individuelle Moral oder die individuelle Absicht tut. Auch bei der Auswahl der Zeitzeugen, die im Fernsehen zu Wort (oder zu einigen Satzschnipseln) kommen, rangiert "human touch" nicht gerade selten vor der Aussagekraft.
Wie die Sendereihe "Hitlers Helfer" verdeutlicht, folgen Wissenschaft und Mediengesellschaft verschiedenen Regeln und Routinen. Dass diese nicht nur divergieren, sondern geradezu konfligieren können, hat in jüngster Zeit die Goldhagen-Debatte verblüffend klar gemacht. Fast lupenrein haben sich in der Goldhagen-Debatte die Meinungen geschieden "zwischen Kennern der Materie einerseits und andererseits den Medien und denjenigen, die ihre Informationen weitgehend durch die Medien beziehen". Je besser die Historiker mit der Materie vertraut waren, um so schärfer fiel in der Regel die Kritik aus, in der deutschen Fachwelt nicht weniger als in der internationalen
Spricht hier der nörgelnde Neid einer Zunft, deren eigene Mittel - Abhandlungen, Monographien, Quelleneditionen und dergleichen - für das breite Publikum ungeeignet sind? Man möge mich nicht missverstehen. Die abgrenzenden Überlegungen sollen keineswegs den Eindruck erwecken, als hätten die Zeithistoriker die Seriosität in Erbpacht, während alle anderen, zumal die massenmedialen Vermittler der Zeitgeschichte, mit dem Makel der Unseriosität leben müssten. Dem wäre zweierlei entgegenzuhalten. Zunächst: Auch in den heiligen Hallen der Fachwissenschaft kann "gemogelt und geschlampt, getürkt und gebogen" werden
Sodann geht es auch nicht darum, den anderen Instanzen und Formen der Repräsentation von Geschichte ihre jeweils spezifische Legitimität zu bestreiten. Jede Zugangsweise hat ihre besonderen Möglichkeiten und Grenzen, jede kennt eigene Zwecke und Erfordernisse. Wir haben es also mit einem Ensemble relativer Autonomie zu tun, das auf Unterscheidungen beruht, aber auch Austausch und produktive Konkurrenz ermöglicht. So hat die zeitgeschichtliche Forschung, indem sie einen Fundus kritisch geprüften Wissens erarbeitet und bereit stellt, eine ganz unentbehrliche Servicefunktion für alle anderen Bereiche, denn diese sind durchwegs eher Vermittler und Verwender als Zulieferer des empirisch kontrollierten Wissensspeichers. Daneben hat die Zeithistorie die Aufgabe, den öffentlichen Gebrauch der Geschichte kritisch zu begleiten. Erinnerungsvielfalt heißt nicht, alles für erlaubt zu erklären. Die Fachkompetenz kann dazu beitragen, dass Pluralität nicht zur Beliebigkeit verkommt, und sie muss dazu beitragen, "Geschichtslegenden, auch politische Mythologeme, die in der Öffentlichkeit in Geltung sind, kalt und entschieden zu entlarven"
Die Zeithistoriker haben laut zu widersprechen, wenn sie im öffentlichen Gebrauch der Geschichte Unverantwortliches wahrnehmen, wie etwa den Missbrauch ihrer Forschungsergebnisse oder die Verdrehung von Tatsachen - oder auch verheerende Missgriffe in einer schlampig gemachten Ausstellung