Einleitung
Die katholische Kirche und an ihrer Spitze der Papst gehören zu den prominenten Verfechtern von Menschenrechten und demokratischer Entwicklung. Religions- und Gewissensfreiheit als Kern der Menschenrechte wird weltweit gefordert und verteidigt. Doch das ist noch nicht lange so.
Anders als in England und den USA, wo der Aufbau des neuzeitlichen und modernen Staates weitgehend unbelastet von Glaubenskämpfen und staatlich-kirchlichen Konflikten vor sich ging, vollzog sich in Kontinentaleuropa die Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten in scharfer Auseinandersetzung mit Kirche und christlichem Glauben.
Der vorliegende Artikel versucht, die ideengeschichtliche Entwicklung von christlicher bzw. katholisch orientierter Politik zu skizzieren. Im Katholizismus vollzog sich während der letzten 150 Jahre ein Wandel von traditionalistischen hin zu demokratischen Ideen. Dieser Wandel geht einher mit einer zunehmenden Bedeutung der Rolle des liberalen, politischen Katholizismus, der sich insbesondere durch seine Praxisnähe von kirchenoffiziellen Positionen unterscheidet.
Religion und Politik
Alexis de Tocqueville hat eine Definition des Religionsbegriffs gegeben, die für die Verhältnisbestimmung zur Politik hilfreich ist: "Religionen", so schreibt er, "sind ihrem Wesen nach gewohnt, den Menschen nur als solchen zu betrachten, ohne zu berücksichtigen, inwiefern die Gesetze, Gebräuche und Traditionen eines Landes das Allgemeinmenschliche in besonderer Weise modifiziert haben mögen. Ihre Hauptaufgabe ist es, die allgemeinen Beziehungen des Menschen zu Gott, die allgemeinen Rechte und Pflichten der Menschen untereinander, ohne Rücksicht auf die Form der Gesellschaften, zu ordnen."
Die Religion vermittelt demnach vor allem allgemeine Normen und Impulse für das Verhalten des Einzelnen zu seinen Mitmenschen und für seinen Bezug zur Sozialordnung. Deren konkrete Gestaltung ist jedoch vor allem durch kulturspezifische Normen und Verhaltensweisen geprägt, die mit der Religion wohl zusammenhängen, jedoch von dieser deutlich zu unterscheiden sind. Diese Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen des religiösen Bekenntnisses und den Besonderheiten der Kultur ist eine Voraussetzung politikwissenschaftlicher Betrachtung. Hinter Tocquevilles Definition der Religion steht die Erfahrung höchst unterschiedlicher Kulturen und ihrer jeweiligen religiösen Implikationen - Erfahrungen, die der Franzose in Amerika und Europa sammeln konnte. Während sich auf dem neuen Kontinent die Religion ganz unverkrampft mit Menschenrechten und liberaler Ordnung verbinden konnte, wurden im revolutionären und nachrevolutionären Frankreich und in Kontinentaleuropa Christentum und Kirche - nicht zuletzt wegen ihrer engen Verschmelzung mit dem Ancien Régime - bekämpft und kirchliche Sozial-, Kultur- und Bildungseinrichtungen gewaltsam geschlossen oder verstaatlicht. Die Tragik der kontinentaleuropäischen Länder besteht darin, dass sich hier die Menschenrechts- und Demokratieidee im Gewande revolutionärer Entwicklungen vollzog und mit gewalttätigen, kirchen- und religionsfeindlichen Bewegungen verband.
Folglich waren in Europa die liberalen Staatsideen in kirchlichen und außerkirchlichen Kreisen lange Zeit diskreditiert. Allerdings erklärt dies allein noch keineswegs die entschiedene Abwehrhaltung der katholischen Kirche gegenüber Demokratie und Menschenrechten im 19. und frühen 20. Jahrhundert - eine Haltung, die auch mit den Kontroversen zwischen religiös-kirchlicher und politisch-säkularer Sicht zusammenhängt.
Revolution und Kirche
Die Verurteilungen der liberalen Menschenrechte und Ordnungsideen durch die päpstliche Staatslehre beginnen mit dem Breve Quod aliquantum Pius' VI. (1791), das eine Reaktion auf die Zivilkonstitution der Französischen Nationalversammlung vom Juli 1790 darstellt. Das Dokument fordert unter Verweis auf die Gewaltenlehre des Römerbriefs des Apostel Paulus den Gehorsam gegenüber dem Monarchen, der als göttliches Gebot dekretiert wird ("Denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott kommt"; Römer 13,1). Auch Gregor XVI. verlangt in Mirari vos (1832) mit biblischen Begründungen "unerschütterliche Treue gegenüber den Fürsten" und verurteilt die modernen Grundrechte wie die Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheit als "absurde Freiheitsrechte", die im Widerspruch stünden zu den Forderungen Gottes und der Kirche. Die Verurteilung liberaler Grundrechte und Ordnungsideen zwischen 1791 und 1878 beruht nicht zuletzt auf dem Umstand, dass der Papst nicht nur Oberhaupt der Katholiken, sondern bis 1870 zugleich weltlicher Herrscher über den Kirchenstaat ist. Die wichtigste theoretische Stütze der weltlichen Souveränität des Papstes ist das traditionalistische Argument, dass die Ordnung des Kirchenstaats eine Manifestation der Geschichte bzw. der "Zeit" sei, deren Lenker Gott ist. In den kirchlichen Lehrschreiben wird die Monarchie mit theologischen und traditionalistischen Begründungen verteidigt. Dabei wird die säkulare Gewalt durch das Argument gestützt, der Papst könne sein Amt als Oberhaupt der Kirche nur dann frei ausüben, wenn er keinem anderen weltlichen Herrscher untertan sei.
Die politische Theologie der Päpste im 19. Jahrhundert steht in engem Zusammenhang mit der Restauration, der Neuordnung Europas nach den Napoleonischen Kriegen. Gemäß dem Wiener Kongress 1814/15, der die europäischen Monarchien einschließlich des Kirchenstaats wiederherstellte, sollte in allen Bundesstaaten "eine landständische Verfassung stattfinden", wie es in Artikel XIII der Deutschen Bundesakte von 1815 hieß. Mit der landständischen Ordnungsidee war zwar ein Schritt zum konstitutionellen System getan; doch blieb diese Form der "verfassten Repräsentation" noch dem Denken der alten Ständeversammlungen verhaftet. So hatten die Verfassungen und Repräsentativorgane noch nicht dem Verlangen der breiteren Volksschichten nach mehr Entscheidungsbeteiligung, nach Meinungs- und Pressefreiheit und nach Repräsentation der nichtbesitzenden Schichten Genüge getan.
Vorbereitet und begleitet wurde die Restauration durch eine Vielzahl konservativer Staatstheoretiker und Publizisten, wie etwa den Savoyarden Joseph de Maistre, die Franzosen Louis de Bonald und den jungen Robert de Lamennais
Politischer Katholizismus
Von dem bretonischen Priester Félicité Robert de Lamennais wird erstmals die Demokratieidee als eine Option christlicher Haltung entfaltet. Unter Verweis auf die belgische Verfassungsbewegung 1830, die von Liberalen und Katholiken getragen ist ("Unionsgedanke"), werden die Forderungen nach Trennung von Kirche und Staat sowie nach grundrechtlicher Sicherung der Religions-, Gewissens-, Unterrichts-, Presse- und Vereinsfreiheit erhoben. Entwickelte sich der moderne Staat in den kontinentaleuropäischen Ländern als eine "Revolte gegen die Religion" (Hans Maier), so sieht Lamennais, nachdem er sich vom Legitimismus abgewandt hat, Religion und Demokratie prinzipiell keineswegs als Gegensätze, sondern als einander bedingende Größen an. Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit sieht er als Elemente, deren religiös-sittliches Verständnis vom individualistischen Liberalismus abgehoben wird. So hofft er für die Zukunft auf ein Bündnis von christlich-liberalen Kräften und individualistisch-säkularem Liberalismus.
Während Lamennais den Katholizismus auf die demokratische Form verpflichten wollte, betrachtete sein Mitstreiter Charles de Montalembert "die Demokratie als unvermeidliches Schicksal". Er ist weit von einer Dogmatisierung der Demokratie entfernt, lehnt aber den Legitimismus entschieden ab. Montalembert ist Demokrat weniger der Gesinnung als der politischen Methodik nach.
Ähnliche Begründungen von konstitutionellen Gedanken vertritt auch Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811 - 1877). In seiner Schrift "Freiheit, Autorität und Kirche" (1862) entfaltet der Mainzer Bischof das Grundgerüst für die katholische Haltung zur Staatsmacht, zu Rechtsstaat und parlamentarischer Vertretung - eine Theorie, die auch die politischen und religionsrechtlichen Grundlinien des politischen Katholizismus im Deutschen Kaiserreich markiert. Mit seinen sozialen Ideen wird Ketteler zugleich zum Wegbereiter einer christlichen Sozialreform.
Ketteler empfiehlt den Katholiken, alle politischen, parlamentarischen und pressemäßigen Möglichkeiten zugunsten der katholischen Interessen wahrzunehmen. Pragmatisch stellt er sich auf den Boden rechtsstaatlicher Grundsätze. Er wendet sich gegen den Absolutismus und den Polizeistaat, denen er den "wahren Rechtsstaat" gegenüberstellt, der "auf Freiheit und Selbstregierung" beruht. Weitere Forderungen sind: Rechtsschutzgarantie des Staates, die angemessene Differenzierung zwischen Staats- und Privatrechtsordnung, eine Verwaltungsgerichtsordnung, ein oberstes Reichsgericht sowie ein unabhängiger Richterstand. Wesentliches Fundament des Rechtsstaats ist eine normative Ordnung, "ein gerechtes Maß, nach dem gemessen wird, ein gerechtes Gesetz, nach dem geurteilt wird". Mit seiner Forderung, die kirchliche Freiheit, die in der Preußischen Verfassung 1848/50 enthalten war, auch als Grundrecht in der Deutschen Reichsverfassung von 1871 zu verankern, ist er gescheitert.
Die Grundlage seiner Ordnungsideen ist das Naturrecht, wie er es im Anschluss an Thomas von Aquin vertritt. Das Naturrecht hatte für den politischen Katholizismus eine hervorragende Bedeutung.
Für Ketteler ist das Naturrecht klar und unveränderlich. Aber Klarheit und Festigkeit des Naturgesetzes gelten nur für die obersten Grundsätze. Die Folgerungen in den verschiedenen Wissenschaften und Sachgebieten sind nicht schon "von Natur aus" bekannt, sondern sie sind durch Gebote der praktischen Vernunft zu erschließen. Die sich aus ihr ergebenden Normen sind das menschliche Gesetz. Die Grundrechtsforderungen Kettelers und des Katholizismus sind ambivalent: Einerseits soll ein möglichst großer Freiheitsraum für die Kirche gegenüber dem Staat erwirkt werden (korporative Rechte); andererseits werden die "Freiheitsrechte" noch als "historische Rechte" verstanden. Ähnlich wie viele konservative Theoretiker bleibt Ketteler dem historisch-organischen Gedankengut verbunden. Verfassung und Recht werden nicht so sehr als willentlich-schöpferische Produkte, als artifizielle Ergebnisse eines pluralen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses gesehen. Entsprechend werden die Freiheitsrechte als Wiederherstellung älterer "christlich-germanischer Freiheiten" charakterisiert - eine Anschauung, die ähnlich auch im Verfassungsdenken des Konservatismus und Edmund Burkes zu finden ist.
Dem älteren Rechtsdenken verhaftet bleibt auch die sog. neuscholastische Staatslehre, die von Leo XIII. (1878 - 1903) zur offiziellen Kirchenlehre erhoben wird.
Scholastische Volkssouveränität
Vor dem Hintergrund des Zerfalls der konfessionellen Einheit infolge der Reformation und der Abspaltung der Anglikanischen Kirche, der Entdeckung Amerikas und der Bedeutung neuer Handelsbeziehungen hatten spanische Theologen und Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts grundlegende Normen des Völkerrechts sowie der Rechts- und Eigentumslehre entwickelt.
Zweifellos steckt in der scholastischen Volkssouveränitätsthese, auch wenn man in der virtuellen Gewaltinnehabung des Volkes keine Gewohnheit, sondern nur eine Möglichkeit sieht, politischer Sprengstoff. Potenziell ist sie demokratisch. So sah man in dieser These eine Vorwegnahme der modernen Volkssouveränität und der Ideen Rousseaus. Die spanischen Spätscholastiker verstehen jedenfalls die politische Ordnung als historisch-kulturelles Produkt, an dem das Volk "irgendwie" beteiligt ist. Doch bleiben sie auf halbem Wege stehen, wenn sie - trotz voluntaristischer Ansätze - an der traditionellen Vorstellung festhalten, dass der Mensch in eine vorgegebene Ordnung eingebunden sei. Lediglich der weltliche Jurist Fernando Vázquez sieht die Beauftragung des Herrschers durch das Volk als jederzeit widerruflich an.
Aufgrund dieser Ambivalenz war die scholastische Theorie für Leo XIII. von besonderem Nutzen. Sie konnte dort, wo sich die republikanische und demokratische Ordnung durchgesetzt hatte, ebenso als Rechtfertigungsgrund dienen wie in den bestehenden konstitutionellen und absoluten Monarchien. So forderte Leo 1892 die Katholiken Frankreichs auf: "Acceptez la République." Zweifellos hatte dieses Ralliement, die Aussöhnung der Katholiken mit der Republik, große Bedeutung für ein positives Verhältnis der Katholiken zur demokratischen Ordnung.
Aber andererseits war die neuscholastische Staatstheorie aufgrund verschiedener Kautelen nur bedingt mit der liberalen Staatsrechtstheorie vereinbar. Naturrechtlich betrachtet konnten gemäß der aristotelisch-thomistischen Staatsformenlehre Monarchie, Aristokratie und Demokratie legitime Ordnungen sein, sofern sie gemäß den sozialethischen Prinzipien des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit dem öffentlichen Wohl dienlich waren. Die katholische Doktrin war also bezüglich der Staatsform neutral (sog. Staatsneutralitätsthese). Andererseits aber wurde vom traditionellen Kooperationsmodell von Kirche und Staat, dessen Ideal der katholische Glaubensstaat war, der weltanschaulich neutrale Staat als "nationale Apostasie" bewertet. Zudem war das naturrechtlich-organische Ordnungsmodell (u.a. Einheit von Moral und Recht), das Persönlichkeitsrechte nur im Staatsganzen definieren konnte, individuellen, vorstaatlichen Grundrechtsideen abträglich.
Eine weitere Einschränkung des Demokratiegedankens in der Lehre Leos XIII. ergab sich aus folgendem Grund: Mit seinen sozialen Rundschreiben gab der Papst der Entwicklung christlich-sozialer und christlich-demokratischer Parteien und Verbände Auftrieb. In der Enzyklika Rerum novarum: Über die Arbeiterfrage (1891) fordert Leo Lohngerechtigkeit und stärkere staatliche Aktivitäten im Wirtschaftsprozess, ferner das Koalitionsrecht der Arbeiterschaft sowie zeitgemäße Arbeitnehmerorganisationen. Diese Forderungen sind Elemente eines umfänglicheren Programms zur Lösung der Sozialen Frage, das mittelbar auch demokratische Tendenzen enthielt. Das Rundschreiben gab jedenfalls in mehreren europäischen Ländern den Anstoß zur Bildung sozialpolitischer, parlamentarischer und parteipolitischer katholischer Verbände, Parteien und Bewegungen. Aus der Sicht der römischen Kurie drohten diese Gruppierungen jedoch einen autonomen Status anzunehmen und sich kirchlich-politischen Interessen zu entziehen. Zu diesen Befürchtungen gab u.a. die interkonfessionelle Ausrichtung christlicher Parteien und Gewerkschaften in Deutschland Anlass.
Weimarer Katholizismus
Der politische Katholizismus in Deutschland war in der Weimarer Republik (1919 - 1933) gespalten. Der größere Teil war zweifellos demokratisch gesinnt, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Verbandskatholizismus seit Bischof Ketteler und dem Zentrumsführer Ludwig Windthorst - gewissermaßen als Erbe des Kulturkampfes - die parlamentarischen Repräsentativorgane für die "katholischen Interessen" zu nutzen verstand.
Politiktheoretisch ist der politische Katholizismus dieser Epoche nicht einfach zu orten. Einerseits war das Gros der Katholiken einschließlich des Klerus der demokratischen Ordnung verbunden, und man verteidigte die politischen Grundrechte entschieden gegen Extremisten von links und rechts, als schon die ersten Notstandsgesetze in Kraft waren. In der NS-Diktatur hatte sich die katholische Bevölkerung um die Priester und Bischöfe geschart, in denen man auch für den politisch-weltlichen Bereich die Führer sah, die das religiöse Lebensrecht gegen den bedrohenden Staat verteidigen. Andererseits aber bereiteten die Grundrechte, vor allem ihre verfassungstheoretische Positionierung gegen die diktatorischen Ansprüche des Nationalsozialismus, dem "katholischen Gewissen" beträchtliche Schwierigkeiten. "Die Treue zur bestehenden geschichtlichen Verfassung", so formuliert es Ernst-Wolfgang Böckenförde, "hatte naturrechtlich keinen Ort."
Der Kritik Böckenfördes an den politiktheoretischen Aporien des deutschen Katholizismus im Jahre 1933 wurde vorgehalten, diese These sei theoretisch und unhistorisch. Tatsächlich aber entspricht sie durchaus auch der Selbsteinschätzung einzelner Theologen und Kirchenvertreter jener Zeit. Dies belegt ein Artikel des Freisinger Moraltheologen und Ehrenkanonikus von St. Kajetan in München, Robert Linhardt (1895 - 1981). In seiner der Fachliteratur bisher unbekannten Schrift Verfassungsreform und katholisches Gewissen
"Katholisches Gewissen"
Linhardts Kritik an der Staatsneutralitätsthese und der restriktiven Gemeinwohlinterpretation gipfelt in zwei Grundthesen: 1. Das "katholische Gewissen" erfordere spätestens in der existentiellen Situation des Jahres 1933 den entschiedenen Rekurs auf die liberalen Grundrechte, von denen allein her die diktatorische Machtübernahme nicht nur ethisch, sondern auch staatsrechtlich delegitimiert werden könne - auch wenn die liberalen Grundrechte nicht aus dem Kernbestand katholischer Dogmatik stammten. 2. Zur Sicherung der Humanität des Gemeinwesens sei es vonnöten, das Subsidiaritätsprinzip, das die Enzyklika Quadragesimo anno Pius' XI. (1931) lediglich als allgemeine gesellschaftliche Leitidee charakterisierte, mit den Rechtszwecken des Staates, d.h. der Rechts- und Friedensordnung seiner Bürger, zu verknüpfen.
Soweit erkennbar sind Linhardts Grundsätze einer Verfassungsreform das erste politiktheoretische Dokument des deutschen Katholizismus, das eine systematisch reflektierte, demokratische Grundrechts- und Verfassungsordnung entwickelt hat.
Christlicher Personalismus
Die politisch-programmatischen Aktivitäten des deutschen Katholizismus
Das christliche, personalistische Menschenbild beinhaltet einen anthropologisch-sittlichen Grundkanon von Prinzipien und Leitideen. Näherhin sind dies: die Würde, Freiheit und Verantwortungsfähigkeit der Einzelperson, ihre Endlichkeit und Schuldfähigkeit (Gebrochenheit), ferner die Gleichheit der Menschen (vor Gott) und die Idee der Gerechtigkeit. Diese theologisch-anthropologischen Ideen intendieren ein Personverständnis mit sozialen Implikationen, woraus sich die Sozialprinzipien der Solidarität, Subsidiarität und Gerechtigkeit ergeben. Diese Leitideen einer freiheitlichen, demokratischen und sozialen Ordnung sind notwendigerweise entwurfs- und gestaltungsoffen: Ihre Anwendung erfolgt entsprechend im Kontext politischer, wirtschaftlicher, finanzpolitischer und kultureller Umstände.
Resümierend kann festgestellt werden, dass sich das politische Ideenspektrum des Katholizismus durch eine beträchtliche Breite auszeichnet. Seit dem 19. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel von traditionalistischen und konservativen Ideen über pragmatisch-konstitutionelle und neuscholastische Positionen hin zur demokratischen, menschenrechtlich fundierten politischen Ethik. Dieser Paradigmenwechsel zu einem christlichen Personalismus, der vor allem durch den liberalen und den Laienkatholizismus induziert wurde (u.a. durch den französischen Philosophen Jacques Maritain) und der schließlich seit den sechziger Jahren auch in der kirchenoffiziellen Sozialethik seinen Niederschlag findet, ist möglich geworden durch die im christlichen Glauben angelegte Differenzierung zwischen theologisch-biblischen Kernelementen und politisch-kulturellen Faktoren. Das lateinische Christentum hat in seinen konfessionsspezifischen Ausformungen des Katholizismus und des Protestantismus