Einleitung
Als Adliger wurde man geboren. Diese Formulierung ist aufschlussreich, ebenso der Satz eines Adligen: "Das Leben erziehet den Mann, und wenig bedeuten die Worte".
Die sorgfältig arrangierte Kinderstube war eine langfristige Investition in eine spätere angesehene Position der Kinder. Eine "Moralische Wochenschrift" des 18. Jahrhunderts stellte ihren Lesern eine ideale Erziehung am Beispiel einer (erdachten) Familie vor und stellte auch gleich den Ertrag in Aussicht, indem sie die Entwicklung der Kinder wie folgt pries: "Zweene davon sind bereits auf der hohen Schule und bearbeiten sich allda mit unermüdeter Kraft, der seufzenden Kirche, dem hoffenden Vaterlande, und den wünschenden Eltern die Frucht ihres angewandten Fleißes und einer gereiften Klugheit beglückt darzulegen."
Kindheit als Konstruktion sozialer Ungleichheit
Wenn also von "ungleichen Kindheiten" gesprochen wird, ist es wichtig, die Disparitäten nicht als bloße Verfallserscheinung heutiger Zeiten zu sehen. Das Problem ist vertrackter: Kindheit - als eine lange, behütete Phase, möglichst abgeschottet gegen die Forderungen und Gefahren der Welt der Erwachsenen - ist ganz grundsätzlich eine Konstruktion sozialer Ungleichheit. Zur Wirklichkeit wird sie ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - zunächst nur für die kleine Gruppe der Kinder, deren Eltern sich aufgrund ihrer Bildung oder wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit selbstbewusst zum Bürgertum zählen durften und für die solche Kindheiten zum Mittel der "Vererbung" ihres Standes und des dazugehörigen Tugendkanons wurden.
Für die kleinen Leute und die Armen dagegen war diese Art der Kindheit zunächst weder erschwinglich, noch erstrebenswert. Aber sie sollte bald auch für sie zur Norm werden - jedenfalls wenn es nach den Experten und besorgten Männern des Staates ging: Diese machten sich im 19. Jahrhundert daran, zu bekämpfen, was sie als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung wahrnahmen. Das war vor allem der Druck der armen, zum Teil in die Städte und industriellen Zentren zugewanderten, schwer zu kontrollierenden Bevölkerung. Die Erziehung des Nachwuchses schien ihnen dazu das wesentliche Mittel zu sein. Die Vorkämpfer der neuen Kindheit wandten sich auf zwei unterschiedlichen Wegen an die Eltern: Über Ratgeber richteten sie sich an das Bürgertum, bei dem sie auf gleichläufige Interessen setzen konnten und dessen Kinder nicht länger von Dienstboten erzogen werden sollten, sondern von ihren Müttern. Über ein Bündel aus Anreizen und Strafen - sozialfürsorgerische Maßnahmen, Gesetze, Wohnbauprogramme etc. - richteten sie sich an die weniger willigen "kleinen Leute".
Andauernde Ungleichheiten
Die lange, behütete und geförderte Kindheit ist längst zur Norm für alle geworden, aber sie ist voraussetzungsreich, erfordert sie doch neben dem finanziellen Einsatz der Eltern auch deren Bildung, kommunikative Fähigkeiten, kulturelle Güter etc., und so ist sie für "kleine Leute" eine problematische "Erfindung". Seit Experten und Moralisten den Anspruch erheben, dass diese Norm für alle gelten solle, werden die Bevölkerungsgruppen daran gemessen, wie sehr sie diesen Anforderungen gerecht werden. Im öffentlichen Diskurs und im Kontakt mit Experten und Institutionen der Bildung wird den Eltern der unteren Schichten vorgeworfen, dass sie der Norm der "guten Kindheit" nicht entsprechen. Vom 19. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag ist dies im Wesentlichen der gleiche Vorwurf; er ist in den öffentlichen Debatten manchmal stärker, manchmal weniger stark präsent.
Es kann nicht erstaunen, dass eine so anspruchsvolle Konstruktion, deren historische Wurzeln überdies gerade in der elterlichen Absicht liegen, einen begünstigten Status zu vererben, weiterhin durch Ungleichheit gekennzeichnet bleibt. Und weiterhin bleibt auch das Anschlussversprechen für die Kinder tieferer sozialer Schichten geringer. Am häufigsten wird zurzeit über ungleiche Bildungschancen diskutiert. Die PISA-Studien haben ins öffentliche Bewusstsein gerufen, dass Bildungschancen in hohem Maße von der sozialen Herkunft der Kinder abhängen.
Eine Untersuchung der vierten Klassen in Wiesbaden von Stefan Hradil zeigt, dass Kinder mit der Durchschnittsnote 2,0 aus der niedrigsten Bildungs- und Einkommensgruppe nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 76 Prozent eine Gymnasialempfehlung bekommen; stammen sie aus der höchsten Bildungs- und Einkommensgruppe, erhalten sie diese nahezu durchgängig, nämlich zu 97 Prozent. Bei schlechteren Noten hat die soziale Herkunft sogar eine noch größere Bedeutung.
Was sich zum Teil geändert hat, ist die Zusammensetzung der Gruppe der Kinder, die im Bildungssystem unterprivilegiert ist. In den 1960er Jahren war die "katholische Arbeitertochter vom Lande"
Aber Bildung ist nicht die einzige Ressource, die während der Kindheit ungleich verteilt wird. Gesundheit ist eine andere, die für die spätere Teilhabe an der Gesellschaft und für das eigene Wohlbefinden erheblich ist. Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozialer Herkunft ist etwa in einer Studie Bielefelder und Frankfurter Forscher (einbezogen wurden Kinder zwischen 11 und 15 Jahren) erforscht worden.
Gute Kindheiten - schlechte Kindheiten
Ganz ohne Zweifel bietet das Aufwachsen in einfacheren sozialen Verhältnissen weniger Chancen für die spätere Teilhabe an der Gesellschaft. Durch die Zunahme der Kinderarmut gewinnt das Problem an Brisanz. Seit 2000 steigen die Armutszahlen deutlich an. Armut betrifft vermehrt Kinder von Einwanderern mit erst kurzer Aufenthaltsdauer; doch hält die Armutssituation in dieser Gruppe in der Regel nicht lange an. Vor allem aber betrifft sie Kinder von Alleinerziehenden: Während vier von zehn Kindern dieser Gruppe in Armut leben, sind es bei Kindern in Haushalten mit beiden Elternteilen nur vier von einhundert; Kinder von Alleinerziehenden verweilen auch häufig längerfristig in Armut.
Aber sind Kindheiten in mittleren und höheren sozialen Schichten - abgesehen von den besseren Zukunftschancen, die sich hier bieten - auch "bessere", also glücklichere Kindheiten? Wir können es als gut gesichertes Ergebnis betrachten, dass Eltern-Kind-Interaktionen je nach sozialer Schicht anders verlaufen. Betty Hart und Todd R. Risley haben in einer aufwändigen Studie Gespräche von Eltern mit ihren Kinder aufgezeichnet und ausgewertet. Von der Geburt an, bis die Kinder zweieinhalb Jahre alt waren, zeichneten sie jeden Monat eine Stunde Gespräch auf. Die 42 untersuchten Familien teilten sie in drei Kategorien: (a) Familien, in denen beide Elternteile qualifizierten Berufen nachgingen, (b) Arbeiterhaushalte und (c) Familien, die von der Wohlfahrt lebten. Die Eltern in der gehobenen Schicht sprachen fast viermal mehr zu bzw. mit ihren Kindern als die Eltern in den Familien, die von der Wohlfahrt lebten. Anders als bei den Eltern in prekären Verhältnissen erschöpften sich ihre Botschaften auch nicht in Anweisung und Tadel, sondern beinhalteten auch Lob und forderten die Kinder zur Äußerung ihrer Meinungen auf.
Diese schichtspezifischen Unterschiede in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern können als plausible Erklärungen für unterschiedliche Kompetenzen, welche die Kinder erwerben, angeführt werden. Die so gemessenen Eigenarten der Eltern-Kind-Beziehung erfassen aber mehr und vielleicht Wichtigeres als eine unterschiedliche Ausstattung für den zukünftigen Erfolg: den Respekt vor der Persönlichkeit des Kindes und das elterliche Interesse daran und damit sicher eine zentrale Dimension der Qualität von Kindheit. Es ist jedoch davor zu warnen, Kindheiten unterer Schichten generell zu stigmatisieren. So sind die beschriebenen Unterschiede solche in der Häufigkeit oder Stärke eines Verhaltens, nicht solche seines prinzipiellen Vorhandenseins oder seiner Absenz. Dies lässt sich an zwei Variablen verdeutlichen, die die Schichten besonders klar unterscheiden: Auch in der untersten Schicht beziehen über 60 Prozent der Kinder keine Ohrfeigen oder gar Prügel, während immerhin zehn Prozent der Kinder aus der höchsten Schicht solche beziehen, und auch in der untersten Schicht ist mehr als ein Drittel der Kinder der Ansicht, dass ihre Mütter eher viel Wert auf ihr Meinung legen würden, während auch in der obersten Schicht ein Drittel der Kinder nicht dieser Meinung ist.
Ergebnisse zu schichtspezifischen Eltern-Kind-Interaktionen müssen differenziert und sorgfältig dargestellt und rezipiert werden, da die ungleichen Bildungschancen - wie bereits gezeigt - zu einem erheblichen Teil auf stereotypen und in ihrer Verallgemeinerung falschen Annahmen von Lehrkräften hinsichtlich unterschiedlicher Erziehungsqualität und deren Folgen beruhen, die auf keinen Fall bestärkt werden dürfen.
Wichtig ist es auch, auf die Kehrseiten der verschiedenen Eltern-Kind-Verhältnisse aufmerksam zu machen. Lareau bezeichnet den von ihr in der oberen Mittelschicht gefundenen Umgang von Eltern und Kindern als " concerted cultivation": als gezielte Bearbeitung der Kinder.
Fazit
"Kindheit" - im Sinne einer Ausgestaltung dieser Lebensphase, die den (historisch variierenden) Normen entspricht - ist eine anspruchsvolle Konstruktion, die ganz grundsätzlich mit Ungleichheit verbunden ist. Seit die behütete, geförderte und lange Kindheit im 18./19. Jahrhundert Wirklichkeit geworden ist, wird von Seiten der Eltern bei ihrer sorgfältigen Ausgestaltung das Ziel mitbedacht, den eigenen Kindern einen Vorteil im späteren Leben zu verschaffen. Diesen Anforderungen kann jedoch nur ein Teil der Eltern gerecht werden. Sollten die real gelebten Kindheiten weniger ungleich sein, so muss an drei Punkten angesetzt werden:
Erstens: Es gilt, die Startbedingungen der Kinder der unteren Schichten zu verbessern: Die allerersten Lebensjahre werden in besonderem Maße durch ungleiche private Verhältnisse geprägt. Vom Ausbau der Früherziehung darf man sich hier nicht alles versprechen, nutzen doch gerade Eltern der unteren Schichten die Einrichtungen der Früherziehung seltener.
Zweitens: Für die mittlere Kindheit gilt es, die Chancengerechtigkeit durch Abbau institutioneller Barrieren zu erhöhen; das aktuelle Ausmaß mangelnder Leistungsgerechtigkeit ist nicht hinzunehmen in einer Gesellschaft, in der Statuserwerb in erster Linie über Bildung und damit Leistung legitimiert wird.
Drittens: Da Kinder die kulturellen Erben ihrer Eltern bleiben, werden die Eltern mittlerer und höherer Schichten ihre Anstrengungen - gerade auch als Reaktion auf ausgleichende Bemühungen - weiter verstärken. Es gilt also auch darauf hinzuwirken, dass Kindheit als eigenständige Lebensphase an Gewicht gewinnt, als eine Lebensphase, die autonome Räume jenseits von elterlichen Kultivierungsanstrengungen zulässt, die gegenseitige Übernahme von Verantwortung in Familien ermöglicht und das Selbstbewusstsein stärkt, das darin wurzelt. Damit dies erreicht werden kann, sind wahrscheinlich einmal mehr die Mütter gefragt. Auf der Suche nach Modellen, die ihnen weniger quer zu eigenen Lebenswünschen stehen als das "intensive mothering", könnten sie zu Familienentwürfen finden, die zugleich in der Lage sind, eine entsprechende Emanzipation des Kindes zu befördern.