Grundfragen der Reformdebatte
Die Organisation der Vereinten Nationen (VN) macht, wie so oft in ihrer fast 60-jährigen Geschichte, Sprünge auf der Beliebtheitsskala wie sonst kaum eine internationale Organisation. "VN-Enthusiasten", bei denen die Organisation für alles Gute und Schöne dieser Welt verantwortlich zu sein scheint und Defizite immer nur den Mitgliedstaaten angelastet werden, stehen Fundamentalkritiker gegenüber, die kein gutes Haar am vermeintlichen Zentralorgan des Multilateralismus lassen und die VN in wichtigen Fragen der internationalen Politik für irrelevant halten. Mit der Realität haben diese politischen Extrempositionen wenig gemein. Dennoch steht die Weltorganisation nicht erst seit der Irakkrise 2003 unter erheblichem Anpassungsdruck. Sie hat ihre Zusammensetzung und Tätigkeitsfelder in den vergangenen Jahrzehnten erheblich ausgeweitet, ohne dass es bisher zu grundlegenden Änderungen in ihrem Gründungsdokument, der VN-Charta, gekommen wäre. Von 51 Gründerstaaten ist sie auf 191 Staaten angewachsen, undvon einer Organisation, die in erster Linie den Krieg als Mittel der Politik ächten sollte, istsie zu einem globalen Forum geworden, indemalle grundlegenden Weltprobleme diskutiert undzum Teil einer Lösung näher gebracht werden.
In der internationalen Politik besteht weitgehender Konsens darüber, dass die VN reformiert werden muss, weil Strukturen und Verfahren nicht mehr den weltpolitischen Realitäten entsprechen. Allerdings ist die Reformagenda ebenso lang wie komplex: So spiegelt der Sicherheitsrat mit seinen fünf ständigen Mitgliedern nicht mehr die weltpolitische Machtkonstellation des 21. Jahrhunderts wider, das Völkerrecht muss den neuen Bedrohungsformen angepasst werden, die zahlreichen Sonderorganisationen und Spezialorgane der VN haben sich zu einem undurchschaubaren Konglomerat entwickelt, das dringend gestrafft werden muss, und schließlich sollte über die Prioritätensetzung im Spannungsfeld zwischen Friedenssicherung, Stärkung der Menschenrechte, Armutsbekämpfung und Schutz der globalen Umwelt entschieden werden.
Jede Reformdebatte muss mit einer Analyse der globalen Herausforderungen und der Beantwortung einiger grundlegender Fragen nach der Ordnung des internationalen Systems beginnen: Bis zu welchem Grad kann den Staaten die Erosion ihrer Souveränität zugunsten kollektiver Mechanismen zugemutet werden? Inwieweit halten sich die Staaten an gemeinsam verabredete Beschlüsse, und in welchem Maße ist deren Verletzung, Missachtung oder mangelnde Unterstützung hinnehmbar? Wie können Macht und Recht in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht und widerstreitende Interessen in konstruktiver Weise ausgeglichen werden? Auf diese Fragen lassen sich verschiedene Antworten geben, die dann jeweils unterschiedliche Konsequenzen für die daraus ableitbare Rolle der VN in der internationalen Politik haben. Einerseits wird ihr lediglich eine untergeordnete Rolle beigemessen, und Reformbemühungen sollen sich darauf beschränken, die Effizienz der Organisation in den Bereichen zu erhöhen, in denen sich die Mitgliedstaaten einig sind, dass sie die VN als Forum, Akteur oder Instrument nutzen wollen. Andererseits werden hohe Erwartungen an die VN gestellt, die bis zu der Hoffnung reichen, mit Hilfe der VN ein internationales Milieu zu formen bzw. zu stabilisieren, in dem Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden und die Zusammenarbeit zwischen Staaten norm- und regelgeleitet abläuft.
Die Organisation der Vereinten Nationen blickt auf eine Geschichte zurück, die auch als ein permanenter Prozess des Wandels, der Anpassung an veränderte weltpolitische Strukturen und Prozesse und der Reformen beschrieben werden kann, bei dem sich Phasen der Marginalisierung mit Phasen der Renaissance stetig abwechselten.
Doch insbesondere infolge des Irakkrieges 2003/4 und der damit sichtbar gewordenen Machtlosigkeit der Weltorganisation hat die Reformdebatte an Intensität zugenommen, und auch die Umsetzungschancen haben sich verändert. VN-Generalsekretär Kofi Annan hatte im September 2003 abermals an die Mitgliedstaaten der VN appelliert, ihre Regeln und Institutionen einer grundlegenden und umfassenden Reform zu unterziehen. Die Weltgemeinschaft stehe an einer Weggabelung, die nicht weniger entscheidend sei als die Gründung der VN im Jahre 1945.
Institutionelle Reformen
Reform des Sicherheitsrats
Die Reform des Sicherheitsrats gehört zu den schwierigsten und machtpolitisch sensibelsten Reformvorhaben. Unabhängig von der Zielvorstellung formulieren sämtliche Reformvorschläge deutliche Kritik an der Zusammensetzung dieses zentralen Gremiums, das nach Artikel 24 der Charta zuständig für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist. Die Mehrheit der VN-Staaten hält die Zusammensetzung und die Privilegien der fünf Ständigen Mitglieder für undemokratisch und angesichts der weltpolitischen Realitäten des neuen Jahrtausends auch für anachronistisch. Wer möchte, so Kofi Annan, dass den Entschließungen des Rates mehr Respekt erwiesen werde, der müsse sich der Frage seiner Zusammensetzung mit großem Nachdruck zuwenden.
Eine Erweiterung ist aber aus mindestens zwei Gründen schwierig: Zum einen gibt es zwischen "Nord" und "Süd" keinen Konsens über die Kriterien für einen ständigen Sitz. Insbesondere Deutschland - das inzwischen offen für eine deutsche Mitgliedschaft wirbt
Zu wenig diskutiert wird in Deutschland die mit einer möglichen ständigen Mitgliedschaft verbundene globale Verantwortung. Denn in der Konstruktion der VN haben diese Staaten eine besondere Verpflichtung, sich für Frieden und Sicherheit zu engagieren, was auch mit erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden ist. Außerdem ist die potentielle Schwächung der Effizienz und Effektivität des Sicherheitsrats bei einer Vergrößerung zu beachten. Ein flexibleres Modell wäre die Erweiterung um Ständige Mitglieder ohne Vetorecht oder zumindest die Beschränkung des Vetos auf Militäreinsätze, möglicherweise sogar nur für die eigene Region ("regionales Veto"). Aufgrund interner Interessendivergenzen ist auch dem Vorschlag rotierender Sitze der Mitglieder von Regionalorganisationen wie Europäischer Union oder Organisation für Afrikanische Einheit keine Chance einzuräumen. Demnach sollten die potenziellen Beitrittskandidaten den Sitz für einen bestimmten Zeitraum für ihr Regionalkontingent jeweils abwechselnd wahrnehmen. Eine Revisionsklausel soll am Ende die Möglichkeit eröffnen, das Verfahren zugunsten eines Landes zu ändern oder fortzusetzen. Griffe diese Lösung, würde der Sicherheitsrat auf zehn Ständige Mitglieder, sieben feste und drei rotierende, aufgestockt und die Zahl der nichtständigen Mitglieder ebenfalls erhöht. Wenn sich allerdings selbst so eng kooperierende Staaten wie die Mitglieder der EU aufgrund interner Interessen- und Statusdivergenzen nicht auf ein Rotationsprinzip einigen können, so scheint eine Festlegung für andere Gruppen mehr als unwahrscheinlich.
Reform der Generalversammlung
Im Vergleich zur Diskussion um die Modernisierung des Sicherheitsrats stehen Überlegungen zur Aufwertung der Generalversammlung eher am Rande der Reformdebatte. So ist die Generalversammlung zwar das Hauptorgan der VN, hat aber de facto keine zentrale Rolle inne. Artikel 14 ermöglicht es ihr zwar, Maßnahmen zur friedlichen Beilegung jeder Situation zu empfehlen, die ihrer Auffassung nach dazu geeignet ist, das friedliche Zusammenleben der Nationen zu beeinträchtigen. In der Praxis werden aber alle Friedenssicherungsaktivitäten vom Sicherheitsrat beschlossen. Es werden Zweifel angemeldet, ob dieses Vorgehen effektiv ist. So wird argumentiert, dass die führende Rolle des Sicherheitsrates effizienter erscheine, als sie tatsächlich sei. Das entscheidende Medium der VN sei das der Kooperation, die aber nicht erzwungen, sondern vielmehr erzeugt werden müsse. Dafür sei die Generalversammlung mit ihren Ausschüssen ein geeigneter Ort. Die Voten der Generalversammlung als "öffentliche Meinung der Welt" konstituierten damit eine Art globale Legitimität, und es würde - so die Hoffnung - die Akzeptanz von VN-Entscheidungen erhöhen, wenn sie durch eine aufgewertete Generalversammlung beschlossen würden.
Allerdings ist die Generalversammlung in ihrer heutigen Form keineswegs das demokratische Gegenstück zum Sicherheitsrat. Auch sie ist vorwiegend ein Gremium der Exekutiven, nämlich in erster Linie eine Versammlung der nationalen Botschafter. Um eine erhöhte demokratische Legitimation zu erhalten, wird diskutiert, eine Parlamentarierversammlung nach dem Vorbild der OSZE oder der NATO einzurichten. Ein solches Zweikammersystem müsste nicht zwangsläufig zu einer bürokratischen Aufblähung führen. Während eine Kammer wie bisher nach dem "one-state-one-vote-Prinzip" aus Regierungsvertretern zusammengesetzt wäre, würde eine zweite Kammer (für welche die Bezeichnung "Assembly of the Peoples of the United Nations" vorgeschlagen wurde) aus Parlamentsdelegierten bestehen. Zudem könnte überlegt werden, auch die Sonderorganisationen und Spezialorgane mit parlamentarischen Gremien auszustatten. So hat beispielsweise die EU vorgeschlagen, parlamentarische Gremien zu schaffen, die sich aus den Vorsitzenden der parlamentarischen Ausschüsse der nationalen und regionalen Parlamente zusammensetzen.
Reformen im Bereich Wirtschaft, Entwicklung und Umwelt
Die Arbeit der VN im Bereich Wirtschaft, Entwicklung und Umwelt leidet in besonderer Weise unter überlappenden Zuständigkeiten und mangelhafter Koordinierung. Insbesondere der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) einschließlich seiner fast unüberschaubaren Anzahl von Unter- und Nebenorganen steht dabei im Zentrum der Kritik. So wird gefordert, das Gesamtsystem gründlich auf den Prüfstand zu stellen. Der ECOSOC sei in seiner derzeitigen Struktur nicht in der Lage, seine koordinierende Funktion wahrzunehmen, und er arbeite überbürokratisiert und unwirksam. Während einerseits seine Auflösung vorgeschlagen wird, wollen andere mit einer stärkeren Weisungsbefugnis die Effizienz erhöhen. Die Vorschläge reichen von der Schaffung eines neuartigen Wirtschaftsrats mit Kompetenzzuweisung analog zum Sicherheitsrat (d.h. dem Recht, verbindliche Beschlüsse zu fassen) bis zur Schaffung eines miteinander verzahnten Drei-Räte-Modells, bei dem je ein Rat für Sicherheit, Wirtschaft und Soziales/Entwicklung zuständig wäre. Solche Vorschläge sind aber bisher nicht offiziell von einem VN-Gremium vorgebracht bzw. mit Aussicht auf Erfolg in die Debatte eingebracht worden.
Auch dem System aus zahlreichen Sonderorganisationen, Spezialorganen und Programmen mit teilweise ähnlichen Aufträgen wird Ineffizienz vorgeworfen, was im Extremfall zu sich gegenseitig behindernden Mandaten führen kann. Ein besonders schwer wiegendes Problem ist darüber hinaus die mangelhafte Abstimmung zwischen den VN-Gremien und den in den vergangenen Jahren an Einfluss gewinnenden Bretton-Woods-Organisationen, die alles andere als problemlösend wirkt. So wird vorgeschlagen, die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit der VN stärker mit der Handels- und Währungspolitik zu verzahnen oder gardie Handels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) mit der Welthandelsorganisation (WTO) zu verschmelzen.
Eine stark diskutierte institutionelle Veränderung bezieht sich auf die Schaffung einer neuen Dachorganisation für Umwelt- und Entwicklungsfragen. Eine solche Organisation könnte bestimmte bestehende Institutionen in eine neue, übergeordnete Struktur einbinden und die Zusammenlegung des VN-Umweltprogramms (UNEP) und der Kommission für Nachhaltige Entwicklung (CSD) sowie der relevanten umweltpolitischen Konventionssekretariate zu einer einzelnen Organisationbedeuten.
Zu fragen ist deshalb, ob es nicht eine weitere Überdehnung und Überforderung des VN-Systems bedeutet, es mit allen gravierenden Menschheitsproblemen zu befrachten. Außerdem wäre mit der rein deklaratorischen Einrichtung von Umwelt-, Wirtschafts- bzw. Sozialräten oder -organisationen noch nichts gewonnen: Es käme einzig und allein auf die Kompetenzen und die Art der Legitimation an, die ihnen zugewiesen würden. Ihrer Verwirklichung stünden zudem aufgrund der erforderlichen Billigung durch die Generalversammlung erhebliche Verfahrensschwierigkeiten entgegen.
In der Kritik stehen auch die von den VN organisierten großen Weltkonferenzen wie etwa der Gipfel zur nachhaltigen Entwicklung in Johannesburg vom August 2002. Unstrittig ist ihre Funktion als Plattform für globale Kommunikation und Interaktion. Es ist aber kritisch zu fragen, ob man sich nicht vom Ziel der von allen Teilnehmerstaaten mitzutragenden Abschlusserklärungen und Formelkompromisse verabschieden sollte. So wird angeregt, sich bei künftigen Gipfeln zu umwelt- und entwicklungspolitischen Themen vom Druck der Einstimmigkeit zu befreien und stattdessen diese Treffen eher als globale Foren zu betrachten, und vor allem mehr "coalitions of the willing" in entscheidenden Fragestellungen anzustreben. Damit "wäre den Belangen der von Umweltzerstörung und Unterentwicklung betroffenen Menschen womöglich besser gedient"
Reformen des Systems der Friedenssicherung
Die Debatte um "präemptive Sicherheitspolitik"
Einen fundamentalen Einschnitt in die etablierte Völkerrechtsordnung stellt der Krieg gegen den Irak im Frühjahr 2003 dar. Die USA begründeten ihren ohne VN-Mandat geführten Krieg mit der Notwendigkeit, das Land von einem grausamen Unterdrückungsregime zu befreien und der irakischen Führung den Zugang zu Massenvernichtungswaffen zu entziehen bzw. zu verweigern. Es wurde ein gewaltsamer Regimewechsel angestrebt und auch erreicht, der völkerrechtlich unzulässig ist. Damit, so kritische Beobachter, sei wieder einmal deutlich geworden, dass sich Staaten - und zwar nicht nur die USA - bei der Anwendung militärischer Gewalt nicht in erster Linie fragen, ob diese rechtmäßig sei oder nicht, sondern schlicht als Maßstab ihre nationalen Interessen zugrunde legen. Die völkerrechtlichen Regelungen zur Einhegung des Krieges, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben sind, seien gescheitert und es sei an der Zeit, das Völkerrecht zu reformieren und den neuen Gegebenheiten anzupassen.
Unter welchen Voraussetzungen und für welche Fälle militärische Interventionen erlaubt sein sollen, sind strittige Fragen, die mit der Debatte um die so genannte "präemptive Sicherheitspolitik" verbunden sind. Hintergrund dieser Überlegungen ist die in sicherheitspolitischen Fachkreisen bereits seit Längerem diskutierte Veränderung der strategischen Landschaft. In der Kombination von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen liege eine der zentralen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Die der sicherheitspolitischen Strategie in der Zeit des Ost-West-Konflikts zugrunde liegende Philosophie der Abschreckung (deterrence) funktioniere unter den neuen Gegebenheiten nicht mehr. Im Einzelfall müsse von einer "Abschreckung durch Bestrafung" (deterrence by punishment) zu einer "Abschreckung durch Verwehren" (deterrence by denial) übergegangen werden. Denn werde militärische Gewaltanwendung prinzipiell als Ultima Ratio begriffen, könne der günstigste Augenblick verpasst werden, in dem beim Eingreifen in Konflikte mit vergleichsweise geringem Mittelaufwand - und möglicherweise schon mit einer glaubwürdigen Drohung - ein maximaler politischer Effekt erzielt werden könne. Die Selbstverteidigung nach Artikel 51 der VN-Charta ist zwar ein klassisches legitimes Recht der Staaten. Die zentrale Frage ist aber, was im Zeitalter von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen Selbstverteidigung ist. Die Grenzen des Selbstverteidigungsrechtes sind bereits seit längerem unscharf, spätestens seit dem 11. September 2001 ist aber deutlich geworden, dass existenzielle Bedrohungen für Staaten nicht dem klassischen Bild eines bewaffneten Überfalls von Staat A auf Staat B entsprechen müssen.
Der VN-Sicherheitsrat hat nach dem 11. September 2001 unverzüglich deutlich gemacht, dass die USA gegen diesen terroristischen Angriff das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehmen können. Insofern ist die Anpassungsfähigkeit des Völkerrechts an neue Gefahren bereits anerkannt und in der Praxis demonstriert worden. Voraussetzung für ein legitimes Handeln ist immer, dass Gefahren nicht nur instrumentell behauptet werden, sondern deren Existenz mit hoher Plausibilität dargelegt wird. Während militärische Prävention als im Einzelfall legitim gelten kann, stellen Präemptionskriege die internationale Ordnung vor fundamentale Herausforderungen.
Veränderungsbedarf im Bereich der VN-Friedenssicherung
Jenseits der Frage, wer in der internationalen Politik den Einsatz militärischer Gewalt legitimieren soll, steht das gesamte Friedenssicherungssystem der VN zur Diskussion. Bei unzähligen Gelegenheiten hat Generalsekretär Annan gefordert, die Mitgliedstaaten müssten die VN besser auf die Herausforderungen der Globalisierung einstellen, und dabei insbesondere drei strategische Prioritätsbereiche genannt: Freiheit vor Not (Entwicklungsagenda), Freiheit vor Furcht (Sicherheitsagenda) und Schaffung einer ökologisch bestandsfähigen Zukunft (Umweltagenda). Die besondere Qualität der VN liege darin, dass sie diese Bereiche miteinander verbänden und sich "neuen und alten", "harten und sanften" Bedrohungen stellen könnten. Damit wird versucht, traditionelle Elemente des Sicherheitsbegriffs mit der Gewährleistung von Menschenrechten, dem Recht auf Entwicklung sowie dem Recht auf eine lebenswerte Umwelt zu verbinden.
Die ursprüngliche und durchaus erfolgreiche Ausrichtung der VN auf die Verhinderung zwischenstaatlicher Kriege hat sich mit dem Wandel des Kriegsbildes in Richtung innerstaatlicher Auseinandersetzungen radikal verändert. Spektakuläre Fehlschläge wie in Ruanda, im bosnischen Srebrenica oder in Sierra Leone haben den Reformdruck in diesem Bereich erhöht. Gemäß Kapitel VII der Charta stünde den VN ein hinreichendes Instrumentarium an Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens zur Verfügung, in der Praxis wurde aber von diesen Bestimmungen bisher kaum Gebrauch gemacht. Nach den Vorschlägen einer Expertengruppe unter dem Vorsitz des ehemaligen algerischen Außenministers Lakhdar Brahimi vom August 2000 sollen die VN-Truppen in Zukunft grundsätzlich ein "robustes" Mandat erhalten und nur in Einsätze geschickt werden, wenn die Regeln dafür eindeutig sind, sie hinreichend geführt werden können und gut ausgerüstet sind. Dazu wird auch eine personelle Aufstockung im dafür zuständigen "Department of Peacekeeping Operations" im VN-Hauptquartier am New Yorker East River gefordert. Zudem soll gemäß dem Konzept des "Standby-Arrangement-Systems" eine schlagkräftige multinationale Streitkraft bereitgestellt werden, auf die bei Bedarf schnell zugegriffen werden kann. Insgesamt soll damit das System der Friedenssicherung effektiver arbeiten; auch der vorbeugenden Diplomatie sowie der Friedenskonsolidierung soll mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Die Bilanz der Reformbemühungen im Bereich der VN-Friedenssicherung ist gemischt. Die Empfehlungen des Brahimi-Berichts sind schnell wieder in den Schubläden verschwunden und nur zu sehr geringen Teilen umgesetzt worden. Auch die Erfahrungen mit den vergangenen Operationen zur Friedenssicherung verdeutlichen, dass die VN die Mitgliedstaaten in ihrer Verantwortung für den Frieden keinesfalls ersetzen können. Insbesondere das Scheitern der so genannten "dritten Peacekeeping Generation" hat gezeigt, dass die VN zur Erzwingung des Friedens mit eigenen Mitteln ungeeignet ist und dabei allenfalls einen legitimatorischen Rahmen schaffen kann.
Allerdings dürfte eine zu beobachtende Praxis die Relevanz der VN im Bereich der Friedenssicherung nachhaltig bestimmen: die Tendenz, dass sich insbesondere die leistungsfähigen Industriestaaten verstärkt Friedensmissionen mandatieren lassen (oder auch nicht), um sie dann in eigener Verantwortung durchzuführen. Dies führt zu einer Konzentration ihrer Kräfte auf Länder und Regionen, die für die betroffenen Staaten von unmittelbarem Interesse oder von Bedeutung sind. Den VN droht dabei nur noch eine Restkompetenz für vergessene Konflikte zuzufallen, für die sie dann - wie z.B. in Afrika zu beobachten - von den Industriestaaten zudem nur zögerlich unterstützt werden.
Ein Reformvorschlag im Bereich der VN-Friedenssicherung, der zwar auf absehbare Zeit keine Realisierungschancen haben dürfte und zudem mit zahlreichen Problemen behaftet ist, der aber gleichwohl zunehmend diskutiert wird, ist die so genannte "Privatisierung des Peacekeeping". Hintergrund dafür ist der insbesondere seit den neunziger Jahren feststellbare Trend zur Privatisierung des Sicherheitssektors, verstanden als verstärkte Übernahme polizeilicher und militärischer Funktionen durch private Dienstleister. Seit Jahren stehen zahlreiche solche Firmen bereit, die von militärischer Logistik und Beratung bis hin zum aktiven Kriegsdienst militärische Dienstleistungen anbieten und auch in militärischen Konflikten einsetzen. Angeregt wird, die Aufgabe der Friedenssicherung ganz oder teilweise an private Firmen zu delegieren. So ist in Zukunft denkbar,Privatfirmen zur Reform der militärischen Fähigkeiten der VN heranzuziehen oder eine engere Kooperation zwischen VN und privaten Firmen zu entwickeln.
Bilanz und Realisierungschancen
Vor dem Hintergrund grundlegender Differenzen über die Rolle der VN in der internationalen Politik verwundert es nicht, dass die Vorstellungen einer umfassenden Reform bisher ebenso vielfältig wie unscharf geblieben sind. In dieser Situation sind Prognosen über die Realisierungschancen zentraler Vorhaben wie etwa der Sicherheitsratsreform kaum möglich. Die jüngst von Generalsekretär Annan eingesetzte Expertengruppe scheint sich immerhin in dieser Frage auf einen Vorschlag geeinigt zu haben, der Aussicht auf Erfolg haben könnte. Demnach soll der Sicherheitsrat auf 24 Staaten erweitert werden und künftig aus drei Gruppen von Mitgliedern bestehen: den bisherigen fünf Ständigen Mitgliedern, einer Gruppe semi-permanenter Mitglieder, die von der Generalversammlung für jeweils fünf Jahre gewählt werden (vorgeschlagen werden u.a. Brasilien, Deutschland, Indien, Japan und Südafrika), und einer Gruppe rotierender nichtständiger Mitglieder, die für eine zweijährige Periode ebenfalls von der Generalversammlung gewählt werden. Das Vetorecht solle dabei nur für die fünf ständigen Mitglieder gelten.
Dass aber, unabhängig von der Frage der Sicherheitsratsreform, die Kraft zu einem großen Reformschritt aufgebracht wird, steht nicht zu erwarten. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen in den Mitgliedstaaten darüber, was die Organisation in welchen Politikfeldern leisten und wie intensiv man sich ihres Instrumentariums bedienen soll. Die Weltorganisation war in ihrer Geschichte stets abhängig von den wechselhaften politischen Konjunkturen für multilaterale Zusammenarbeit, und der Reformprozess dürfte sich auch weiterhin vornehmlich in kleinen Schritten vollziehen und von einigen Ausnahmen abgesehen auf Maßnahmen beschränkt bleiben, die in der Regelungskompetenz des Generalsekretärs liegen. Dass diese Schritte in ihrer Summe zu durchaus substanziellen Veränderungen führen können, beweisen die in der Amtszeit von Generalsekretär Annan seit 1997 vollzogenen Strukturmaßnahmen innerhalb des VN-Systems wie auch des VN-Generalsekretariats.
Multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen der VN ist oft mühsam, ineffektiv und zeitraubend. Einerseits ist bei bestimmten Problemkonstellationen (etwa in Fragen der Weltumweltpolitik) unstrittig, dass nur ein multilateraler Ansatz Erfolg versprechend sein kann. Andererseits sind andere Problemkonstellationen offensichtlich multilateral nicht immer effektiv zu bearbeiten. Hier gilt es, jenseits von "Wunschdenken" eine nüchterne Bestandsaufnahme vorzunehmen und die VN nicht zu überfordern oder gar von ihr Leistungen zu verlangen, die sie nicht erbringen kann. Multilateralismus ist kein Wert an sich, sondern nur dann sinnvoll, wenn damit Beiträge zur Problemlösung geleistet werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der internationalen Sicherheit, wo mitunter schnelles und effizientes Handeln unerlässlich ist. Aber auch in anderen Bereichen ist nüchtern über ein "Herabstufen" der VN nachzudenken und zu überlegen, wo der Vorteil einer globalen Organisation gegenüber anderen bi- oder multilateralen Foren liegt.
Die Chancen für einen "großen Wurf" beim Thema VN-Reform sind mithin gering, und die Weltorganisation dürfte auch zukünftig nicht in der Lage sein, die hoch gesteckten Erwartungen zu erfüllen. Der anhaltende Reformbedarf sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die Weltorganisation für die Stabilität des internationalen Systems unverzichtbar ist. Sie hat sich, trotz aller Schwächen, als eine Institution erwiesen, mit der flexibel auf neue (und alte) Herausforderungen reagiert werden kann. Es kommt wie so oft darauf an, was die Mitgliedstaaten aus diesem Rahmen machen. Der Schriftenreiheband "Menschenrechte" ist soeben erschienen. Bestellungen unter Publikationen. Dort ist der Band ist auch online verfügbar.