Einleitung
Die bunte Welt von Spiel und Sport setzt sich bei genauem Hinsehen aus zahlreichen kulturspezifischen Mustern zusammen, die von den politischen, ökonomischen, soziokulturellen und materiellen Bedingungen einer Gesellschaft abhängig sind. Grundsätzlich gilt, dass die jeweilige Bewegungskultur die Werte und Normen einer Gesellschaft "verkörpert", sie aufgreift, präsentiert und verstärkt. Das bedeutet auch, dass man an Traditionen zwar anknüpfen kann (und sollte), dass sich aber die Bedingungen für turnerische und sportliche Aktivitäten verändern und dass sich deshalb auch die Ziele und Inhalte der Turn- und Sportbewegung immer wieder den aktuellen Gegebenheiten anpassen müssen. Zudem ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gefordert, die (Er)Kenntnisse über die Entstehung und Entwicklung des Turnens und des Sports voraussetzt.
Anfänge auf der Berliner Hasenheide
Einer der wichtigsten "Väter" der "Leibes-Übungen" war der Philanthrop Johann Christoph GutsMuths (1759-1839). Die von ihm entwickelte, pädagogisch begründete "Gymnastik" wurde weltweit rezipiert. Basierend auf den Ideen der Aufklärung entwickelten die Philanthropen eine revolutionäre Pädagogik, deren Ziel es war, ihre (männlichen) Schüler zu vernunftgeleiteten Bürgern zu erziehen. Da sich Vernunft nur durch Handeln und Erkenntnis, das heißt nur durch körperliche Aktivitäten und sinnliche Wahrnehmungen, entwickeln könne, hielten die Philanthropen Leibesübungen für unverzichtbar. Ihr breit gefächerter Übungskanon diente Zeitgenossen und Nachfolgern bei der Entwicklung eigener Gymnastiksysteme als "Fundgrube" in einer Zeit, in der aufgrund der Napoleonischen Kriege die körperliche Ertüchtigung der Jugend als unabdingbar erschien.
In Deutschland gilt Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) als der "Vater" des Turnens, das er zusammen mit Gleichgesinnten aus seinen Ideen der "Volkserziehung" entwickelte.
Turnen war ein umfassendes Konzept von im Alltag und im Krieg nützlichen Bewegungsaktivitäten. Dazu zählten zahlreiche Übungen an Geräten, sogenannte volkstümliche Übungen wie Laufen, Springen und Werfen, Klettern oder Fechten, Voltigieren, Ringen, Schwimmen und Spiele. Die Einrichtung der Turnplätze spiegelt die nicht auf Höchstleistung ausgerichtete "Philosophie" des Turnens wider.
Nicht die Übungen, sondern die Normen und Werte, Intentionen und Prinzipien des Jahn'schen Turnens unterschieden sich grundlegend vom modernen Turnen und Sport, was sich am besten an den Laufformen demonstrieren lässt: So führte Jahn zahlreiche Laufarten auf, unter anderem das Rennen, den Schlängellauf, den Rücklauf (Rückwärtslaufen), den Sturmlauf (Hinauflaufen auf eine Anhöhe) und den Scheinlauf (Laufen auf der Stelle). Alle konnten als Schnell- oder Dauerlauf und als Lastlauf mit Gepäck oder Lediglauf ohne Gepäck betrieben werden. Den Dauerlauf beschrieb Jahn folgendermaßen: "Beim Wettrennen auf Dauer gebührt dem der Preis, der den weitesten Raum, in der kürzesten Zeit, mit der mindesten Anstrengung zurücklegt und am Ziele unerschöpft bei guten Kräften anlangt."
Turnen war Teil der deutschen Nationalbewegung und Mittel der Nationalerziehung.
Obwohl der Turnplatz "als Tummelplatz für die gesamte Bevölkerung und als Sammelpunkt des ganzen öffentlichen Lebens gedacht" war,
Auf- und Abschwünge: "Verschulung" und bürgerliche Turnbewegung
1842 wurden die Leibesübungen in Preußen "als ein notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung förmlich anerkannt und in den Kreis der Volks-Erziehung aufgenommen".
Mit der Reichsgründung 1871 war eines der wichtigsten Ziele der Turner verwirklicht. Die 1868 gegründete Deutsche Turnerschaft (DT) stellte sich vorbehaltlos und in vielfältiger Weise in den Dienst des Deutschen Reiches.
Während Frauen bis zum Ende der 1880er Jahre vom Turnen ausgeschlossen waren, bestand für Mädchen in eingeschränktem Maße die Möglichkeit, an Turnkursen teilzunehmen. Zudem nahmen manche Schulen, vor allem private höhere Töchterschulen, seit den 1850er Jahren Turnen in ihren Fächerkanon auf. Da Frauen nicht am männlichen Maßstab der Wehrhaftigkeit, Stärke und Überlegenheit gemessen wurden, schien die "körperliche Ertüchtigung des weiblichen Geschlechts" keine allzu große Bedeutung zu haben. Die Übungsauswahl im Mädchenturnen war zudem aufgrund zahlreicher Vorurteile und Vorbehalte äußerst beschränkt. Es galt die Devise: "Kopf oben, Beine unten und geschlossen." Erst gegen Ende des Jahrhunderts wurde die Ineffektivität der Übungen kritisiert und unter dem Motto "Starke werden nur von Starken geboren" eine Reform des Mädchenturnens gefordert.
Turnfeste und Turnprinzipien
Höhepunkte des Turnens waren Feste und Feiern, welche die Gemeinschaft der Turner im eigentlichen und übertragenen Sinne "verkörpern" sollten. So organisierten die Turner schon auf der Hasenheide, aber auch im Vorfeld der 1848er Revolution Feste, bei denen politische Botschaften verkündet, aber auch turnerische Leistungen gezeigt wurden. Turnfeste waren und sind bis heute eine Leistungsschau des Turnens, präsentieren die imagined community der Turnbewegung nach innen und außen und sichern so das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Loyalität ihrer Mitglieder. "Deutsche Turnfeste" finden seit 1860 in der Regel alle vier Jahre statt. Organisiert wurden und werden sie von der DT (bis 1933) bzw. dem 1950 gegründeten Deutschen Turner-Bund (DTB). Auf den Turnfesten wurden alle Register kollektiver Erinnerung gezogen, um die chaotisch erscheinende Masse der Turner zusammenzuschweißen und sie nach innen in einen Bund, nach außen in ein "Turnerheer" zu verwandeln. Mit Hilfe von Symbolen, unter anderem Farben und Fahnen, Jahnbüsten und Eichenlaubkränzen, wurde Teilnehmern und Zuschauern Begeisterung für das Turnen und darüber hinaus für das Vaterland vermittelt. Turnfeste konnten, so der Historiker George Mosse, "die Massen nationalisieren".
Die Übungen und Wettbewerbe auf den Turnfesten verdeutlichten die Prinzipien des Turnens sowie die Unterschiede zwischen Turnen und Sport. So demonstrierte das "Gemeinturnen", bei dem alle Teilnehmer die gleiche Übung turnten, dass der Einzelne als Teil eines Ganzen aufzufassen sei.
Turnen erhält Konkurrenz - Sport wird modern
Mit der von England ausgehenden Verbreitung des modernen Sports erhielt das Turnen schon früh Konkurrenz. Die mit der Aufklärung und Industrialisierung verbundenen Normen, Werte und Strukturen, unter anderem rationales Denken, technischer Fortschritt, abstrakte Zeitordnung und eine auf Kapitalakkumulation ausgerichtete Ökonomie, spiegelten sich in dem auf Wettkampf, Überbietung und Rekorde ausgerichteten Konzept der Bewegungskultur wider.
In Deutschland begann der Siegeszug des Sports Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Import einiger wichtiger Sportarten, vor allem des Fußballs. Gleichzeitig verbreiteten sich die Logik des Sports und seine Prinzipien. Zahlreiche Übungen und Spiele des Turnens, vom Faustballspiel bis hin zu den volkstümlichen, athletischen Übungen, wurden "versportlicht".
Die Anhänger des Sports wiesen die erwähnten Vorwürfe zurück und konterten ihrerseits mit Angriffen auf das Turnen, dem sie Ineffektivität, Deutschtümelei, Spießbürgerlichkeit und Kneipenseligkeit vorwarfen. In einem Punkt waren sich die "verfeindeten Brüder" allerdings einig, nämlich in ihrer Kritik am Professionalismus, am Sporttreiben um des "Broderwerbs" willen.
Turnfest 1913
Ein gutes Beispiel für die Haltung der Turner in der Vorkriegszeit ist das 12. Deutsche Turnfest 1913 in Leipzig. Es stand ganz im Zeichen der Völkerschlacht, die 100 Jahre zuvor vor den Toren der Stadt stattgefunden hatte und seit 1814 als Signal der Befreiung Deutschlands interpretiert wurde. Die Erinnerung an die Schlacht prägte die Festzeitung, die in zahlreichen Beiträgen, Gedichten, Aufrufen und Abbildungen den Sieg über die Franzosen und die Rolle der Turner in den Befreiungskriegen beschwor. Auch im Festzug wurde die Erinnerung an 1813 symbolisch präsentiert: Die Musiker, die an der Spitze eines der beiden Züge marschierten, trugen die Uniformen der Lützowschen Jäger. Die Massenfreiübungen, an denen 17000 (ausschließlich männliche) Turner teilnahmen, sollten ebenfalls die Wehrbereitschaft signalisierten. Erstmals wurde auf einem Turnfest Militärturnen gezeigt.
Wenige Monate nach dem Turnfest wurde mit der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals, eines bombastischen Erinnerungsortes voller kriegerischer und nationaler Symbole, das 100-jährige Jubiläum der Schlacht gefeiert. Die Turner beteiligten sich an dieser Feier mit einem Eilbotenlauf, der auf neun verschiedenen Strecken sternförmig durch ganz Deutschland nach Leipzig führte. Die Bilder, Reden und Rituale des Turnfestes von 1913 rufen heute unwillkürlich Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg wach. Allzu schnell wurde der Spruch: "Es ist der schönste Tod fürs Vaterland zu sterben", grausame Realität.
1933 begrüßte die Turnerschaft die Machtübernahme der Nationalsozialisten und strebte - vergeblich - die Führung im deutschen Sport an. Mit der Neuordnung des Sportsystems wurde die DT zum Fachamt "degradiert" und 1936 aufgelöst.
Frauen im Turnen und Sport
Turnen und Sport wurden von Männern für Männer entwickelt und dienten der Präsentation männlicher Leistungsfähigkeit. Vor, aber auch noch nach dem Ersten Weltkrieg stießen Frauen bei ihren Bestrebungen, am Sport teilzunehmen, auf zahlreiche Probleme und Barrieren. Selbst die Leichtathletik galt als Männersache, denn: "Der Kampf gebührt dem Mann, der Natur des Weibes ist er wesensfremd."
Im Frauenturnen setzte sich nach langen Auseinandersetzungen die Hose durch, den Kampf um die Mitgliederrechte und die Beteiligung auswärtiger Turnerinnen an Turnfesten gewannen die Frauen allerdings erst in der Weimarer Republik. Mit der wachsenden Akzeptanz der Frauenerwerbstätigkeit und der beginnenden Integration der Frauen in die Leistungsgesellschaft nahm in den 1920er Jahren dann auch die Beteiligung von Frauen am Leistungssport und an Turnwettkämpfen zu. 1928 wurde das Frauenturnen als Mannschaftsmehrkampf schließlich olympisch.
Turnen heute - Resümee und Ausblick
In den vergangenen Jahrzehnten hat Turnen einen entscheidenden Bedeutungswandel erfahren - Turnen ist nicht mehr eine umfassende Bewegungskultur, sondern wird in den Köpfen vieler Menschen auf akrobatische Übungen an Geräten reduziert. Nur die Begriffe "Turnhalle" und "Turnschuh" lassen die breite Ausrichtung des Turnens noch erahnen. Der DTB hat sich seit langem von der national-deutschen Orientierung seiner Vorgängerorganisation distanziert und richtet anstelle des "Deutschen" das "Internationale Deutsche Turnfest" aus. Mit etwa fünf Millionen Mitgliedern ist der DTB der größte Freizeitsportverband, mit fast vier Millionen Mädchen und Frauen die größte Frauensportorganisation in Deutschland. Durch viele spezialisierte Angebote werden die Bedürfnisse diverser Zielgruppen bedient, von Kindern bis zu Seniorinnen. Der eindrucksvolle Wandel der Turnbewegung, zeigt sich auch an den Turnfesten. Heute prägen Frauen und Mädchen das Bild dieser Großveranstaltungen, an denen jeweils etwa 100000 Menschen aktiv teilnehmen. Die Frage, die sich hier bald für die Turnbewegung insgesamt stellen wird, lautet: Wo sind die Männer?
Der Streifzug durch die deutsche Sportgeschichte hat die Abhängigkeit der Körper- und Bewegungskultur von den jeweiligen gesellschaftlichen Werten und Normen, Strukturen und Bedingungen deutlich gemacht. So entwickelte sich das Gymnastikkonzept der Philanthropen aus den Denkmustern und Idealen der Aufklärung; das Turnen mit seiner Ausrichtung auf Volkserziehung und Wehrhaftigkeit war dagegen Teil der deutschen Nationalbewegung; die "Verschulung" des Turnens und ihre Folgen - Systematisierung des Stoffes und Disziplinierung der Schüler - waren untrennbar mit den Vorstellungen des Obrigkeitsstaates verbunden. Während das Turnen im Kaiserreich Werte wie Brauchbarkeit, Gemeinschaft, "richtige" Haltung und nationale Orientierung betonten und ein eher statisches Gesellschaftskonzept vertraten, vermittelt der Sport mit seinen Prinzipien der formalen Chancengleichheit, der Überbietung und des Rekords den Anschein unbegrenzter Dynamik, Mobilität und Modernität und entspricht damit den Werten und Normen der Leistungs- und Industriegesellschaft. Heute boomen mit Risiko und Abenteuer verbundene Aktivitäten, Sportangebote, die Fitness oder wellbeing versprechen, oder auch die Sportarten der "oberen Zehntausend". Ebenso populär sind verschiedene Trendsportarten, die alle einen spezifischen Lebensstil signalisieren. Viele Zeitgenossen mögen diese gegenwärtige Sportkultur für selbstverständlich halten, der Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass die Bewegungskultur ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaft ist und sich mit ihr wandelt.