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Große Koalition: 1966 und 2005 | Parteiendemokratie | bpb.de

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Große Koalition: 1966 und 2005

Jürgen Dittberner

/ 18 Minuten zu lesen

Es gibt "großkoalitionäre" Kräfte in der CDU/CSU und in der SPD. Bei allen Unterschieden erwuchs hieraus die Konsistenz der Bündnisse von 1966 und 2005. Für 2009 ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Einleitung

Es ist nicht das erste Mal, dass die Bundesrepublik von einer "großen Koalition" regiert wird. Von 1966 bis 1969 hatten sich CDU/CSU und SPD unter Kurt Georg Kiesinger als Bundeskanzler sowie Willy Brandt als Vizekanzler und Außenminister gefunden. 2005 folgte unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel von der CDU sowie Franz Müntefering von der SPD als Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales die scheinbare Neuauflage.



Ist das Bündnis von 2005 eine Reprise oder eine Innovation im deutschen Parteiensystem? Vor allem um diese Frage geht es im Folgenden. Wie aus der Tabelle (vgl. Tbl. in der PDF-Version)ersichtlich ist, war die Opposition 1966 schwächer als 2005. War die Union 1966 quantitativ der SPD klar überlegen, so war ihr Vorsprung vor der SPD 2005 sehr knapp. Die Akzeptanz des Bündnisses im eigenen Lager jedoch schien zu Beginn des Vorhabens 2005 größer gewesen zu sein als 1966. Am 22. November 2005 wurde die neue Kanzlerin gewählt, und kurz nach 11 Uhr konnte man im Internet lesen: "Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt. CDU-Chefin erhielt 397 von 448 Stimmen der Koalition." 51 Koalitionäre hatten ihr nicht die Stimme gegeben - wahrscheinlich überwiegend Sozialdemokraten. Die Verweigerung innerhalb des eigenen Lagers war weniger krass als bei der großen Koalition 1966. Damals hatten 138 Abgeordnete Kurt Georg Kiesinger (CDU) ihre Stimme verweigert - bei 49 Oppositionsabgeordneten. 108 Koalitionäre votierten gegen Kiesinger. Da der Bundestag zu dieser Zeit kleiner war, blies der parlamentarische Gegenwind seinerzeit stärker als 2005. So schien die Aussage vieler nicht übertrieben, dass am 22. November 2005 eine neue Epoche begonnen habe.

Erstaunlich ist eine starke fachliche und parteipolitische Parallelität zwischen den beiden 34 Jahre auseinander liegenden Regierungen. Die meisten Ressorts haben sich nicht oder nur in den Zusätzen geändert. Auch besetzen die Parteien überwiegend die gleichen Ressorts. Die Ausnahmen bilden Finanzen und Wirtschaft, wo sich 1966 mit Franz Josef Strauß (CSU) und Karl Schiller (SPD) zwei herausragende Politiker anboten, deren politisches Gewicht Peer Steinbrück (SPD) und Michael Glos (CSU) noch nicht erreicht haben. Für das Ressort "Soziales ..." stand 1966 mit Hans Katzer (CDU) der Vorsitzende der damals in der Union mächtigen Sozialausschüsse zur Verfügung, während sich 2005 Franz Müntefering (SPD) als Verhandlungsführer seiner Partei dieses Ressort aussuchte. Auch gab es in der Regierung Kiesinger/Brandt Ressorts, für die es 2005 keinen Geschäftsbereich mehr gab, wie z.B. die Ministerien für Wohnungswesen, Vertriebene, Post oder Gesamtdeutsche Fragen. Insgesamt ist bemerkenswert, dass sich 1966 fast die gesamte politische Elite jener Zeit im Kabinett versammelte, während sich Vergleichbares für 2005 nicht sagen lässt - schon wegen der vielen Oppositionsparteien und deren Repräsentanten.

Folgendes haben die beiden großen Koalitionen gemeinsam: Die größten im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien - CDU/CSU und SPD - bilden eine Regierung. Den Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin stellt die CDU. Sowohl das Bündnis von 1966 als auch das von 2005 nahm sich Strukturreformen vor: Eine Haushalts- und Wahlrechtsreform sowie die Notstandsgesetzgebung waren Ziele und Rechtfertigung der Regierung Kiesinger/Brandt. Ziele der Koalition Merkel/Müntefering waren die Haushaltssanierung, eine Gesundheitsreform und der Abbau des zur "Föderalismusfalle" gewordenen Verbundföderalismus. Sowohl die Politiker der großen Koalition in Bonn als auch die der Neuauflage in Berlin erklärten, ihre Verbindung sei nur zeitlich begrenzt.

Doch die Unterschiede überwiegen: Wollte 1966 - nach dem Scheitern der Koalition mit der FDP unter Ludwig Erhard - die Union das Amt des Bundeskanzlers als Ausdruck der Führung erhalten, weshalb sie den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger an die Spitze stellte, so begnügte sich 2005 die Führungspartei SPD nach dem Scheitern ihres Kanzlers mit der Rolle des Juniorpartners und schickte - wenn auch nach langem Zieren - Franz Müntefering als Statthalter in die Regierung, denn "Opposition ist Mist". So gesehen ist die Union 2005 aufgestiegen, während sie 1966 Position gehalten hatte. Die SPD wurde 2005 durch den Verlust ihrer Kanzlerschaft trotz ihrer stolzen Ministerzahl abgewertet, während 1966 für sie - die lange Verfemte - der ersehnte Durchbruch war.

1966 saßen mit Kiesinger und Brandt die Parteivorsitzenden der CDU und der SPD am Kabinettstisch - was Brandt im Übrigen manch politisch motiviertes Unwohlsein bereitete -, während 2005 zwar Angela Merkel in der CDU den Parteivorsitz erobert hatte, in Franz Müntefering jedoch einen Partner in der Regierung fand, der den Parteivorsitz niederlegte, als die SPD ihm in der Generalsekretärsfrage nicht folgte.

2005 standen der großen Koalition im Bundestag gleich drei Oppositionsfraktionen entgegen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Bündnis 90/Die Grünen waren der soeben "gefeuerte" Koalitionspartner der SPD, der ab sofort ohne die Führung seines (un)heimlichen Vorsitzenden Josef Fischer auskommen musste. Die FDP unter ihrem "Alleinherrscher" Guido Westerwelle war der Wunschpartner der Union, hatte dieser aber bei der Bundestagswahl 2005 zu viele Zweitstimmen abgenommen, so dass dem "Traumbündnis" Merkel/Westerwelle die Mehrheit fehlte. Links bildete sich mit Gregor Gysi und dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine in der Linkspartei eine neue sich auf "Sozialismus" berufende Formation heraus, die geeignet war, der SPD Stimmen abzunehmen.

1966 gab es dagegen nur eine parlamentarische Opposition, und zwar die FDP des Erich Mende. Diese Opposition im Parlament erschien so schwach, dass die aus Studentenprotesten gespeiste "Außerparlamentarische Opposition (APO)" zusätzliche Legitimation aus der Bildung der großen Koalition zog und sich neben der FDP zur eigentlichen Gegnerin der Notstandsgesetze stilisierte.

1966 standen 447 stimmberechtigte Abgeordnete von Union (245) und SPD (202) 49 FDP-Parlamentarier gegenüber. Der Bundestag zählte 499 Mitglieder - dazu kamen 22 Berliner. 2005 gehörten dem Bundestag 614 Abgeordnete an. Davon stellte die CDU/CSU 226 Abgeordnete und die SPD 222, so dass die Koalition insgesamt auf 448 Parlamentarier kam. Dem steht die "bunte" Opposition mit insgesamt 176 Sitzen entgegen: 61 von der FDP, 54 von der Linkspartei und 51 von den Grünen. Die parlamentarische Opposition gegen die zweite große Koalition ist zwar wie 1966 der Regierung nicht ebenbürtig, aber immerhin quantitativ stärker und inhaltlich vielfältiger. Eine außerparlamentarische Opposition bildete sich 2005 nicht. Die große Koalition wurde nicht als systemfremd empfunden, sondern als eine mögliche Spielart einer parlamentarischen Demokratie.

Interessanterweise sind einige Politikinhalte der beiden großen Koalitionen gegensätzlich. Während die erste große Koalition einen starken Föderalismusverbund mit Gemeinschaftsaufgaben schuf, bemühte sich die zweite mit der Föderalismusreform um einen Rückbau dieser Strukturen und einen Abbau der Gemeinschaftsaufgaben. Galt der Verbundföderalismus 1966 als Chance zur Modernisierung der Gesellschaft und Effektivierung der Wirtschaft, so war er 2005 zur "Föderalismusfalle" und eine der Ursachen für eine "Reformunfähigkeit" des politischen Systems geworden. Was nur eine große Koalition einführen konnte - den Verbundföderalismus -, konnte auch nur eine große Koalition eliminieren: Der Versuch einer Föderalismusreform war in der rot-grünen Regierungszeit noch gescheitert.

Die erste große Koalition hatte sich von der Wahlrechtsreform über den Verbundföderalismus bis hin zu den Notstandsgesetzen große Strukturänderungen der Bundesrepublik vorgenommen. 2005 hingegen waren "kleine Schritte" vorgesehen, denn für große Schritte wäre entweder eine Neuauflage von Rot-Grün oder aber ein schwarz-gelbes Bündnis notwendig gewesen. Rot-Grün hätte seine Antidiskriminierungs- und freizügige Zuwanderungspolitik fortsetzen können; Schwarz-Gelb eine neoliberale Politik aus einem Guss verfolgen sollen. Nun musste die Union Rücksicht nehmen auf eine SPD, die nach der "Hartz"-Politik die soziale Gerechtigkeit wieder in den Mittelpunkt stellte, und die SPD musste wirtschaftsliberale Anflüge der Union ins Kalkül ziehen. So kam es beim Mindestlohn zu einem Kompromiss - aber zu keiner Einigung. Mit Rücksicht auf die SPD wurde der Wiedereinstieg in den Atomstrom vertagt. Das Argument, nur große Parteien könnten Großes bewegen, war 2005 weniger zu vernehmen als 1966.

Auch war nach 2005 schneller als nach 1966 davon die Rede, dass die "Gemeinsamkeiten verbraucht" wären. Zwar schielten Kurt-Georg Kiesinger zum Ende der Legislaturperiode nach der absoluten Mehrheit und Willy Brandt nach der sozial-liberalen Koalition, aber so klar und deutlich wie 2007 wurde damals nicht in der Mitte der Legislaturperiode verkündet, dass man nach der nächsten Wahl neue Mehrheiten suchen müsse.

1966 war die Union die Staats- und Volkspartei der Bundesrepublik. Die SPD kam aus dem "30-Prozent"-Turm des Sozialismus und versuchte, nach Bad Godesberg ihr Image als Bürgerschreck abzulegen. 2005 wollte die Union angesichts hoher Arbeitslosenzahlen zeigen, dass sie es besser könne als ihre Rivalin, und die SPD stand vor der Herausforderung, dass mit den Grünen und der Linkspartei eine "linke" Mehrheit möglich war, diese der SPD aber einen Teil ihrer mittlerweile erworbenen bürgerlichen Ausstrahlung nehmen würde. So war die SPD 2005 in der Defensive, 1966 in der Offensive. Bei der Union verhielt es sich umgekehrt.

1966 hatte die SPD - als Folge des Kalten Krieges - keine Konkurrenz auf der linken Seite des Parteienspektrums. 2005 hatte sie gleich zwei Konkurrentinnen: die Grünen und die Linkspartei. Der Union stand die FDP nach 1966 als potenzieller Ersatzkoalitionspartner nicht mehr zur Verfügung: Unter Walter Scheel und Karl-Hermann Flach mutierte sie, unter heftigen inneren Konflikten, zu einer liberal-sozialen Partei, für die eine Koalition mit der SPD möglich war. So blieb der Union die Perspektive, mit einer absoluten Mehrheit aus dem Bündnis der "Großen" herauszukommen. 2005 und in den folgenden Jahren positionierte sich die FDP unter Guido Westerwelle als Gegenpol zu den Grünen und der Linken und als möglicher Partner ausschließlich der Union. Diese jedoch muss fürchten, dass es - wie 2005 - für Schwarz-Gelb bei der nächsten Wahl nicht reichen könnte, und da die absolute Mehrheit in weite Ferne gerückt ist, sucht sie nach weiteren Bündnispartnern - etwa den Grünen. Auch Dreierkoalitionen werden salonfähig - wenngleich bislang nur verbal.

Schließlich stellt die SPD 1966 wie 2005 den Bundesaußenminister. Doch wurde diese Position bei der ersten großen Koalition von dem Politiker, Charismatiker und Parteivorsitzenden Willy Brandt besetzt, während 2005 mit Frank-Walter Steinmeier ein Mann des Apparates Außenminister wurde. SPD-Obmann in dieser zweiten großen Koalition ist mit Franz Müntefering ein demissionierter Parteivorsitzender, während der eigentliche Vorsitzende der SPD Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz ist. Personell und medial ist die Aufstellung der SPD in der Koalition von 2005 der Union, welche die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin stellt, unterlegen.

Unterschiedlich sind die internationalen Beziehungen der beiden großen Koalitionen. 1966 war Deutschland geteilt, und die Regierung Kiesinger/Brandt regierte in der westdeutschen Bundesrepublik, eingebettet in die Politik des Westens unter Führung der USA. Zwar hatte es - besonders bei Christdemokraten in der Vorgängerregierung Ludwig Erhards und ausgelöst durch die Amerikakritischen Emanzipationsbestrebungen Frankreichs unter Charles de Gaulle - einen Streit zwischen "Atlantikern" und "Gaullisten" gegeben, einen Streit um die Ausrichtung der westdeutschen Außenpolitik nach Washington oder nach Paris. Aber es war ein Streit über Geschmacksfragen ohne Rücksicht auf die tatsächlichen internationalen Machtverhältnisse, denn dass die USA die den Westen dominierende Macht waren, stand nicht zur Debatte. Für die große Koalition wurden das Drängen der Sozialdemokraten nach einer neuen Ostpolitik unter dem Motto "Wandel durch Annäherung" sowie das zögerliche Hinterherhinken der Union, die sich von der "Hallstein-Doktrin" der Nichtanerkennung der Ostblockstaaten lösen musste, charakteristisch. Kurt Georg Kiesinger war kein "kalter Krieger" mehr. Er war aber auch kein Ostpolitiker vom Format seines Vizekanzlers Willy Brandt, sondern ein Moderator zwischen althergebrachten Doktrinen aus der Adenauer-Zeit und dem Aufbruch zu einer neuen Ostpolitik der Sozialliberalen.

2005 war Deutschland vereinigt, eingebunden in die damals 25 Mitglieder umfassende Europäische Union. 2007 stellte Deutschland die Ratspräsidentschaft in der EU und das Präsidium bei der Weltkonferenz "G 8". Hinter der Regierung Merkel lag der Konflikt zwischen dem Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush: Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich gemeinsam mit Russland und Frankreich dem Drängen der Amerikaner widersetzt, sich 2003 am Krieg im Irak zu beteiligen. Das transatlantische Band schien zerrissen. Doch die große Koalition unter Angela Merkel stellte die Kontakte in die USA wieder her und wurde in der Verfassungsfrage bei der EU und dem Umweltemissionsproblem bei der Weltkonferenz führend. Nun taten sich neue außenpolitische Fronten auf: Emotionale und auf dortigem Nationalismus beruhende Konfrontationen mit Polen - trotz aller politischen Hilfestellungen und finanzieller Transfers. Die außenpolitischen Rahmenbedingungen hatten sich von 1966 bis 2005 total geändert: Deutschland war aufgestiegen vom Status zweier Teilstaaten als Satelliten der jeweiligen Supermacht USA (Bundesrepublik) und UdSSR (DDR) zu einer globalen Mittelmacht.

Stil und Klima der großen Koalitionen waren in den jeweiligen Epochen unterschiedlich: Ruppig und direkt geht es bei der Koalition im vereinten Deutschland zu, altväterlich und förmlicher dagegen trug die erste große Koalition der "Herren" ihre Konflikte aus. Wie auch in den 1960er Jahren in dem Kreßbronner Kreis, dem Urtyp eines Lenkungsgremiums in einer großen Koalition, finden in der Regierung Merkel Beratungen zwischen den Parteivorsitzenden Beck, Stoiber und Merkel sowie weiteren Spitzenpolitikern statt, die dem Koalitionsausschuss vorgeschaltet sind. Und wie in der ersten wurde in der zweiten großen Koalition die Richtlinienkompetenz der Regierungschefin angezweifelt: Am 12. Oktober 2005 benannte die SPD ihre Minister für die große Koalition. Von Vorschlägen der designierten Bundeskanzlerin an den Bundespräsidenten - wie es das Grundgesetz vorsieht - war nicht die Rede. Gleichzeitig fing der CSU-Vorsitzende und damals designierte Bundeswirtschaftsminister Edmund Stoiber eine Debatte über die Richtlinienkompetenz der künftigen Kanzlerin an: Diese werde nicht gegeben sein, wenn die große Koalition erst einmal stünde.

Gerade bei der vom Grundgesetz dem Kanzler zugebilligten Richtlinienkompetenz ist das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit evident, weil es in der Bundesrepublik fast nur Koalitionsregierungen gab. Aber in großen Koalitionen scheint es so zu sein, dass sich der kleinere Partner - der sich ja auf "Augenhöhe" mit dem größeren sieht - gegen die herausragende Stellung des Kanzlers wehrt und sie nicht akzeptieren will. So sind auch Ausfälligkeiten einiger SPD-Politiker zu erklären, die bekannt wurden, als Angela Merkel 2007 aufgrund außenpolitischer Erfolge zu großer Popularität aufstieg.

Als die große Koalition 2005 stand, hatte angeblich keiner der Parteipolitiker sie gewollt. "Der Wähler" - so die Legende - hingegen schon. "Der" Wähler jedoch ist eine Fiktion. Die Wähler haben jeweils ihre Stimmen abgegeben - nach sehr unterschiedlichen und nicht immer politischen Motiven. Der "Wählerwille" war 2005 nichts anderes als die rechnerische Addition millionenfacher Einzelentscheidungen. Eine politische Weisheit war nicht immanent. Es gab keinen aus dem Wahlergebnis 2005 ableitbaren politischen Auftrag für eine große Koalition. Anderseits haben beide großen Parteien - auch wenn sie es oft leugneten - einen inneren Hang zur großen Koalition. Denn, so meinen viele, alles würde besser, wenn "die Erwachsenen" sich zusammenfänden.

Tatsächlich hatte die Union in der Bundestagswahl 2005 jedoch für eine "schwarz-gelbe Perspektive" gekämpft. Das Ziel der SPD war, dass ihr Wahlergebnis nicht so schlecht werden möge, wie es ihr im Sommer 2005 prophezeit wurde. Wenigstens über die 30 Prozent-Grenze wollte man kommen. Um das zu erreichen, hatte die SPD gegen die Union ausgeteilt - sogar noch am Wahlabend. Während die SPD bei der Wahl weit über ihr Ziel hinaus gekommen war, blieb die Union ebenso weit hinter ihren Erwartungen zurück.

Da taten die Wortführer von Union und SPD so, als müssten sie erst die Regeln der mathematischen und politischen Grundrechenarten lernen. Dass es für Schwarz-Gelb oder Rot-Grün nicht reichte, wurde bald akzeptiert. Über Rot-Grün-Gelb - die "Ampel" - auch nur zu reden, lehnte der FDP-Vorsitzende ab. Dann kam eine Phase der virtuellen "Jamaika-Koalition": Schwarz-Gelb-Grün. Die FDP war begeistert, die Union schien angetan. Das wäre doch 'was für die Grünen, dachten sie und hatten im Hinterkopf, den gerade demissionierten Josef Fischer mit dem Verbleib im Auswärtigen Amt zu locken, damit die Partei nachziehe. Das funktionierte nicht. Zu viele Grüne sagten, sie wollten keine Lückenfüller für den "schwarz-gelben Neoliberalismus" sein.

Die klammheimlichen Großkoalitionäre freuten sich über alle diese Diskussionen. Ihr Projekt wurde immer wahrscheinlicher. Zwar hatten beide Großparteien bei der Wahl nicht besonders ruhmvoll abgeschnitten, aber es reichte für eine breite Mehrheit. Großkoalitionäre Empfindungen waren schon in der Ära Schröder politisch relevant geworden. Ohne diese wären die "Hartz"-Gesetze nicht zustande gekommen. Union und SPD neigen dazu, sich als Garanten des Staatswesens zu sehen, wenn es ihnen auf der politischen Szene zu bunt zu werden scheint. So gesehen war die Regentschaft Schröders gelegentlich auch eine verdeckte große Koalition, und deshalb war es nur folgerichtig, dass Gerhard Schröder bei der Vorbereitung der zweiten großen Koalition am Verhandlungstisch saß - nur vordergründig spielte er da den Störenfried.

1966 war der Hang zur großen Koalition in der Bundesrepublik zum ersten Mal manifest geworden. Die Union hatte den traditionellen Partner FDP verloren. Das sollte die SPD kompensieren. Diese brauchte die Metamorphose zur Regierungspartei, um im Zuge ihres Godesberger Reformprojektes in der Bundesrepublik endgültig als Bonner Partei anerkannt zu werden. So fanden sich Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt. Die mit bestem Personal besetzte "Koalition der Köpfe" verknüpfte die Aufgaben des Bundes mit denen der Länder und legte die Grundlagen für die später so gescholtene Politikverflechtung. Sie betrieb eine von Karl Schiller und Franz Josef Strauß getragene keynesianische Wirtschaftspolitik und war erfolgreich. Aber das Bündnis polarisierte. Die Protestbewegung der APO stieß sich an der als Symbol der "Versöhnung" ausgegebenen Zusammenarbeit des "PG" Kiesinger mit dem Emigranten Brandt. Brandt selber war es, der sich 1969 mit der sozial-liberalen Koalition und Walter Scheel als neuem Partner aus dieser ihn bedrückenden Lage befreite.

Die Kanzlerschaft Kurt Georg Kiesingers ist mit dem "Nazi"-Stigma behaftet, seit Beate Klarsfeld bei einem CDU-Parteitag am 7. November 1968 in der Berliner Kongresshalle den Bundeskanzler ins Auge geschlagen und dabei "kaum vernehmbar" "Nazi" gerufen hatte. Das Parteitagsprotokoll vermerkt: "Eine jüngere Frau kommt in den Saal, geht hinter den Vorstandstisch und schlägt den Bundeskanzler. Es entsteht am Vorstandstisch ein turbulentes Durcheinander, die Frau wird aus dem Saal geführt." Beate Klarsfeld wurde verurteilt, betätigte sich im Folgenden immer wieder als "Nazi-Jägerin". Die Stigmatisierung Kiesingers blieb im Gedächtnis der Öffentlichkeit haften, obgleich sie eine starke Simplifizierung der Biografie des CDU-Politikers war.

2005 machten sich weniger polarisierende Politiker an die Arbeit - zuerst neben Merkel und Müntefering Stoiber, dann Platzeck, Glos und Beck. Diese schlugen dem Pragmatismus eine Gasse. Entgegen sonstiger Koalitionsverhandlungen wurden vorab die Ressorts verteilt und anschließend Inhalte besprochen. Die am Ende getroffenen Vereinbarungen waren nicht statisch - als abzuarbeitender Vertrag - zu verstehen, sondern dynamisch. Zuerst sollte ein Investitionsprogramm kommen, dann Steuererhöhungen. Im ersten Jahr sollte ein fragwürdiger Haushalt aufgestellt werden, damit nachfolgende Haushalte solide würden und den EU-Kriterien entsprächen. Es wurde eine Wirtschaftspolitik jenseits aller ökonomischen "Schulen" angefangen.

Reformvorhaben wie das Gesundheitswesen wurden vorerst ausgespart, später bearbeitet. Auch der Föderalismus wurde "reformiert". Von einer Änderung des Wahlrechts mit dem nahe liegenden Mehrheitswahlrecht wurde nicht geredet. Wurde dabei an die Misserfolge der ersten großen Koalition auf diesem Gebiet gedacht?

Nicht nur die Regierung, auch die einzelnen Parteien stehen seit 2005 vor einem Neuanfang:

Die SPD musste zugestehen, dass die rot-grüne Koalition ein Milliardenloch hinterlassen hatte. Die Union musste eine symbolische Erhöhung des Spitzensteuersatzes und staatliche Konjunkturspritzen akzeptieren. Was sie gestern noch im Wahlkampf sagten, galt nicht länger. Beide Großparteien justierten ihre Programme neu und legten 2007 entsprechende Entwürfe vor. In der CDU hat sich mit Angela Merkel eine Führungsperson neuer Art etabliert: eine Frau aus dem Osten, ohne Junge-Union-Sozialisation, erst vor 17 Jahren über den Demokratischen Aufbruch mit dem Pfarrer Rainer Eppelmann in die Union gekommen. In der CSU verblasste das Charisma des Vorsitzenden Edmund Stoiber. In der ersten Jahreshälfte 2007 wurde er von seiner Partei zum Rückzug gezwungen. In der SPD trat mit Franz Müntefering ein Wegbegleiter der Politik Gerhard Schröders ab. Es folgte Matthias Platzeck, ähnlich wie Angela Merkel vor 15 Jahren über eine Zwischenstufe - das Bündnis 90 - in diesem Fall durch Manfred Stolpe zur großen Partei hinzugestoßen, aus dem Osten stammend und wenig belastet mit älterer Parteigeschichte. Platzeck trat aus Gesundheitsgründen ab, und seit dem 14. Mai 2006 ist der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck koalitionspolitischer Gegenspieler von Angela Merkel.

Union und SPD haben beide das Problem, dass ihr Status als Volkspartei gefährdet ist. Das Wahlergebnis 2005 hat ihnen deutlich gemacht, wie flüchtig ihre Anhängerschaften sind. Besonders die SPD hat es schwer, sich bei den Wählern zu behaupten. Auch die kleinen Parteien stehen vor einer ungewissen Zukunft. Den Rechten ist es nicht gelungen, sich in der Kampagne 2005 bemerkbar zu machen, obwohl das "Geißeln" der Arbeitslosigkeit, des Sozialabbaus und der Probleme mit Ausländern zu ihrer Agenda gehörte. 2004 hatten DVU und NPD geprahlt, durch Listenverbindungen würden sie bei der kommenden Bundestagswahl ins deutsche Parlament einziehen. Das schafften sie nicht. Dagegen sitzen die Rechtsextremen in zwei ostdeutschen Landtagen.

Die Listenverbindung gab es auf der linken Seite. Mithilfe der WASG hat es die PDS als "Linkspartei" geschafft, in Fraktionsstärke wieder in den Bundestag einzuziehen. Ob diese Gruppierung den Spagat zwischen Ostmilieu und bundesrepublikanischem Reformfrust schaffen wird, steht dahin. In Bremen hatten sie erstmalig Wahlerfolge im Westen erzielt, und 2007 - in der Mitte der Amtsperiode der großen Koalition - standen sie in Umfragen nicht schlecht da. Fragil wie ihre inhaltliche Basis ist sie durch die starke Personalisierung: Gregor Gysi und Oskar Lafontaine sind bekannte Selbstdarsteller, die beide an der harten Arbeit in der politischen Ebene schon einmal gescheitert sind. Und harte Arbeit wird es sein, die Anhänger eines Ostmilieus mit frustrierten Kollegen und Genossen aus Restbeständen der westdeutschen Arbeiterbewegung zu verketten.

Ohne Regierungsmacht und ohne Josef Fischer stehen die Grünen da. Ihre einstigen Grundsätze haben sie aufgegeben: im Formalen wie im Inhaltlichen. Die Rotation gehört ihrer Vergangenheit an wie der Einheitslohn auf Sozialarbeiterniveau. Der bittere Streit zwischen "Realos" und "Fundies" ist zugunsten der "Realos" entschieden. Seit sie an der Macht waren, gibt es bei den Grünen keinen Pazifismus mehr. Die ökonomischen Grenzen des Umweltschutzes haben sie akzeptiert. Viele Beobachter haben den Grünen prophezeit, dass sie ohne Regierungsbeteiligung und Josef Fischer untergehen würden. Nun bemühen sich Renate Künast, Fritz Kuhn, Claudia Roth und Reinhard Bütikofer, der Partei eine Perspektive zu geben, und es scheint, als bliebe ihr ihre einst jugendliche Anhängerschaft im Altern treu.

Wieder nicht geschafft, an die Macht zu kommen, hatte es die FDP. Sie muss sich nach der Wahl 2005 damit trösten, unter den Kleinen die Größte zu sein. Schon 2002 wollte die 1998 von der Macht entlassene FDP wieder an die Regierung. Sie versuchte das mit dem "Projekt 18 Prozent" und patzte. Daraufhin besann sie sich auf Sachpolitik, gab sich neoliberal und diente sich der Union in einer "Koalition in der Opposition" an. Aus oben erwähnten Gründen scheiterte sie auch 2005. Die FDP wandelte sich zu einer Einmann-Partei, der Guido Westerwelle einen kryptischen Liberalismus-Stil aufdrängte. Schafft er es bei der nächsten Gelegenheit nicht in die Regierung, dürfte der FDP eine Personaldebatte bevorstehen.

Alle Parteien sind Gefangene des Wahlergebnisses von 2005. Die Karten wurden neu gemischt. Gelingt es der großen Koalition, die Arbeitslosigkeit in Deutschland weiterhin abzubauen, wird das den großen Parteien - vor allem aber der Union - zugute kommen. Gelingt ihr das nicht, steigen die Chancen der Kleinen. Wahrscheinlich wäre dann, dass das zuerst der sozialistischen Linken nützen würde und weniger einer neoliberalen FDP. Eine Chance könnten die Grünen bekommen, wenn eine pragmatische Alternative zur großen Koalition gesucht wird: eine Alternative, die soziale Veränderungen als unumgänglich erkennt und zugleich nach sozialem Ausgleich sucht.

2005 hat eine neue Phase der Entwicklung des deutschen Parteiensystems begonnen. Nach der Gründungs- und der Konzentrationsphase in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren der alten Bundesrepublik und der durch das Hinzukommen der Grünen charakterisierten Erweiterungsphase in den Achtzigern, nach der Phase der territorialen Erweiterung in die neuen Länder und der organisatorischen Erweiterung durch die PDS in den neunziger Jahren folgt eine politische Neuorientierungsphase. Da kann viel geschehen. Die Großen können größer werden und die Kleinen verdrängen. Die Kleinen können als Alternativen wachsen, gar das Gefüge des gesamten Systems neu justieren.

Ob das eine oder das andere eintritt, hängt von den mittelfristigen Wirkungen der Politik der großen Koalition auf die Wirtschaftsentwicklung und die Arbeitslosenfrage ab. In der Mitte der Amtsperiode der großen Koalition gibt es einen Aufschwung und sinkende Arbeitslosenzahlen. Da davon vor allem die Union profitiert, wird sich die SPD - sollte es dabei bleiben - bei den Kleinen nach neuen Partnern umsehen. Somit kommen diese ins Spiel, und da die Union ganz sicher nicht in die Opposition gehen will, auch als deren Partner. Die Linkspartei allerdings hat auf der "rechten" Seite des Spektrums keine Chance; sie könnte der SPD eines Tages als Rettungsanker vor dem Gang in die Opposition dienen - jedenfalls solange Sozialdemokraten diese als "Mist" empfinden.

Schließlich: Weil viel möglich ist, rechnerisch vieles nicht gehen wird, ist auch eine Neuauflage der großen Koalition nach einer kommenden Wahl nicht auszuschließen. Dann würden nach einer Phase des Palavers jene wieder die Oberhand gewinnen, die es schon immer gewusst haben, dass die Republik im Notfall nur von Schwarz-Rot "gerettet" werden kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der erste Nachkriegsvorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, hingegen hatte viel von der staatspolitischen Bedeutung der parlamentarischen Opposition gesprochen.

  2. Dazu kamen die nicht stimmberechtigten Abgeordneten aus (West-)Berlin: acht bei der CDU, dreizehn bei der SPD und einer bei der FDP.

  3. Vgl. Jürgen Dittberner, Große Koalition - kleine Schritte. Politische Kultur in Deutschland, Berlin 2006.

  4. Offen ist auch, ob die Grünen überhaupt für ein derartiges Bündnis zu gewinnen wären.

  5. So Philipp Gassert, Kurt Georg Kiesinger. 1904 - 1988, Kanzler zwischen den Zeiten, München 2006, S. 648.

  6. Ebd., S. 649.

  7. Vgl. Angelika Beier/Kai Eicker - Wolf/Stefan Körzell/Achim Truger (Hrsg.), Investieren, sanieren, reformieren? Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der schwarz-roten Koalition, Marburg 2006.

  8. Vgl. Gerd Langguth, Angela Merkel, München 2005.

  9. Vgl. Michael Mara/Thorsten Metzner, Matthias Platzeck, Die Biografie, Kreuzligen-München 2006.

Prof. Dr., geb. 1939; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Potsdam, Karl-Marx-Str. 67, 14482
E-Mail: E-Mail Link: Potsdam.jdittb@rz.uni-potsdam.de