Einleitung
Das deutsche Gesundheitssystem steckt in einer tiefen Krise, die kaum lösbar scheint. Viele der Probleme, insbesondere die schwere Steuerbarkeit des Politikfeldes, haben historische Wurzeln.
Das weitgehende Fortbestehen der Organisationsstruktur soll im folgenden Überblick verdeutlicht, aber auch die zahlreichen Wendepunkte sollen akzentuiert werden, die das System ebenfalls stark beeinflussten. Dazu zählt die Entscheidung gegen eine Einheitsversicherung und für die Wiedereinführung des alten Kassensystems nach 1945 oder das erste Scheitern einer Krankenkassenreform Ende der fünfziger Jahre. Auch verschiedene strukturelle Defizite des deutschen Gesundheitssystems wie die mangelnde Verknüpfung von sozialen und medizinischen Aspekten, die Vernachlässigung präventiver Medizin sowie die strikte Trennung von ambulanter und stationärer Pflege lassen sich im historischen Kontext besser nachvollziehen.
I. Die Institutionalisierung des Gesundheitswesens im Kaiserreich
Das deutsche Gesundheitswesen ist in erster Linie durch die Entwicklung des Krankenkassensystems geprägt, das, im Kaiserreich eingeführt, während der Weimarer Zeit und unter dem Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik wenig verändert weiterbestand. Mit der im Rahmen der Bismarckschen Sozialgesetzgebung 1883 eingerichteten Krankenversicherung wurde die Versicherung für Arbeiter unter einer bestimmten Einkommensgrenze zur Pflicht; die Beiträge teilten sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Leistungen der Kassen umfassten zunächst die Heilbehandlung sowie Krankengeld bis maximal 13 Wochen. 1883 gehörten der Krankenversicherung etwa zehn Prozent der Bevölkerung an. Ein wichtiges Kennzeichen des deutschen Systems war neben der Versicherungspflicht die Vielzahl der Kassen - 1885 rund 17 500 mit durchschnittlich ca. 200 Mitgliedern -, die sich in die unterschiedlichen Formen der Betriebskrankenkassen, Ortskassen und freien Hilfskassen gliederten.
Während der folgenden Jahrzehnte dehnte sich der Mitgliederkreis der Kassen aus: Bis 1913 waren insgesamt etwa 25 Prozent der Bevölkerung krankenversichert. Familienangehörige der Versicherten wurden mittlerweile von vielen Kassen mitversichert. Dabei handelte es sich um eine "Kann-Leistung", die etwa die Hälfte der Kassen ihren Mitgliedern bereits seit 1900 gewährte. Wochenhilfe für Ehefrauen von Versicherten kam während des Ersten Weltkriegs hinzu. Zudem wurden nun auch weitere Teile der Gesellschaft in dieKrankenversicherung integriert, als wichtige Berufsgruppen beispielsweise 1914 die Dienstboten sowie die Land- und Forstarbeiter.
Den Krankenkassen als Kostenträgern stand im deutschen System die Ärzteschaft als Anbieter von Gesundheitsleistungen gegenüber. Das Gesundheitswesen war damit von Anfang an von Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren Ärzteschaft und Krankenkassen gekennzeichnet, wobei es vor allem um Arzthonorare, Kassenzulassungen und die freie Arztwahl der Patienten ging. Stationäre Pflege boten die Krankenhäuser, allerdings spielten sie bei der Versorgung der Bevölkerung noch keine große Rolle. Klinikaufenthalte blieben zunächst eine "Kann-Leistung" der Krankenversicherung. Die Ausgaben für Krankenhauspflege blieben dementsprechend vor dem Ersten Weltkrieg bei unter 13 Prozent der Gesamtausgaben der Kassen. Ein großer Teil der Krankenhäuser wurde von der öffentlichen Hand und hier insbesondere von den Kommunen betrieben. Die städtischen Hospitäler hatten ihre Wurzeln in der Armenpflege. Dazu kamen die Einrichtungen kirchlicher Träger oder von Wohlfahrtsverbänden, die ebenfalls oft auf eine lange Tradition zurückblicken konnten. Gerade die kommunalen Krankenhäuser wurden in vielen Städten seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stark ausgebaut und zu Einrichtungen für alle Bürger umgestaltet.
Der öffentliche Gesundheitsdienst als zweiter wichtiger Strang des deutschen Gesundheitswesens entwickelte sich einerseits aus den Aufgaben der staatlichen Sanitätspolizei und -aufsicht. Andererseits gab es eine starke kommunale Tradition, die aus den Anstrengungen der Kommunen um eine städtische Gesundheitsfürsorge in der Zeit der Industrialisierung hervorging und die Ausprägung des öffentlichen Gesundheitsdienstes entscheidend beeinflusste. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich auf kommunaler Ebene in vielen Städten ein sehr aktives öffentliches Gesundheitswesen mit einem breiten Fürsorge- und Beratungsangebot. Dabei kümmerte sich die städtische Gesundheitsfürsorge in erster Linie um besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen. Die Maßnahmen konzentrierten sich auf Mutter und Kind, die Schulgesundheitspflege sowie die Fürsorge für Patienten mit bestimmten gravierenden Erkrankungen wie Tuberkulose.
II. Vom Ausbau der Gesundheitsdienste in der Weimarer Zeit zum NS-Gesundheitswesen
In den zwanziger Jahren wurden von den Kommunen umfassende gesundheitsfürsorgerische Dienste aufgebaut, zum Teil mit neuen Berufssparten wie dem Fürsorge- und Vorsorgearzt oder der Gesundheitsfürsorgerin. Viele der auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge tätigen Kommunalärzte und -ärztinnen kamen aus dem sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Milieu; auch viele jüdische Ärzte waren in diesen Berufen zu finden.
Kennzeichnend blieb allerdings, dass die Fürsorge- und Beratungsstellen des öffentlichen, kommunalen Gesundheitsdienstes in Deutschland nur beratend und in der Vorsorge tätig wurden. In den Einrichtungen etwa der Säuglingsfürsorge sollte nicht behandelt werden. Vor allem die ärztlichen Standesvertretungen kämpften in den zwanziger Jahren darum, dass die Therapie in jedem Fall denniedergelassenen Kassenärzten vorbehalten blieb. Diese Abgrenzung verstärkte grundsätzlich die Trennung zwischen kurativer und präventiver Medizin. Eine Dominanz der kurativen Medizin war im deutschen Gesundheitswesen generell durch die Ausrichtung der Krankenkassen gegeben, die auf die Wiederherstellung der Arbeitskraft der Versicherten zielten. Die Krankenkassen bezahlten Therapien bei Krankheit, unterstützten aber keine vorbeugenden Maßnahmen.
Im öffentlichen Gesundheitswesen bestand das Nebeneinander von städtischen Gesundheitsämtern und staatlicher Gesundheitsaufsicht fort. In der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre geriet das öffentliche Gesundheitswesen in eine erhebliche Krise. Die Finanzierung der zahlreichen städtischen und staatlichen Einrichtungen wurde problematisch; eine Reform erschien dringend notwendig. Die staatlichen Stellen traten damals für eine Vereinheitlichung und Zusammenlegung der bestehenden Gesundheitsdienste ein und wollten so die Kosten des öffentlichen Gesundheitswesens senken, während die Stadtärzte und die kommunalen Spitzenverbände dagegen kämpften. Eine Entscheidung über die künftige Neuordnung des öffentlichen Gesundheitswesens fiel jedoch bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme nicht.
Die Krankenkassen weiteten in den zwanziger Jahren vor allem auf Druck der Gewerkschaften ihre Leistungen weiter aus, obwohl sie als Folge des Ersten Weltkrieges und der Hyperinflation finanziell immer mehr in Anspruch genommen wurden. Gleichzeitig ging mit den stärkeren organisatorischen Anforderungen die Anzahl der Kassen von ca. 21 300 im Jahr 1913 auf ca. 7 800 im Jahr 1924 zurück. Mit der wachsenden durchschnittlichen Mitgliederzahl entsprachen die Kassen zunehmend eher Verwaltungsorganen denn gewerkschaftlich geprägten Selbstverwaltungsorganisationen. Aus den ständigen Konflikten mit den niedergelassenen Ärzten entwickelte sich ein neues Element der Gesundheitsversorgung: Die Krankenkassen eröffneten in einigen Städten Ambulatorien mit angestellten Ärzten, in denen sich ihre Mitglieder behandeln lassen konnten. Von den Patienten wurden diese Einrichtungen gerne angenommen. Dagegen kämpfte wiederum die niedergelassene Ärzteschaft vehement, die hierin eine Beeinträchtigung ihrer Berufsausübung sah. Zu einer deutlichen Machtverschiebung zwischen den niedergelassenen Ärzten und den Kassen kam es schließlich in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Nach langer Auseinandersetzung mit der Ärzteschaft sah sich der Gesamtverband deutscher Krankenkassen aus finanziellen Gründen gezwungen, einer Neuregelung zuzustimmen, welche die Regierung Brüning 1931 als Notverordnung erließ. Danach übernahmen neu geschaffene Selbstverwaltungskörperschaften der Ärzte, die kassenärztlichen Vereinigungen, den Sicherstellungsauftrag für die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Die Honorarverteilung und die Überwachung der ärztlichen Tätigkeit, die bisher Aufgabe der Kassen gewesen war, lag nun bei diesen Vereinigungen. Im Gegenzug wurden die finanziellen Vergütungen der Kassen an die Ärzte begrenzt. Die Ärzte gewannen so deutlich an Macht gegenüber den Kassen, während Letztere Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Ärzteschaft verloren. Gleichzeitig traten nun auch Schwierigkeiten für die Krankenhäuser auf, die bis dahin mit den Kassen direkt Verträge auch über ambulante Leistungen abgeschlossen hatten. Die Ärzteschaft versuchte in den dreißiger Jahren zunehmend, die Krankenhäuser aus dem Bereich der ambulanten Versorgung zu verdrängen und selbst ein Behandlungsmonopol in diesem Bereich zu erlangen.
Ab 1933 beschnitt dann die NS-Regierung den Einfluss der den Nationalsozialisten verhassten "roten" Kassen systematisch. Zunächst wurde auf Grundlage des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" ein großer Teil der Krankenkassenmitarbeiter aufgrund ihrer politischen Einstellung oder als "Nicht-Arier" entlassen und oft durch NSDAP-Mitglieder ersetzt. Die Nationalsozialisten lösten zudem bereits im Laufe des Jahres 1933 die Selbstverwaltungsorgane der Kassen auf und unterstellten die Krankenkassen staatlicher Verwaltung. Im selben Jahr wurden auch diekasseneigenen Einrichtungen verboten, was bedeutete, dass von den Kassen betriebene Ambulatorien oder Kliniken schließen mussten und weiter in ihren Kompetenzen beschnitten wurden.
In der städtischen Gesundheitsfürsorge kam es zu ähnlichen Entwicklungen. 1933 verloren viele Kommunalärzte ebenfalls aus "rassischen" bzw. politischen Gründen ihre Stellen, was letztlich das Ende der "linken" kommunalen Gesundheitsfürsorge bedeutete.
Die freie Ärzteschaft konnte dagegen ihre 1931 erreichte Stellung unter der nationalsozialistischen Herrschaft noch ausbauen; die kassenärztlichen Vereinigungen gewannen bereits 1933 weitere Kompetenzen hinzu.
III. Entscheidungen in der Nachkriegszeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg musste das Gesundheitswesen zunächst die Folgen des Krieges wie das starke Ansteigen verschiedener Infektionskrankheiten, die Mangelerkrankungen und die zahllosen hygienischen Probleme bewältigen. Insbesondere die Institutionen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesens waren mit der Bekämpfung von verschiedensten Gesundheitsgefahren beschäftigt.
Von Seiten der Alliierten gab es unterschiedliche Überlegungen, wie das deutsche Gesundheitswesen in Zukunft gestaltet werden sollte. Der Alliierte Kontrollrat legte 1946/47 einen Entwurf für eine Neuordnung der Sozialversicherung vor, der an dem englischen Modell orientiert war und eine Einheitsversicherung vorsah. Dieser Vorschlag scheiterte einerseits an zunehmenden Zwistigkeiten zwischen den Alliierten; andererseits wandten sich auch zahlreiche deutsche Politiker, besonders aus konservativen und liberalen Kreisen, dagegen. Viele Deutsche sahen die Sozialversicherung als eine der wenigen deutschen Errungenschaften, auf die man stolz sein könne und die deshalb unbedingt erhalten bleiben müsse.
Nach der Gründung der Bundesrepublik fiel durch die Regierung Adenauer die endgültige Richtungsentscheidung gegen Zentralisierungstendenzen und gegen die alliierte Vorstellung einer Einheitsversicherung. Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung wollte sich von sozialistisch geprägten Entwürfen des Sozialstaates absetzen, wie man sie in den skandinavischen Staaten und Großbritannien eingeführt hatte.
In Westdeutschland wurde so die traditionelle Struktur der Sozialversicherung beibehalten. Durch das Fortbestehen der traditionellen Krankenkassen beruhte das deutsche Gesundheitssystem auch künftig auf dem Konzept der Bildung von Risikogemeinschaften gleicher sozialer Gruppen in einer Fülle verschiedener Krankenkassen. Die Versicherungspflicht blieb grundsätzlich auf so genannte "schutzbedürftige Bevölkerungskreise" beschränkt, auch wenn diese nun den überwiegenden Teil der Bevölkerung ausmachten (72 Prozent im Jahr 1949; zehn Jahre später bereits 85 Prozent). Den Kassen standen als Anbieter medizinischer Leistungen weiterhin in der ambulanten Versorgung die Ärzte und in der stationären Versorgung die Krankenhäuser gegenüber.
Im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens galt in der Bundesrepublik das "Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" von 1934 weiter. Die festgelegten Zuständigkeiten bestanden fort, nur die Wortwahl hatte sich geändert: "Erb- und Rassenpflege" war durch "Erbpflege einschließlich Eheberatung" ersetzt worden. Das Gesundheitsamt war nach wie vor nicht berechtigt, Kranke zu behandeln.
IV. Gesundheitspolitik in den fünfziger und sechziger Jahren
Trotz zahlreicher struktureller Kontinuitäten aus der Vorkriegszeit kam es in den fünfziger Jahren auch zu einigen wichtigen Veränderungen, welche die weitere Entwicklung des bundesdeutschen Gesundheitssystems prägten.
Besonders die Ärzteschaft konnte ihre Stellung in der ersten Dekade der Bundesrepublik erheblich festigen.
Das "Gesetz über das Kassenarztrecht" von 1955 war ein wichtiger Schritt zur Gestaltung des bundesdeutschen Gesundheitswesens. Es griff bei der Regelung der Beziehungen zwischen Ärzten und Kassen im Wesentlichen auf die Notverordnung von 1931 zurück und schuf eine Kassenärztliche Bundesvereinigung als Körperschaft öffentlichen Rechts. Von der Anlehnung an die Regelungen der dreißiger Jahre erhoffte sich die Bundesregierung ein Gleichgewicht zwischen Kassen und Kassenarztvereinigungen.
Während die Ärzteschaft ihre Position gegenüber den Kassen ausbauen konnte, wurde das öffentliche Gesundheitswesen in seinen Kompetenzen stark beschnitten und gab immer mehr Aufgabenbereiche an die niedergelassenen Ärzte ab.
Das Scheitern eines anderen Projektes zur Neugestaltung des Gesundheitswesens hatte ebenfalls weitreichende Konsequenzen. Ende der fünfziger Jahre strebte die Bundesregierung im Rahmen der so genannten "Sozialreform", die alle Sozialversicherungsleistungen auf eine einheitliche, neue Grundlage stellen sollte, auch eine Struktur- und Gesamtreform des Krankenkassenwesens durch das "Krankenversicherungsneuregelungsgesetz" an.
Die Krankenhäuser als weitere Anbieter von Gesundheitsleistungen hatten in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem mit finanziellen Defiziten zu kämpfen. Die Krankenkassen bezahlten keine kostendeckenden Pflegesätze; bei dringend nötigen Investitionen in Bauten und technische Ausrüstung mussten die Träger um Zuschüsse von Ländern und Kommunen kämpfen. Eine bundesweit geregelte Bedarfsplanung gab es nicht. Da sich die Krankenhäuser in öffentliche - meist kommunale -, freigemeinnützige und private Kliniken gliederten und ihre Träger so z. T. divergierende Interessen verfolgten, konnten sie gegenüber den Kassen nie so geschlossen und machtvoll auftreten wie die freie Ärzteschaft.
Neben den ständigen Auseinandersetzungen zwischen Kassen, Leistungsanbietern und Staat kennzeichneten auch Strukturprobleme, die aus dem föderalen Aufbau der Bundesrepublik herrührten, das westdeutsche Gesundheitswesen. Die Verhältnisse waren von Anfang an durch eine starke Verschränkung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern geprägt. Der Bund konnte nach dem Grundgesetz nur über internationale Abkommen, die Mitgliedschaft in supranationalen Organisationen sowie bei Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung in eigener Regie entscheiden.
Gerade im öffentlichen Gesundheitswesen hätten die Länder eine relativ große Gestaltungsfreiheit gehabt. Allerdings nutzten sie ihren Handlungsspielraum selten konsequent aus. Die Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege beispielsweise beklagte Mitte der fünfziger Jahre, dass noch kein freiwilliger unentgeltlicher Blutspendedienst von den Ländern durchgeführt werde und es in der Schulgesundheitspflege an Ärzten und Etatmitteln fehle. Versuche des Bundes, deswegen in das öffentliche Gesundheitswesen einzugreifen, wurden von den Ländern aber aus prinzipiellen Erwägungen abgelehnt.
Hinzu kam, dass das Gesundheitswesen auch auf Bundesebene unter seiner organisatorischen Zersplitterung litt, die in Deutschland eine lange Tradition hatte. Die Belange der Sozialversicherungen und mit ihr die Krankenkassen fielen in die Zuständigkeit des Arbeitsministeriums. Fragen der öffentlichen Fürsorge, der Zulassung zu ärztlichen Berufen, der Hygiene, der übertragbaren Krankheiten oder der Gesundheitsfürsorge wurden in der Gesundheitsabteilung des Innenministeriums bearbeitet. In den meisten Ländern zeigte sich eine ähnliche Aufteilung. Ende der fünfziger Jahre wurde die Kritik an diesen Strukturmängeln immer lauter und ein Bundesgesundheitsministerium gefordert.
Als prägend für das bundesdeutsche Gesundheitswesen der Nachkriegszeit und ganz besonders für den öffentlichen Gesundheitsdienst können sicherlich auch die Lebensläufe deutscher Gesundheitspolitiker und Medizinalbeamter gelten. Viele Karrieren waren im Wesentlichen durch Kontinuität über die letzten Jahre der Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus hinweg gekennzeichnet.
Dies verstärkte sich noch durch das stete Abgrenzungsbedürfnis zur DDR, wo ja gerade solche Formen der Gesundheitsfürsorge wieder auflebten. Zudem wollten die Gesundheitspolitiker zu starke zentralistische Tendenzen vermeiden, die eine Nähe zur NS-Politik hätten vermuten lassen. Man kann hier eine Art "negativen Lernprozess" beobachten, der in eine gewisse Ideenarmut mündete. So wurde den Ansprüchen der freien Ärzteschaft, zahlreiche Aufgaben aus dem Bereich des öffentlichen Gesundheitsdienstes zu übernehmen, sehr wenig entgegengesetzt.
V. Fazit
In Deutschland entstand Ende des 19. Jahrhunderts mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung ein neues Gesundheitssystem. Charakteristisch war neben der Pflichtversicherung und der Vielfalt der Kassen das Prinzip der gegenseitigen Sicherung innerhalb bestimmter Solidargruppen. Von Anfang an gab es zwischen den Kassen und den Anbietern von Gesundheitsleistungen, den Ärzten und den Trägern von Krankenhäusern, große Interessenkonflikte. Die Konstruktion des deutschen Krankenversicherungssystems begünstigte eine starke Position der Verbände und Akteure, was in diesem Politikfeld ein hohes Konfliktpotential schuf. Die starke Konzentration des deutschen Gesundheitswesens auf die Therapie lässt sich im Ansatz ebenfalls aus dieser Formierung ableiten: Die Krankenkassen waren grundsätzlich an der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ihrer Versicherten interessiert. Breit gefächerte präventive Maßnahmen lagen dem Krankenkassengedanken fern und erlangten erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts größere Bedeutung.
Gleichzeitig entstand um die vorletzte Jahrhundertwende ein sehr reges öffentliches Gesundheitswesen, das vor allem in den Städten vielfältige gesundheitsfürsorgerische Dienste anbot. Dies ging jedoch mit einer strikten Trennung zwischen präventiven Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens und kurativer Medizin als Kassenleistung einher. Erst in den sechziger Jahren begann in der Bundesrepublik eine Integration der präventiven und kurativen Aspekte, allerdings dann gänzlich innerhalb der Krankenkassenleistungen und durch die freie Ärzteschaft als Anbieter.
Unter den Akteuren des deutschen Gesundheitswesens entwickelten sich die Ärzte zur dominanten Gruppe. Diese Entwicklung begann bereits in den zwanziger Jahren. Die Ärzte stritten vehement um ihre Stellung und schafften es, ihre Aufgabenbereiche ständig zu erweitern. Durch das Kassenarztgesetz von 1955 wurde die Machtposition der Ärzte deutlich ausgebaut; sie erhielten nun das Monopol für die ambulante Behandlung und konnten gegenüber den Krankenkassen eine deutliche Verbesserung ihrer Position erreichen. Die starke Stellung der niedergelassenen Ärzteschaft verstärkte auch die Dominanz kurativer Konzepte und die Trennung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung.
Bei den Krankenkassen war eine umgekehrte Entwicklung zu beobachten: Sie verloren zunehmend an Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten. Die 1957 begonnene umfassende Krankenversicherungsreform, die neben anderen Veränderungen das Ungleichgewicht zwischen Kassen und Anbietern mildern sollte, scheiterte. Danach wurden Reformen in diesem Politikbereich mit den divergierenden Akteursinteressen immer schwieriger. Die Politik beschränkte sich vor dem Hintergrund des Wirtschaftsaufschwungs in den nächsten Jahren darauf, die Kassenleistungen auszubauen, ohne neue Steuerungsmöglichkeiten einzuführen.
Dem Machtgewinn der Ärzte stand zudem ein Statusverlust und Rückzug des öffentlichen Gesundheitswesens gegenüber. In der Bundesrepublik wurde dieser Bereich des Gesundheitswesens weitgehend auf Kontrolltätigkeiten beschränkt und der fürsorgerischen Aufgaben beraubt. Mit der zunehmenden Schwächung des öffentlichen Gesundheitswesens fristete die soziale, präventive Medizin in den Anfangsdekaden der Bundesrepublik ein Schattendasein.
Organisationsstruktur und Akteurskonstellation des deutschen Gesundheitssystems zeigen über politische Umbrüche hinweg eine bemerkenswerte Kontinuität. Gegenüber diesen ausgeprägten strukturellen Beharrungskräften erreichten politische Steuerungs- und Reformversuche nur eine sehr begrenzte Wirksamkeit. Einmal eingeschlagene Pfade bestimmten die Entwicklung nachhaltig. Nach 1945 trugen die ständige Abgrenzung von der DDR-Sozialpolitik und die fehlende kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit dazu bei, dass alternative gesundheitspolitische Konzepte nicht zum Zuge kamen.