Einleitung
Ende 2004 wird darüber entschieden, ob der Türkei ein Datum für den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen genannt wird. Unabhängig von der jeweiligen Position kommt kein Betrachter umhin, festzustellen, dass die Türkei in jüngster Zeit zahlreiche Reformen zur rechtlichen Angleichung an die EU durchgeführt hat. Die seit November 2002 regierende, als "islamisch" titulierte AK-Partei (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei - Adalet ve Kalkinma Partisi) brachte sehr viele Reformen auf den Weg, deren Annahme für die EU eine Conditio sine qua non darstellt, die aber gleichzeitig einen radikalen Bruch mit kemalistischen Traditionen bedeuten. Kritik an den Reformen kam häufig von Gruppen in Militär und Bürokratie, die sich als die Hüter und Wächter der Prinzipien des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk verstehen, den so genannten Kemalisten, die sich bisher stets für eine Westorientierung der Türkei eingesetzt haben. Die folgenden Ausführungen sollen der Frage nachgehen, wie man heute in kemalistisch und in islamisch orientierten Kreisen mit dem Erbe des vom Kemalismus propagierten Laizismus umgeht, welche Staats- und Gesellschaftsideale den entsprechenden Positionen zugrunde liegen und was dies für eine Annäherung an Europa bedeutet.
Kemalismus, Laizismus und Islam in der frühen Republik
Am 29. Oktober 1923 wurde in Ankara die Republik Türkei proklamiert, deren erster Präsident Mustafa Kemal (später Atatürk genannt) wurde. Die von ihm durchgesetzten Reformen und Veränderungen stellten einen Umbruch des politischen und gesellschaftlichen Systems dar.
Das Begreifen des Islams als potenzielle Gefahr für den modernen Nationalstaat prägt den frühen Kemalismus, der sich in dieser Zeit als Ideologie herausbildete.
Es scheint jedoch nur so, dass der Islam im Kemalismus keinen Platz hat. Denn paradoxerweise spielt der Islam als nationales Kulturgut im Nationskonzept eine bedeutende Rolle.
Kemalistische Paradigmenwechsel
Unabhängig von den antireligiösen Maßnahmen der frühen Republik bewahrte der Islam im Land seine Bedeutung. Die Einführung der Demokratie 1946 leitete einen Paradigmenwechsel im Kemalismus ein. Laizismus bedeutete fortan die Gestaltung der Religion durch den Staat. Durch die staatliche Übernahme religiöser Aufgaben sollte die Religion entpolitisiert und in das Zivilisationsprojekt integriert werden. Noch die CHP selbst führte zwischen 1946 und 1950 Religionsunterricht ein, erlaubte die Pilgerfahrt und räumte der Ausbildung von Theologen, Predigern und Vorbetern Priorität ein. Die bis dahin praktizierte repressive Religionspolitik hatte nämlich nicht die religiösen Bindungen geschwächt, sondern Autoritäten gestärkt, auf die der Staat gar keinen Zugriff hatte und deren Ausbildung er nicht kontrollieren konnte.
In der Folgezeit betrieben bürgerliche Parteien immer wieder eine Politik, die den religiösen Bedürfnissen der Bevölkerung entgegenkam. Dies umfasste vor allem die Förderung religiöser Bildungseinrichtungen, die Ausdehnung des Etats des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten und mehr Freiheiten für das islamische Engagement islamischer Gruppen in Bildung und sozialen Dienstleistungen. Die "Re-Islamisierung" folgte bis in die späten siebziger Jahre noch keiner Konzeption einer islamischen politischen Utopie. Islamische Gruppen unterstützten die bürgerlichen Rechtsparteien, die aber den Islam auf der staatlichen Ebene ablehnten.
Zu einem erneuten Paradigmenwechsel im Verhältnis von Staat und Religion kam es im Zuge des Militärputschs vom 12. September 1980. Zur Bekämpfung links- und rechtsextremistischer Tendenzen und des aufkommenden politischen Islams bediente man sich des ideologischen Konstrukts der TIS (Türk Islam Sentezi/türkisch-islamische Synthese), einer Gesellschaftssicht, die türkischen Nationalismus und kemalistische Vorstellungen eines starken Nationalstaates mit einer moderaten und antikommunistischen Sicht des Islam verband.
Der laizistische Staat als religiöser Akteur
Seit den fünfziger Jahren hatte sich auch der kemalistische Staat selbst zu einem wichtigen Akteur der islamischen Landschaft entwickelt. Mit der Einführung der Republik waren Glaubensfragen und der religiöse Kultus dem Direktorium für Religionsangelegenheiten (Diyanet Isleri Baskanligi, kurz Diyanet) unterstellt worden.
Der politische Islam
Der Islam war immer Bestandteil des Programms der Mitte-rechts-Parteien. Anfang der siebziger Jahre gründete jedoch Necmettin Erbakan aus dem religiösen Milieu heraus die Nationale Heilspartei (Milli Selamet Partisi), die vor allem in ländlichen Regionen mit einer Mischung aus Konservatismus und religiösem Traditionalismus Stimmen gewann. In ihrem Umkreis tauchten erste islamische Gruppen auf, die sich an islamischen Staatsmodellen aus dem Ausland orientierten und die nicht eine islamischere Türkei, sondern eine andere staatliche Ordnung wollten. Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erfolgte der Aufstieg der Wohlfahrtspartei (Refah Partisi RP) Erbakans,
Dahin gehende Äußerungen und vor allem Handlungen von Parteiangehörigen stellten das kemalistische Staatsverständnis in Frage und verstießen gegen die Konstanten der türkischen Innen- und Außenpolitik. Erbakans zumindest vor dem Amtsantritt noch offen geäußerter Ablehnung einer Integration in die EU, die er als "zionistische Verschwörung" bezeichnete, wurde mit Misstrauen begegnet.
Jenseits symbolischer Akte hatte Erbakan für seine Anhänger weniger erreicht als seine pragmatischen Parteigenossen auf lokaler Ebene. Nach dem Eingriff des Militärs stand man mit weniger Freiheiten da als zuvor . Die polarisierende Politik Erbakans ging selbst einigen führenden Parteimitgliedern zu weit. Diese "Erneuerer" (yenilikçiler) hatten seit den frühen neunziger Jahren ferner das Festhalten der Partei an einem Staat der kulturellen Hegemonie kritisiert. Aus ihnen ging die AK-Partei um den früheren Istanbuler Refah-Oberbürgermeister Recep Tayyip Erdogan hervor.
Eine neue islamische Politik? Die AKP
Als die AKP bei den Parlamentswahlen vom 3. November 2002 mit einem "Erdrutschsieg" an die Macht kam, waren die Aufgaben, die auf sie warteten, mannigfaltig, der Zeitrahmen eng umrissen und die kritischen Erwartungen hoch.
Zum Wahlsieg der kurz vorher gegründeten Partei mit 34,4 Prozent der Stimmen trug der Verlust des Vertrauens in die etablierten Parteien bei. Die Zehn-Prozent-Hürde sorgte dafür, dass die AKP bei der Sitzverteilung im Parlament beinahe eine Zweidrittelmehrheit erhielt und die langen Jahre der instabilen Koalitionen vieler gleich starker Parteien ein Ende hatten. Die Republikanische Volkspartei CHP ist nun die einzige Oppositionspartei. Anders als bei den wesentlich unbedeutenderen Wahlsiegen der Refah Partisi erhob sich diesmal kein Sturm der öffentlichen Entrüstung, die Aktienmärkte nahmen den Wahlsieg positiv auf. Dies lag am politischen Programm der AKP.
Die Parteigründer der AKP um den heutigen Außenminister Abdullah Gül und den jetzigen Premierminister Erdogan versuchten von Anfang an, sich vom Image Erbakans abzusetzen. Sie bezogen die kemalistische Realität des Landes in ihre Politik mit ein und vermieden Provokationen. Die AKP bezeichnet sich selbst als bürgerlich-konservativ und vergleicht sich gerne mit der deutschen CDU. Im Wahlkampf gab man sich wirtschaftsnah und forderte die Privatisierung von Staatsbetrieben, eine weitere starke Demokratisierung der Türkei und mehr Partizipation für die Zivilgesellschaft.
Durch die Integration von Führungspersönlichkeiten der alten Rechtsparteien wurde sie zum neuen Sammelbecken der politischen Rechten und konnte sich vom Image als islamistische Partei absetzen. Charismatischer Führer der Partei ist Recep Tayyip Erdogan, der seinen Werdegang unter Necmettin Erbakan begonnen und zeitweise auch, zumindest verbal, dessen antieuropäische Polemik und Forderungen nach einem islamischen Staat unterstützt hatte.
Doch hat sich Erdogan eher als politischer Realist einen Namen gemacht, als er Oberbürgermeister der 16-Millionenstadt Istanbul war. Er gilt dabei (anders als die bisherige politische Elite einschließlich Erbakans) als Mann aus dem Volk. Auch er plante zu Beginn seiner Zeit als Oberbürgermeister große islamische Symbolprojekte, z.B. den Bau einer Großen Moschee am Taksimplatz, einem Zentrum westlicher Lebenskultur in Istanbul, oder die Einschränkung des Alkoholausschanks in der Stadt. Er maß diesen Wahlkampfversprechen jedoch keine Priorität bei und konzentrierte sich auf die drängenden Probleme, mit deren Lösung er mehr Menschen erreichen konnte. Er hatte schnell erkannt, dass viele Türken sich von ihm eine gute Verwaltung und saubere Straßen erhofften und keinen islamischen Staat.
Parteiintern wurde im Oktober 2003 der Reformflügel gestärkt und viele Weggefährten aus der Zeit Erbakans wurden kaltgestellt. Der politische Kurs der AKP wurde in den Kommunalwahlen vom 28. März 2004 bestätigt. Sie konnte im Vergleich zu den Parlamentswahlen ihren landesweiten Stimmenanteil von 34,4 auf 42 Prozent erhöhen. Dies war ein klares Votum für die Tatkraft der Regierung bei der Umsetzung der für einen EU-Beitritt geforderten Reformen, mit denen man sich von einigen kemalistischen Tabus verabschiedete.
Europapolitik der AKP
Insbesondere die Europapolitik der AKP, die im Wesentlichen die Innenpolitik und das Staatsverständnis berührt, überrascht viele Beobachter, da sie sich weder den Traditionen der Refah Partisi noch klassischer kemalistischer Politik zuordnen ließ. Nach eineinhalb Jahren Regierung durch die AK-Partei ist das politische System der Türkei europäischer als je zuvor. Es wurden zahlreiche, für die EU unabdingliche Gesetzespakete beschlossen, die an Kernbereiche kemalistischen Staatsverständnisses rührten.
Unter anderem konnte der politische und gesellschaftliche Einfluss des türkischen Militärs beschnitten werden, das eine Art "Überstaat" bildete, gleichzeitig wurde der Einfluss der Regierung auf das Militär gefestigt. Weitere Reformen betrafen die Reformierung des Justizwesens, die Anerkennung internationaler Abkommen, effektive Maßnahmen gegen die Folterpraxis und die Ausweitung der Meinungs- und Organisationsfreiheit. Der starke Einfluss des Staates auf alle gesellschaftlichen Bereiche (Etatismusprinzip) wurde zugunsten einer Stärkung der Zivilgesellschaft stark zurückgedrängt. Ebenso wurde das kemalistische Nationalismusverständnis modifiziert, das die sprachlich-kulturelle Hegemonie des Türkischen als unabdinglichen Bestandteil der nationalen Einheit postulierte. Nach zahlreichen Anläufen werden nun erstmals im staatlichen Fernsehen kurdischsprachige Sendungen ausgestrahlt. Die kurdische Sprache ist jetzt auch an Bildungseinrichtungen erlaubt, und es dürfen kurdische Namen vergeben werden.
Auch die Religionsfreiheit hat einen Wandel erfahren. Sowohl im kemalistischen Sinne wie auch im Verständnis der Refah fußte die türkische Identität auf einer türkisch-sunnitischen Kultur der Bürger. Deshalb ist die gesetzliche Anerkennung anderer Religionsgemeinschaften als gleichberechtigt gegenüber dem sunnitischen Islam ein Meilenstein. Städtische Vergünstigungen stehen nun allen Religionsgemeinschaften gleichermaßen zu; dies gilt für die christlichen Religionsgemeinschaften ebenso wie für die Alewiten. Christliche Stiftungen können nun Eigentum erwerben. In Sprache und Religionspolitik wurde damit erstmals Pluralismus nicht nur geduldet, sondern rechtlich abgesichert.
Das Scheitern des politischen Islam
Der Islamismus als auf absoluten Systemwechsel gerichtete revolutionäre politische Massenideologie ist in der Türkei gescheitert. Hierzu trug eine Reihe von Faktoren bei: Zum einen hatte die Regierung Erbakan den Staat nicht islamischer gemacht, sondern lediglich eine Verschärfung des innenpolitischen Klimas bewirkt. Auch wurde deutlich, dass die revolutionäre Annahme falsch war, die Mehrheit der türkischen Muslime warte nur darauf, dass jemand der säkularen Republik ein Ende bereite. Zum politischen Scheitern dieser Ideologie trug ferner bei, dass der politische Islamismus international seine Unschuld verloren hatte. Der nach innen gerichtete islamische Terror tat sein Übriges. Umfragen zeigen, dass die Anzahl derjenigen, die für die Scharia (in welcher Form auch immer) als Gesetzesgrundlage waren, in den letzten Jahren massiv abgenommen hat.
Viele der einstigen Heißsporne sind mittlerweile in das System integriert, und viele radikale Versprechungen sind dem Sinn für das politisch Machbare gewichen. Nicht zuletzt haben sich diejenigen Teile des türkischen Mittelstands, die den moralischen Ideen Erbakans nahe standen, einer realistischeren Weltsicht zugewandt. Sie interessieren sich für Europa und eben nicht für Libyen; Erdo?ans erste Reise nach seinem Amtsantritt führte ihn dementsprechend nach Griechenland.
Dies hängt auch damit zusammen, dass die hohen außenpolitischen Erwartungen an die Öffnung Zentralasiens Anfang der neunziger Jahre enttäuscht worden sind. Die Türkei war keine neue Supermacht geworden, die sich strategisch nach anderen Partnern umschauen konnte oder gar keiner Partner mehr bedurfte.
Von entscheidender Bedeutung waren die hiermit einhergehenden Veränderungen des Staatsverständnisses unter einflussreichen muslimischen Intellektuellen. Bis Anfang der neunziger Jahre war der islamische Diskurs in der Türkei von Konzepten geprägt, die auf Übersetzungen von theoretischen Werken aus Pakistan und Ägypten (vor allem des Pakistaners Abu A`la al-Maududi und des Ägypters Sayyid Qutb) beruhten. Die Idee des islamischen Staates war eine utopische, die das eigentliche Problem (wie auch in der revolutionären Linken angenommen) im Erringen der Macht sah und für die weitere Entwicklung auf die innere Logik der Grundideologie vertraute. Doch die Realität in anderen islamischen Ländern wies in eine andere Richtung.
In den neunziger Jahren stellten einige wichtige Journalisten, Akademiker und Intellektuelle die Gültigkeit der Narration vom Nationalstaat mit seinem sprachlichen und kulturellen Homogenisierungsdruck in Frage. Dies erfolgte vor dem Hintergrund einer Polarisierung der Gesellschaft entlang der Linien Laizisten/Islamisten, Türken/Kurden, Sunniten/Alewiten, wobei der Staat jeweils selbst für die eine und gegen die andere Seite stand. Sie setzten sich für gesellschaftliche und wirtschaftliche Liberalisierungen, die Begrenzung des innenpolitischen Einflusses des Militärs, die Gewährung kultureller Rechte für die kurdischsprachige Bevölkerung und den Rückzug des Staates aus religiösen Angelegenheiten ein. Erstmalig trafen hierbei ideologisch entgegengesetzte Gruppen zusammen, die in vielen ihrer Kritikpunkte übereinstimmten. Islamische Intellektuelle beteiligten sich rege an dieser Diskussion.
Auch über den islamischen Staat wurde kontrovers diskutiert. So kritisierte der islamische Journalist und Intellektuelle Ali Bulaç den modernen Nationalstaat per se und beanstandete, dass die bisherigen Versuche des islamischen Staates sich genau an den Vorstellungen eines totalitären, kulturell homogenisierenden Nationalstaates orientierten. Der islamische Staat, durch eine Elite eingeführt und von oben nach unten durchgesetzt, entsprach auch der Politikvorstellung vieler Ideologen der Refah Partisi und speiste sich für Bulaç aus den gleichen Ideen der Moderne wie der frühe Kemalismus. Auch wenn seine eigene Staatsvorstellung, die er aus der Gemeindeordnung von Medina ableitete - der Gemeindeordnung einer Gesellschaft, in der die Muslime die Minderheit bildeten -, wenig Einfluss auf die konkrete Gestaltung von Politik hatten, so haben sie doch zur Entmystifizierung des Bildes des islamischen Staates im islamischen Lager beigetragen. Multikulturalismus wurde so in den islamisch-politischen Diskurs eingeführt. Ein Teil des Gesellschaftsverständnisses der AKP, das Minderheiten sehr viel mehr Rechte im Staat zugesteht, speist sich genau aus dieser Entwicklung, die von Bulaç und seinen Mitstreitern angestoßen wurde. Ferner erkannten sie, dass islamistische Politik den Islam insgesamt profanisiere, weil kein abgetrennter Bereich des Heiligen mehr übrig bleibe. Günter Seufert fasst die Entwicklungen unter der Überschrift zusammen: "Die islamischen Intellektuellen der Türkei haben den säkularen Staat längst anerkannt."
Prominenter Kritiker einer Politisierung und Profanisierung des Islams war auch der Prediger Fethullah Gülen. Er warf kritisch in die Diskussion ein, dass ein islamischer Staat die Erfordernisse der Tagespolitik mit moralischen Prinzipien in Einklang bringen müsse, ohne hierbei den Islam selbst zu beschädigen. Ein Problem einer islamischen Partei ist für ihn eben genau dieses, dass siemit dem Islam verschmilzt und ihr eigenes Fehlverhalten damit zwangsläufig auch auf den Islam zurückfällt; daneben erkläre sie durch diese Gleichsetzung Vertreter anderer Parteien zu Ungläubigen, was eine schwere Sünde sei. Ferner sei eine islamische staatliche Ordnung kein Garant für die Errettung der Bürger im islamischen Sinn. Kein Mensch komme dafür ins Paradies, dass er in einem islamischen Staat lebe, da die Verantwortung vor Gott individuell sei. Als geistiger Vater der einflussreichsten geistigen Strömung im türkischen Islam setzt er sich für die Arbeit am Individuum in Bildungseinrichtungen ein. Heute stellt er eine unkritische Betrachtung der islamischen Geschichte in Frage und will die Türkei in die westliche Welt integrieren.
Viele der politischen Realisten sehen, dass die Türkei entweder Teil des liberalen Europa wird und sich in diesem Zuge im westlichen und freiheitlichen Sinne reformiert oder ein von den USA unterstützter Nationalstaat bleibt, ein stabiler Vorposten im Nahen Osten mit einem Vorbildcharakter für Staaten wie Pakistan oder Afghanistan, bei dem auch die Rechte der Bevölkerung dem Primat der Stabilität preisgegeben werden. Als Europa 1999 in Helsinki eine ehrliche Offerte unterbreitete, war man deshalb mehrheitlich für die europäische Option.
Die Kritik am kemalistischen Staat ebenso wie an der Idee des islamischen Staates war Frucht des kemalistischen Projekts selbst. Denn die Größen des heutigen islamischen Diskurses sind Produkt der republikanischen Türkei mit ihren Bildungswegen. Nicht zu unterschätzen ist auch der Austausch mit Europa und die Herausbildung einer liberalen Diskussionskultur, die totalitäre Tendenzen jeglicher Art ablehnt. Dies führte dazu, dass sich während der neunziger Jahre das islamische Spektrum in verschiedene Plattformen diversifizierte, ähnlich den Entwicklungen der westeuropäischen Linken in Europa in den sechziger und siebziger Jahren. Die heutige proeuropäische Haltung der AKP wird dabei dadurch erklärbar, dass sie in diesem Prozess zum Sammelbecken der "Realos" einer einst nahezu revolutionären islamischen Ideologie wurde.
Fazit
Die Analyse hat gezeigt, dass sowohl der Kemalismus als auch der politisch motivierte Islam dem zeitlichen Wandel unterliegen. Der Kemalismus hat im Laufe der Zeit mehrere Paradigmenwechsel in seinem Verhältnis zum Islam erlebt. Nach einer anfänglichen Ausgrenzung wurde der Islam immer stärker in das kemalistische Zivilisationsprojekt integriert und über das Präsidium für religiöse Angelegenheiten unter die Kontrolle des Staates gestellt. Der sunnitische Islam war dabei stets Bestandteil des türkischen Nationalismus.
Der politische Islam ist ein kritisches Phänomen und forderte den Kemalismus heraus, indem er Konstanten der politischen Kultur in Frage stellte. Auf lokaler Ebene war seine Politik pragmatisch und recht erfolgreich, die Herausforderung der staatlichen Grundfesten, insbesondere des Laizismus, schlug allerdings bereits in ihren Ansätzen fehl. Die AKP zog ihre Lehren aus dem Fall der Refah Partisi und forderte den Kemalismus an anderen Stellen heraus. Unter strikter Wahrung des Laizismus wurden wesentliche Reformen in der Türkei durchgeführt, die den Staat in seiner Natur stark verändert haben. Die Orientierung zur EU und der Bruch mit Prinzipien des starken Nationalstaates, für den auch die Refah Partisi noch stand, reflektieren die intellektuellen Entwicklungen islamischer Intellektueller in den neunziger Jahren. Nur so konnte der Islam als gesellschaftliche und politische Kraft weiterhin eine Rolle in einem Land spielen, in dem die Bevölkerung zwar mehrheitlich muslimisch ist, aber in keinem islamischen Staat leben will. So steht die Türkei heute nicht "islamischer", sondern europäischer da als vor dem Amtsantritt der AKP. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die interne Durchsetzung dieser islamischen Reformkräfte nur durch die Beitrittsperspektive und die Forderungen der EU Wirklichkeit werden konnte. Es besteht die berechtigte Sorge, dass ein Scheitern der Verhandlungen zur Rückkehr vermeintlich längst überwundener Kräfte - nicht nur aus dem islamischen Milieu - führen könnte. Die islamische Erneuerung sollte man von kemalistischer Seite als Erfolg der türkischen Republik sehen und nicht primär als Gefahr. Nun ist es an der Zeit, dass der Kemalismus sich den politischen Realitäten anpasst, will er das Projekt Mustafa Kemals zu Ende bringen, nämlich der Türkei einen festen Platz in der europäischen Staatengemeinschaft geben. Die Bedingungen für eine Aussöhnung zwischen alten Antagonisten sind besser denn je.