Einleitung
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wächst die Zahl der Einwanderer und Einwanderinnen und postkolonialen Siedler aus islamisch geprägten Gesellschaften in Europa. In den heutigen Grenzen der Europäischen Union (EU) leben mindestens fünfzehn Millionen Menschen, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen, ihrer sozialpolitischen statements oder zumeist schlicht im Rückschluss auf ihre geographische Herkunft oder familiäre Abstammung als Muslime und Musliminnen gezählt werden.
Die Frage, ob es sich bei den ehemaligen Einwanderern aus islamisch geprägten Ländern und ihren Nachkommen um praktizierende, überzeugte, religiöse, aktive, moderate, fanatische, fundamentalistische, gemäßigte oder nominelle Muslime, um Islamisten, Neo-, Herkunfts- oder Kulturmuslime handelt, ist relativ jung. Während der ersten zwanzig bis dreißig Jahre seit Beginn des Dekolonisierungsprozesses und der Ankunft der ersten "Gastarbeiter" wurde sie in Westeuropa überhaupt nicht gestellt - und die zunächst hauptsächlich männlichen Einwanderer, deren Aufenthalt von ihnen selbst und von außen als vorübergehend fehleingeschätzt wurde, wurden auch nicht als Muslime wahrgenommen, sondern meist in ihrer ökonomischen Funktion (z.B. als "Gastarbeiter") und/oder in nationalen Kategorien.
Die akademische Forschung sah, von wenigen Vertretern der explizit mit Religion befassten Disziplinen abgesehen, keinen Anlass, dem Islam eine besondere Bedeutung in den Integrationsprozessen beizumessen;
"Religion" und "Islam" in neuer Konjunktur
Seit der Revolution in Iran 1979 stand der Islam wieder auf der politischen Agenda, und spätestens mit dem Ende des short century (1914 - 1991, Eric Hobsbawm) tauchten in den verschiedensten Regionen der Welt (auch der westlichen) religiös definierte, moderne politische Bewegungen auf: vom Erwachen des amerikanischen bible belt unter US-Präsident Ronald Reagan, also der protestantischen Religiösen Rechten in den USA, über die Islamische Heilsfront (FIS) in Algerien bis zur extremistischen Bewegung Comunione e Liberazione aus katholischen Reihen in Italien. Davon unabhängig war in Europa Mitte der 1980er Jahre die Zahl islamischer Gemeindegründungen und Moscheen sprunghaft angestiegen.
Mit dem ersten (medienträchtigen) französischen Kopftuchstreit und der über britische Grenzen weit hinaus transportierten Rushdie-Affäre - der öffentliche Protest von islamischen Gemeindevorstehern in Bradford gegen die Satanischen Verse, der mit einer Bücherverbrennung in Szene gesetzt wurde, und Khomeinis folgenreicher Ausspruch der so genannten "Todes-Fatwa" gegen den Schriftsteller Salman Rushdie - im selben Jahr begann auch der Wendepunkt der jungen Geschichte der Neuen Islamischen Präsenz in Europa im Jahre 1989.
Islamisierung der Debatten
Übersehen wird oft, dass es dabei auch zu einer Islamisierung der öffentlichen und akademischen Debatten kam, die bis heute in einer Eigendynamik z. T. sogar vom konkreten Material (der Entwicklungsgeschichte des Forschungsgegenstandes und der Erfahrung der Interviewees) unabhängig voranschreitet.
Und schließlich kam das Wort "Re-Islamisierung", das ursprünglich anti-koloniale, islamische Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts charakterisierte (z.B. die von Hassan al-Bannah in Ägypten unter britischer Herrschaft gegründete Muslimbruderschaft) erst Anfang der 1990er wieder auf, als die FIS erstmals die Kommunalwahlen in Algerien gewonnen hatte. Erst als die öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten begonnen hatten, sich eines im Maghreb Angst und Schrecken verbreitenden "islamischen Fundamentalismus" anzunehmen, wurden "Islamisierung" oder gar "Re-Islamisierung" als Erklärungsmuster für europäische Geschehnisse (wie die Gemeindegründungswelle) Mitte der 1980er Jahre herangezogen. Dabei ist gerade die Vorsilbe "Re-" im europäischen Kontext irreführend, da es den modernen Charakter und die neue Qualität der Erscheinung unterschlägt.
In einer allgemeinen Konjunktur des Themas Islam wurden von nun an jedoch auch vermehrt die in den modernen Großstädten Europas in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation sichtbar gewordenen Probleme von Immigranten, die aus traditionellen agrarisch geprägten Regionen islamischer Mehrheitsgesellschaften eingewandert waren, nach religiösen Mustern gedeutet, obwohl sie mit dem Islam wenig zu tun hatten.
Nicht erst seit dem 11. September 2001 wird die säkularisierte Mehrheit der NIP in mancher bewegten Debatte nahezu ignoriert - und werden in der Statistik Europäer, deren Familien auf Migration zurückblicken, komplett als Muslime geführt, ungeachtet dessen, welche Rolle Religion in ihrem Leben spielt und ob sie selbst oder ihre Eltern z.B. am Gemeindeleben in Deutschland, England oder Frankreich teilnehmen. Gleichzeitig werden zunehmende Tendenzen islamischer Pietät, ein wachsendes Engagement muslimischer Interessenvertreter, neues Interesse und Zuwendung zum Islam unter Jugendlichen, Anti-Kriegs-Bewegungen, islamische Anerkennungs- und muslimische Identitätspolitiken gemeinhin als Hemmnis oder gar Widerstand zum Integrationsimperativ fehlinterpretiert, als Opposition zur "westlichen Kultur" stilisiert - und dabei der Islam als Quelle sozialen Kapitals und zivilen Engagements und die Erfolge sozialer Mobilität unter Muslimen übersehen. Den meisten Forschern ist bewusst, dass jegliche verfügbaren Zahlen weder etwas über die politischen, sozialen und kulturellen Charakteristika und Ansichten von Muslimen in Europa noch über ihr Selbstverständnis oder ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken aussagen.
Islamisierung versus Europäisierung?
Etwa mit Blick auf das neue sozial-kulturelle und das politische Engagement muslimischer Jugendlicher werden die akademischen Diskurse heute nach wie vor von der Frage bestimmt, ob die Muslime in Europa islamischer geworden seien - unter dem prominenten Hilfsbegriff der "Islamisierung". Ihr gegenüber steht die aus religionsgeschichtlicher Perspektive konsequente Frage: Inwiefern verändern sich islamisch definierte Sichtweisen und Praktiken? Sind sie "europäischer" geworden?
Die These von der Europäisierung des Islam und der Islamisierung eines Teiles jener Gesellschaftsmitglieder, die oder deren Eltern aus islamischen Mehrheitsgesellschaftenkamen, erhellt sich mit Blick auf den historischspezifischen Entstehungszusammenhang jenes Phänomens, das wir tatsächlich erst seit den 1980er Jahren - und nicht schon seit der Ankunft der ersten Einwanderer mit muslimischem Hintergrund - als Neue Islamische Präsenz bezeichnen können: nämlich als ein Bezug auf den Islam sichtbar und institutionalisiert wurde - bezeichnenderweise ineuropäischen Organisationsmustern (z.B. Vereinen, hierarchischen Gemeindestrukturen). Insofern wirkt auch die in der Fachliteratur geläufige Formulierung "Muslim settlement" irreführend, denn sie setzt die Migration und Ankunft jener Individuen mit einem kollektiven Phänomen gleich, das sich von Beginn an muslimisch oder islamisch definierte. Ein solcher Handstreich - wenn in der Rückschau im Lichte der heute dominanten Diskurse ein Grundcharakteristikum des Forschungsgegenstandes umgedeutet wird - lässt die Einflussnahme der sozialwissenschaftlichen Forschung auf ihren Gegenstand erahnen und zeigt die Islamisierung der Debatten. Denn Einwanderer kamen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht aus religiösen Gründen, also nicht, um sich in ihrer Qualität als Muslime niederzulassen. Das Bewusstsein ihrer Religionszugehörigkeit entwickelte sich verstärkt erst in der Emigration, wie einige Studien zeigen, die das Wort Islamisierung als Erklärung führen.
Der Gebrauch des Wortes Islamisierung als Erklärungsmuster für neue gemeinschaftliche Bewegungen und sozialpolitische Statements birgt ferner die Gefahr zweier Fehldiagnosen: Kontinuität und Homogenität. Erstere konstruiert Kontinuitätslinien zwischen den lokalspezifischen Varianten islamisch geprägter Alltagskulturen in den Herkunftsregionen und jenen islamisch definierten Bewegungen, Praktiken und Perspektiven, die aus der Interaktion in den neuen gesellschaftlichen Koordinaten entstehen. Ohne die Bemühungen staatlicher und religiöser Autoritäten in den Herkunftsländern oder gar den Einfluss internationaler Beziehungen, Kommunikation und Ereignisse unterschätzen zu wollen: Es sind die europäischen gesellschaftlichen Bedingungen, die den Entwicklungsprozess der Neuen Islamischen Präsenz entscheidend mitbestimmen. Das wird im Zusammenhang mit Muslimen oft übersehen, wenn "der Islam" als etwas Fernes und exotisch Fremdes angesehen wird und seine hiesigen Protagonisten fälschlicherweise als Reproduzenten einer wie auch immer definierten, bruchlos importierten und fortgesetzten Tradition interpretiert werden.
Der Trend zur Vereinheitlichung
Die zweite Fehldiagnose lautet, beim "Islam im heutigen Europa" handele es sich um ein homogenes Phänomen, ist zwar noch äußerst medienwirksam, in den Akademien jedoch nicht mehr verführerisch. Doch mit ihr verhält es sich weitaus komplizierter, wenn man die Augen nicht verschließt vor der Tendenz, die sowohl in den Anerkennungspolitiken der europäischen Muslim communities evident ist als auch als Trend manche sozialwissenschaftliche Interpretation erfasst hat: Vereinheitlichung.
Muslime, Migranten und ex-koloniale Siedler begegnen in Europa nicht nur unterschiedlichen europäischen Kulturen und Alltagsbedingungen und -bräuchen, sondern auch jenen, die von Muslimen aus anderen Herkunftsländern und -regionen teilweise importiert oder renoviert worden sind. Heterogenität ist bis heute eines der Grundcharakteristika der Neuen Islamischen Präsenz. Die ehemaligen Einwanderer erfahren Fremdheit also auch in der Begegnung mit anderen Muslimen. Die Alltagserfahrung und Interaktion innerhalb dieser Koordinaten sorgt für die Entwicklung sich islamisch artikulierender Bewegungen und Gemeinschaften völlig neuen Typs.
Denn ein gewisser Homogenisierungsdruck herrschte von Beginn an in nahezu jeder lokalen Gemeinde vor, in der sich nicht ausschließlich solche Mitglieder versammelten, die aus exakt der gleichen Region stammten.
Am deutlichsten zeigt sich der Trend zur Vereinheitlichung in neuen europäisch-islamischen Konzepten, die von Repräsentanten einer neuen europäisch-islamischen Mittelschicht formuliert werden. Die Kinder der ersten Einwanderer aus islamischen Mehrheitsgesellschaften erreichten ab den späten 1980er Jahren - also zur Zeit des konjunkturellen Aufschwungs des Themas Islam - das Universitätsalter. Mit der Ausbildung europäisch-islamischer Mittelschichten, welche die hiesigen Bildungssysteme durchlaufen hatten, stiegen die Beiträge von Akademikern und Intellektuellen mit muslimischem Hintergrund zum Thema Muslime in Europa an, ebenso die innerislamischen Debatten, die Minderheitserfahrungen reflektieren.
Neue Mittelschichten -neue Perspektiven
Nicht nur der akademische Diskurs zu Muslimen in westlichen Gesellschaften nahm sehr früh die europäische Perspektive ein, die als vereinheitlichend verstanden werden kann, sondern auch die muslimischen Autoren. Konferenzen, auf denen sich Muslime aus verschiedenen europäischen Ländern zum Austausch trafen, fanden schon Anfang der 1980er Jahre statt. Die Debatten um die Entwicklung und Inhalte islamischer Lehre in Europa bezeugen theologische Revisions- und Aktualisierungsprozesse. Europäische muslimische Akademiker und Intellektuelle greifen vor dem Erfahrungshintergrund des hiesigen Alltags mit den Werkzeugen säkularer Bildung versiert klassische Ansätze islamischer Theologie auf, setzen sich davon ab oder entwickeln sie weiter, so dass sie in den Koordinaten der neuen sozialen Realitäten tauglich erscheinen.
Spätestens seit Tariq Ramadans überaus erfolgreicher Veröffentlichung To be a European Muslim im Jahr 1999 wurde die Entwicklung, Bewerbung und Konjunktur europäisch-islamischer Konzepte und eines entsprechenden Selbstverständnisses in gebildeten Kreisen populär.
Und sie formulieren sie, selbstverständlich auch koranisch geschult und mit teils zentralen Verweisen auf islamische Kategorien (die in neuer Interpretation erscheinen), in einer säkularen Sprache. Die philosophische, historische, sozial- und politikwissenschaftliche Bildung sticht heraus. Intellektuell sozialisiert in einer säkularen Diskurssprache, die schon länger kein exklusiv "westliches" Gut mehr ist, jedoch eine andere Sprache ist als jene der traditionellen, religiösen Autoritäten, wenden sie sich Fragen zu, die sich ihrer Ansicht nach der Mehrheit der Muslime in Europa stellen: "Wo sind wir? Wer sind wir? Wohin/wozu/zu wem gehören wir? Welche Identität ist die unsere?"
Stichwort Identität
Mit ihrem wohl entscheidenden diskursiven Trend seit dem Ende des short century sind es somit die europäischen Sozialwissenschaften, die das Zauberwort der Vereinheitlichung liefern: "kollektive Identität". Die Suche nach "kollektiven Identitäten" ist zentral in den aktuell dominanten Diskursen von Multikulturalismus bis zu Transnationalität, in denen u.a. die Auseinandersetzungen von gesellschaftlichen Mehr- und Minderheiten verhandelt werden und auch Perspektiven für die Untersuchung von Muslimen gewonnen wurden. Seit dem Ende des Kalten Krieges geraten die bekannten Kategorien kollektiver Subjektivität - wie z.B. Volk, Nation, Gruppe, Klasse - stark in Bewegung und bringen viele offene Fragen für die Sozialwissenschaftler, die sich mit Phänomenen sozialer Akteure und Bewegungen beschäftigen, in denen die Suche nach einem historischen Sinn in postmaterialen Bedingungen insbesondere für die Mittelschichten in den Mittelpunkt zu rücken scheint.
In seinem erwähnten derzeitigen Hauptwerk formuliert und bewirbt Ramadan ein neues Selbstverständnis, eine "europäisch-islamische Identität". Eine seiner prominentesten Rollen ist die des Identitätspolitikers. Unter demselben Stichwort formuliert er Lösungen, die es jungen Europäern mit muslimischem Hintergrund erlauben, islamischer zu werden, ohne dabei weniger europäisch sein zu müssen. Obwohl es eine essentielle, kollektive muslimische oder europäische oder islamisch-europäische Identität im ursprünglichen Sinne der Kategorie nicht gibt, hat sie, wie auch immer konstruiert, eine objektive Wirkungsmacht. Wer sich auf dem Feld Muslime in Europa bewegt, muss mit den Proklamationen "christlicher, westlicher, säkularer, muslimischer oder islamischer Identitäten" umgehen. Dabei handelt es sich nicht um Identitäten, sondern um Identitätspolitiken bzw. "politics of identification", die versuchen, gemeinsame Interessenlagen zu formulieren. Die entsprechenden Konzepte mögen, wie Ramadans, emanzipatorisch klingen und für Integration und eine harmonische Zusammenführung "europäischer" und "islamischer Grundsätze" stimmen. Als analytische Kategorie jedoch erweist sich der "verbale Container Identität"
Fazit und Schlussbemerkungen
In der Retrospektive wird deutlich, dass der Beginn jener Entwicklung, die später zur Sichtbarkeit und gesellschaftlichen Relevanz einer Neuen Islamischen Präsenz in Europa führte, eindeutig schon in der Integration muslimischer Studenten an den Universitäten und Fachhochschulen europäischer Metropolen lag. Es waren einzelne, junge Männer aus wohlsituierten Familien, von großstädtischer Sozialisation und säkularer Bildung, die vor der Dekolonisierung zu Bildungszwecken (zumeist) in die Mutterländer wie Frankreich, Großbritannien oder Portugal gegangen waren. Sie studierten vornehmlich technische und naturwissenschaftliche Fächer, und später sollte ihnen in vielen Fällen der ersten Gemeindegründungen die Schlüsselrolle zukommen. Während dieser Wirkungsphase der "ersten Generation" handelte es sich um einzelne Integrationsfiguren und Anerkennungspolitiker, die - oft mit Unterstützung der Kirchen - sich in ihrem jeweiligen Land um die Ausbildung einer zuvor nicht vorhandenen religiös-kulturellen Infrastruktur (Gebetsräume, Moscheevereine) bemühten.
Heute begegnen wir immer mehr sozial- und politikwissenschaftlich ausgebildeten Networkern und Identitätspolitikern, die sich auf europäischer, internationaler und virtueller Ebene austauschen: Sie gründen u.a. Studenten- oder Humanitarian Aid-Organisationen, engagieren sich z. T. im European Social Forum, für internationale Menschenrechte, z.B. gegen saudische oder U.S.-amerikanische und für Frauenpolitik, sind oft einer linken, säkulariserten Mittelschicht verbunden, richten Muslim Brainstorming Sessions, Musik- und Empowerment-Veranstaltungen aus, installieren Internetseiten und Chatrooms und diskutieren dort u.a. auch Themen wie Homosexualität oder moderne Nationen-Theorien anlässlich einer Fußballweltmeisterschaft.
Mit dem Heranwachsen der zweiten Generation, bei der es sich mehrheitlich um europäische Staatsbürger handelt, welche die europäischen Bildungssysteme durchlaufen haben, nahm der Anteil an gebildeten (proto-) Mittelschichten innerhalb jener Bevölkerung zu, die auf Migration zurückblickte und die einen anderen Background hatte als die Mehrheitsgesellschaft. Die Kinder der Einwanderer erreichten das Universitätsalter kurz vor und nach 1989 und wuchsen dort in die Identitätsdiskurse hinein, die nach 1989 in den europäischen Sozialwissenschaften zunehmend an Popularität gewannen und seither zentral erscheinen. Heterogenität war das Grundcharakteristikum der NIP, bevor die Identitätsdiskurse in den europäischen Migrationsdiskursen und britischen Postcolonial Studies auf fruchtbaren Boden fielen. Neue gesellschaftliche Bedingungen eröffnen sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit für neue Konzepte: Eine der am heißesten diskutierten Fragen in (europäisch-) muslimischen Diskussionszusammenhängen seit spätestens Anfang der 1990er Jahre zielt auf die Definition muslimischer Subjektivität, also auf ein kollektives Selbstverständnis von "Muslim-sein".
In der Integration der aktuellen Diskurssprachen in solche "europäisch-muslimischen" Konzepte und community politics wird der Wandel von traditioneller Religion zu modernen Ansätzen erkennbar. Als traditionell kann hier die ritualistische religiöse Praxis bezeichnet werden - religiöses Wissen, das mündlich weitergeben wird, ohne reflexive Auseinandersetzung mit der Schrift, zu der nur die Eliten Zugang hatten. Der Schlüssel des Wandels liegt in säkularer Bildung. Eine Generation, welche die europäischen Bildungssysteme durchlaufen hat, entwickelt eine andere Perspektive auf ihre Religion oder jene ihrer Eltern. Mit anderen Werkzeugen und Zugang zur Schrift tritt diese auch in ein anderes, nämlich herausfordernderes Verhältnis zu den traditionellen religiösen Autoritäten. Das zunächst aus den Herkunftsländern importierte religiöse Personal konnte die Fragen junger Muslime, die sich in einem neuen Kontext stellten, nicht beantworten. An die Stelle der alten Gemeindeleiter tritt bald (bzw. trat bereits) eine neue Generation - eine Generation, die in Europa aufgewachsen und zu Hause ist. Säkulare Bildung, Kommunikationswege, Organisationsformen, Alltagsbedingungen, politische Strategien, die Sozialisation und auch Exklusionserfahrungen in europäischen Gesellschaften und die Integration neuer Diskurssprachen in muslimische Debatten deuten auf zwei Tendenzen:
Einerseits auf die Europäisierung des Islam und andererseits auf die Islamisierung von Europäerinnen mit muslimischem Hintergrund. Konträr auf den ersten Blick, können diese Diagnosen zu einem analytischen Instrument werden, wenn sie als eine Tendenz gedacht werden - als Tendenz zur Vereinheitlichung. Aus dieser Perspektive wird deutlich: Die Entwicklungsgeschichte der NIP wird ebenso wie der Entstehungszusammenhang dieser neuen islamisch-europäischen Konzepte vorwiegend von internationaler Erfahrung und den hiesigen gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt. Der "Islam im heutigen Europa" ist ein modernes, translokal bestimmtes, europäisches Phänomen.