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Unsicherheiten im Lebensverlauf um 1900 und um 2000 | Abstieg - Prekarität - Ausgrenzung | bpb.de

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Unsicherheiten im Lebensverlauf um 1900 und um 2000

Helga Pelizäus-Hoffmeister

/ 16 Minuten zu lesen

Unsicherheiten im Lebensverlauf werden heute viel tief greifender wahrgenommen als in früheren Zeiten. Geringere eigene Kontrollmöglichkeiten bei gleichzeitig gestiegener individueller Verantwortung für die eigene Lebensplanung könnten die Ursache sein.

Einleitung

Die Menschen moderner Gesellschaften fühlen sich heute zunehmenden biographischen Unsicherheiten ausgesetzt: Ihr Lebensverlauf erscheint ihnen immer weniger vorhersehbar, einschätzbar und planbar. So lautet die aktuelle Diagnose zahlreicher Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. In der öffentlichen Diskussion stößt diese Auffassung auf große Zustimmung. Vor allem der zunehmend unsicherer, flexibilisierter und deregulierter werdende Arbeitsmarkt trägt dazu bei, dass die Menschen nicht nur ihre berufliche Perspektive, sondern ihren gesamten Lebensverlauf als offen und tendenziell fragil erleben. Biographische Sicherheit - die Erwartungen und Gewissheiten, die wir hinsichtlich unserer Zukunft und unseres eigenen Lebensverlaufs entwickeln - scheint dadurch in hohem Maße gefährdet.



Aber ist Verunsicherung nicht ein Problem, das die Menschen moderner Gesellschaften seit jeher beschäftigt? Hat nicht der stete Wandel - zentrales Kennzeichen der Moderne - fortwährend neue Ungewissheiten produziert? Schilderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse und Probleme um die Jahrhundertwende 1900 offenbaren verblüffende Parallelen zur heutigen Diagnose. Auch für die damalige Zeit lassen sich - beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt, bedingt durch die Industrialisierung - gravierende Unsicherheiten und Veränderungen belegen, die sich einschneidend auf die Lebensverläufe der Menschen auswirkten. Und lese ich in den Lebensbeschreibungen von vor einhundert Jahren lebenden Menschen, dann scheint mir, dass Unsicherheit auch schon damals Angst und Schrecken verbreitete. "Chaos", ist das Wort, mit dem zum Beispiel Wassily Kandinsky die unsichere Atmosphäre seiner Zeit beschrieb, ein Chaos, das "den Menschen zum Verzweifeln führt".

Doch auch wenn Unsicherheit ein allgegenwärtiges Phänomen der Moderne zu sein scheint, so wird heute dennoch meist von einer Zunahme tief greifender gesellschaftlicher Ungewissheiten ausgegangen. Jürgen Habermas beispielsweise hat eine "neue Unübersichtlichkeit" diagnostiziert, Zygmunt Bauman gar vom "Ende der Eindeutigkeit" gesprochen, und Ulrich Beck einen gravierenden Unsicherheitsschub zum zentralen Problem der Gegenwart erklärt. Umgekehrt wird in der Wissenschaft zugleich eine Zunahme an Sicherheit diagnostiziert, die sich zum Beispiel in der immer höheren Lebenserwartung der Menschen ausdrücke.

In dieser kontroversen Debatte blieb bislang unbeantwortet, ob es tatsächlich einen "objektiven" Anstieg biographischer Unsicherheiten gibt und ob sich die Menschen heute in ihrer Lebensgestaltung stärker verunsichert fühlen als in früheren Zeiten. Um einer Antwort auf die letzte Frage näher zu kommen, habe ich aus historisch vergleichender Perspektive die Lebensbeschreibungen zweier Gruppen von Künstlerinnen und Künstlern analysiert, die um die Jahrhundertwenden 1900 und 2000 lebten bzw. leben. Aus dieser Studie können zwar keine allgemeingültigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Dennoch bieten die dort sichtbaren Wandlungstendenzen wichtige Anhaltspunkte dafür, was sich in der Wahrnehmung der Menschen in den vergangenen einhundert Jahren verändert hat. Zudem sind die Beschreibungen von Angehörigen dieser spezifischen Berufsgruppe besonders gut geeignet, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie man sich Veränderungen in der Lebensgestaltung unter den Bedingungen eines unsicheren und flexiblen Arbeitsmarktes vorstellen kann. Denn in dieser Hinsicht sind Künstlerinnen und Künstler geradezu Pioniere.

Deutung von Unsicherheiten

Um verstehen zu können, wie Menschen mit ihrer unsicheren und ungewissen Zukunft umgehen, ist zuerst danach zu fragen, wie sie diese wahrnehmen und deuten. Erscheinen ihnen Unsicherheiten beispielsweise als äußere Bedrohungen, denen sie sich ausgeliefert fühlen und die sie nicht durch eigenes Handeln bewältigen können? Oder begreifen sie sie eher als Herausforderungen für das eigene Tun? Mit diesen unterschiedlichen Überzeugungen sind verschiedene Vorstellungen von der eigenen Person verbunden. Im ersten Fall fühlt sich der Mensch vor allem als "Opfer", fremdbestimmt und der unsicheren Umwelt hilflos ausgeliefert; im zweiten sieht er sich als einen autonomen Menschen mit hohem Kontrollbewusstsein, der in der Lage ist, Unsicherheiten aktiv zu bekämpfen. Es ist zugleich zu berücksichtigen, dass eine offene und unsichere Zukunft zwar prinzipiell negativ, aber durchaus auch positiv erfahren werden kann. Sie muss den Menschen nicht notwendig als Problem erscheinen, sondern kann gleichfalls als ein hoher Freiheitsgrad verstanden werden, als eine Chance auf neue gute Gelegenheiten und Erfahrungen. Von diesen Überzeugungen hängt es im Wesentlichen ab, welche Strategien die Menschen wählen, um biographische Sicherheit zu gewinnen.

Im Folgenden möchte ich schildern, wie sich das subjektive Erleben von Unsicherheit zwischen den Jahrhundertwenden 1900 und 2000 verändert hat und welche Bedeutung dies für die jeweilige individuelle Lebensplanung hatte bzw. hat.

Wandel der Deutungen

An erster Stelle zeigt sich, dass eine ungewisse biographische Zukunft um 2000, also heute, nicht mehr ausschließlich negativ betrachtet wird. Um 1900 wurde Unsicherheit dagegen stets im Sinne eines Defizits gedeutet: als unzureichender Zustand, der starke persönliche Verunsicherung hervorrief und den es daher dringend zu beseitigen galt. Das Bestreben nach Sicherheit und Eindeutigkeit war so stark, dass häufig sogar eindeutig negativ bewertete Ereignisse der reinen Ungewissheit vorgezogen wurden. Die schlechte Nachricht über einen Krankheitsbefund zum Beispiel war in diesem Sinne besser als keine Nachricht.

Demgegenüber existiert heute zugleich auch eine Positiv-Variante. In diesem Fall wird die unsichere, offene Zukunft als eine Erweiterung der eigenen Handlungsoptionen erlebt, die verbunden ist mit vielfältigen Chancen auf neue und interessante Lebensabschnitte und Erfahrungen. Zeitlich befristete Jobs beispielweise, die eine unklare und unsichere Zukunft bedeuten, vermitteln Angehörigen der Berufsgruppe der Künstler heute offenbar zugleich ein Gefühl von Freiheit, da sie sich nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses immer wieder neu orientieren können. Auch empfinden sie zukünftige Ungewissheit häufig als eine Art der Legitimation dafür, von den verschiedensten Lebenswegen "träumen" zu können. Eine Künstlerin, ich nenne sie Frau Engel, betonte beispielsweise: "Ich bin glücklich, dass ich als Künstlerin keine eindeutigen Ziele haben muss."

Um 1900 konnten die Interpretationen von Unsicherheit relativ eindeutig zwei verschiedenen Mustern zugeordnet werden: Ein Teil der Menschen fühlte sich hilflos ausgeliefert, der andere verstand Unsicherheit als eine Aufforderung für eigenes aktives Eingreifen, um die Zukunft in ihrem Sinne zu steuern. Im ersten Fall erschien Unsicherheit den Menschen als eine äußere Bedrohung - zum Beispiel als Schicksal oder Zufall interpretiert -, die nicht durch eigenes Tun zu bewältigen war. In diesem Fall wurde die ungewisse Zukunft als nicht einschätzbar und nicht kontrollierbar erlebt. Die Menschen fühlten sich ihr ausgeliefert, fremdbestimmt und wenig in der Lage, ihr Leben aktiv zu gestalten. "Das Leben war zu provisorisch, um befriedigend zu sein - ich konnte es nicht ändern und beschied mich damit", so brachte zum Beispiel Gabriele Münter ihre empfundene Hilflosigkeit zum Ausdruck.

Unerwartete Ereignisse, positive wie negative, wurden von diesen Menschen auf die äußeren Umstände zurückgeführt. Beruflicher Erfolg beispielsweise erschien ihnen nicht als Folge eigenen Engagements oder Könnens, sondern wurde vor allem durch glückliche Umstände erklärt.

Ganz anders reagierten die Anderen. Unsicherheit wurde von ihnen als eine Herausforderung zum aktiven Handeln angenommen. Sie waren von der Berechenbarkeit, Einschätzbarkeit und Kontrollierbarkeit der zukünftigen Ungewissheit überzeugt, was für sie die Grundlage ihrer aktiven Lebensgestaltung bildete. Ungewisse Situationen schienen ihnen vor allem als Bedingung oder Ergebnis eigenen Wirkens. "Wille und Disziplin ist alles", sagte zum Beispiel Paul Klee, ein Protagonist dieser Gruppe. Die Unsicherheit hinsichtlich der zukünftigen materiellen Sicherung beispielsweise wurde als Aufforderung verstanden, diese durch besonders findiges Haushalten und durch Sparsamkeit zu bewältigen. Nie wurde die Situation als solche beklagt, sondern allenfalls das mangelnde eigene Vermögen, damit umzugehen. Diese Anschauung ging einher mit einem Gefühl von Autonomie, von Kontrollbewusstsein und einem hohen Maß an eigener Verantwortung. Paul Klee brachte diese Überzeugungen in folgenden Zitaten zum Ausdruck: "Ich neige dazu, mich immer wieder schnell zu retten. Ich will nicht, dass mich irgendetwas überwächst." Oder: "Ich fühle mich frei ... alles zu unternehmen, was ich selbst verantworten kann."

Zu diesen beiden Formen der Interpretation von Unsicherheit kommt um 2000 eine weitere hinzu. Viele Menschen sind heute nicht nur verunsichert, weil ihnen die Zukunft offen und ungewiss erscheint. Sie fühlen sich darüber hinaus nicht einmal in der Lage, zu bestimmen, woher die Ungewissheit kommt. Entsteht sie als Folge eigener Handlungen und konnte durch eigenes Tun bewältigt werden? Oder ist sie auf äußere, unkontrollierbare Faktoren zurückzuführen? Diese doppelte Verunsicherung ist heute bei vielen Menschen Anlass zu starker persönlicher Besorgnis. Für Herrn van Doren beispielsweise war die Ungewissheit so bedrückend und belastend, dass er verblüfft war, wenn er sie hin und wieder auch vergessen konnte: "Ich kann's noch nicht mal beschreiben, warum's Tage gibt, wo mir das dann ... wo ich nicht darüber nachdenke. ... Diese Verunsicherung die man hat. .... Auch wenn man das Radio anmacht. Und man hört jeden Tag eine andere Information. ... Kein Mensch weiß mehr, worum es überhaupt geht."

Bei diesen Menschen verband sich das Erleben von Unsicherheit mit einem Gefühl der Ambivalenz. Ambivalent erschien ihnen dabei nicht nur die unsichere Welt; ambivalent erschien ihnen zugleich auch die Rolle, die sie selbst bei der Lebensgestaltung spielten. Denn einerseits waren sie von der Erfolglosigkeit eigenen Handelns überzeugt; andererseits aber galt ihnen die aktive Auseinandersetzung als einzige Möglichkeit, endgültiges "Scheitern" im Lebensverlauf zu vermeiden. Frau Morena zum Beispiel betonte: "Man muss schon sehr progressiv vorgehen, aber das ist dann auch wieder schlecht". So führte sie den "Kampf" um den beruflichen Erfolg höchst engagiert und motiviert; gleichzeitig aber war sie davon überzeugt, dass es nicht von ihrem Können und ihrer Motivation abhing, ob sie erfolgreich war oder nicht.

Die doppelte Verunsicherung wurde von einigen Menschen aber auch positiv gedeutet. Denn wenn gar nichts mehr klar und eindeutig war, dann konnte die offene Zukunft immer auch anders interpretiert werden. Mochten diesen Menschen bestimmte Handlungsoptionen am Vortag noch als die einzig richtigen erschienen sein, so konnten sie sich am nächsten Tag dennoch ohne Probleme und Rechtfertigungsdruck für völlig andere entscheiden. Wurde ein Ereignis gerade noch als bedenklich und zu riskant eingestuft, so konnte es ihnen im nächsten Augenblick durchaus als eine Chance erscheinen, die sie nicht verpassen durften. Die verschärfte Unsicherheit und Ambivalenz erlebten diese Menschen als eine Art Freiheitsgewinn, der es ihnen gestattete, ihre Aktivitäten an wechselnden Wünschen und Zielen, aber auch an sich verändernden äußeren Bedingungen zu orientieren. Herr Pattini zum Beispiel betonte, dass Ambivalenz eine wichtige Basis seines Lebens darstelle. "Es gehört dazu, es ist wie der Gegensatz. Denn wenn es das nicht gibt, dann weißt du nicht, was anders sein könnte."

Zu persönlicher Verunsicherung und Besorgnis kam es nicht, weil diese Menschen sowohl ihrem eigenen erfolgreichen Handeln vertrauten als auch ihrem sozialen Umfeld, das ihnen - das war ihre Überzeugung - jederzeit Unterstützung, Anregung und Hilfestellung versprach. Die grundlegende Überzeugung von Herrn Tomsky in diesem Sinne: "Es gibt immer Menschen, die zu dir stehen." Es gab Andere, die vertrauten zudem Gott oder einem Schutzengel, die ebenso dafür sorgen würden, dass sich alles zum Guten hin wenden würde.

Wandel der Bewältigungsstrategien

Bei den Formen der Unsicherheitsbewältigung zeigte sich, dass um 2000 die eigenen Überzeugungen und Ideen bei der Gestaltung des Lebensverlaufs eine immer wichtigere Rolle spielen. Bei der Planung der Zukunft orientieren sich die Menschen heute vor allem an eigenen Bedürfnissen und Zielsetzungen und immer weniger an gesellschaftlichen "Normalitätsvorstellungen"; also an dem, was "man zu tun" hat. Demgegenüber hatten die Menschen um 1900 noch klare und eindeutige, gesellschaftlich geprägte Auffassungen davon, wie ein "gutes und richtiges" Leben (geschlechtsspezifisch unterschiedlich) auszusehen hatte, selbst wenn es nicht den eigenen Vorstellungen entsprach. Diese Gewissheiten scheinen um 2000 geschwunden zu sein. Frau Messner zum Beispiel stellte fest, "dass es keine Gesetze` mehr gibt", die Halt und Sicherheit versprechen würden, so dass das Leben nur noch nach eigenen Vorstellungen gestaltet werden konnte.

Dieses Schwinden gesellschaftlicher "Leitvorstellungen" spiegelt sich besonders deutlich beim so genannten "Normallebenslauf" wider. Dieser stellt eine Art Muster dafür dar, wie der Lebenslauf gestaltet sein sollte und wann für bestimmte Entscheidungen die richtige Zeit ist. Er gliedert zum Beispiel das Leben der Männer in drei Phasen: in die Phase der Vorbereitung auf den Beruf, die der Erwerbstätigkeit und die der nachgelagerten Ruhephase. Der weibliche "Normallebenslauf" erscheint komplexer, da sich bei ihm die Bereiche Familie und Erwerbsarbeit nicht problemlos vereinbaren lassen. Die Erwerbsarbeit hat bei der Frau den Status eines Zusatzprogramms, während die Familie - zumindest in der Familienphase - ihr Leben bestimmt. Die Geltung dieser Leitvorstellungen, die den Menschen ein "Gerüst" für die eigene Lebensplanung hätten bieten können, scheint sich um 2000 zunehmend gelockert zu haben.

Um 1900 war die Ausrichtung des eigenen Lebens auf den gesellschaftlich erwünschten "Normallebenslauf" selbstverständlich. Selbst wenn die Erfüllung der Konventionen nicht einfach schien, wurden doch alle Bemühungen darauf gerichtet, dem Idealbild möglichst nahe zu kommen. Um 2000 hingegen dient dieses Leitbild immer weniger der Orientierung. Teilweise werden seine normativen Vorgaben sogar explizit abgelehnt. Was früher als selbstverständlich galt, wird heute häufig kritisch hinterfragt. So war beispielsweise die Eheschließung um 1900 eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit, wenn man plante, eine Familie zu gründen. Heute hat sie für viele an Bedeutung verloren. Frau Morena etwa sagte zur Institution der Ehe: "Ja gut, wenn man sich dieses Versprechen geben möchte. Dann ist das vielleicht sogar etwas sehr Schönes. Aber für mich nicht, für mich hat es keinen Stellenwert. Muss ich wirklich sagen."

Teilweise ist es heute aber auch die mangelnde Passung, die das Leitbild in Frage stellt. Denn wie kann das Drei-Phasen-Modell des "Normallebenslaufs" angestrebt werden, wenn die Phase der eigenen Erwerbstätigkeit durch häufige Arbeitslosigkeits- und Weiterbildungsphasen immer wieder unterbrochen wird oder wenn aufgrund materieller Unterversorgung selbst eine Rentnerin weiterhin zur Erwerbsarbeit gezwungen ist?

Und in den wenigen Fällen, in denen sich die Befragten um 2000 am "Normallebenslauf" orientierten, wurde dies von ihnen als eine bewusste Entscheidung beschrieben, die allerdings eine weniger hohe Verbindlichkeit hatte. Hier wurde die Anpassung als funktionales, sicheres Arrangement dargestellt, das der Verwirklichung der persönlichen Interessen besonders entgegenkam.

Es gibt heute nicht wenige Menschen, die - teilweise verzweifelt - nach "gültigen" gesellschaftlichen "Regeln und Konventionen" suchen, die dem eigenen Leben Halt und Sicherheit geben sollen. Doch ihre Suche verläuft nicht selten im Sande, so dass vielfach nur die "selbst gebastelten" Überzeugungen als Anknüpfungspunkte für die zukünftige Lebensplanung bleiben. Und auch wenn diese Menschen oft an der Gültigkeit ihrer eigenen Sichtweisen zweifeln, so sehen sie dennoch keine andere Möglichkeit, als ihr Leben darauf aufbauend zu gestalten.

Um 1900 herrschte die Überzeugung, dass das Leben auf ein Ziel hin ausgerichtet sein müsse, dem sich die Menschen im Laufe ihres Lebens nähern sollten. Insofern stellte man sich ein "gelungenes" Leben im Sinne einer Weiterentwicklung vor. Es sollte geprägt sein durch kontinuierlichen Fortschritt. "Brüche" im Lebensverlauf galt es daher zu vermeiden. Falls sie dennoch auftraten, wurden sie als Abweichung behandelt und mussten explizit gerechtfertigt werden. Ein Wechsel des Berufes beispielsweise entsprach nicht den gängigen Vorstellungen und musste, wollte man sich nicht dem Unverständnis des sozialen Umfeldes ausliefern, ausdrücklich begründet werden. Durch das Streben nach Kontinuität und Weiterentwicklung während des gesamten Lebens konnte ein starkes Sicherheitsgefühl entstehen, denn die Erfahrungen dienten den Menschen als richtungweisend und als Fundament für gegenwärtige und zukünftige Entscheidungen.

Dagegen entwickeln die Menschen um die Jahrhundertwende 2000 höchst unterschiedliche Vorstellungen über den Verlauf ihres Lebens. Zwar ist die oben beschriebene Perspektive auch heute noch für viele wichtig. Aber es gibt auch Menschen, die nach Diskontinuität streben, die keine langfristigen Ziele verfolgen und die eher in "Projekten" denken, als ihr gesamtes Leben vor Augen zu haben. Einige der Befragten beschrieben ihr Leben als eine Abfolge einzelner Lebensabschnitte, die völlig unabhängig voneinander existierten. Herr Pattini betonte sogar: "Du bist jederzeit ein anderer Mensch, nicht nur jeden Tag, in einem Tag sogar".

Andere fällten möglichst keine Entscheidungen, mit denen sie sich langfristig binden würden. Wieder andere handelten vor allem "projektbezogen", das heißt, sie konzentrierten sich voll auf ihre gegenwärtige Situation und agierten dabei, ohne auch nur einen Gedanken an mögliche Konsequenzen in der Zukunft zu "verschwenden". Diese "neuen" Strategien finden sich vor allem bei jenen, die Ungewissheit lieben und die sich keinen potenziellen zukünftigen Chancen durch vergangene Festlegungen verschließen wollen.

Befragte, die Unsicherheit negativ erlebten, und das waren die meisten, strebten auch um 2000 noch nach Langfristigkeit und Kontinuität. Allerdings sahen sie sich immer weniger in der Lage, ihr Leben auf ein Ziel hin auszurichten. Aufgrund einer als völlig ungewiss wahrgenommenen Zukunft fühlten sie sich oft unfähig, überhaupt eindeutige Zielvorstellungen zu entwickeln.

Eine wesentliche Strategie, Sicherheit im eigenen Lebensverlauf zu erzeugen, sahen die Menschen um 1900 darin, ihr Leben möglichst klar zu "ordnen" und zu systematisieren. Dieses Vorgehen schlug sich häufig in ihren Tagebüchern nieder. Dort wurden vergangene Ereignisse beispielsweise chronologisch oder nach Wichtigkeit sortiert, nummeriert, logisch stringent festgehalten und bewertet. Dies konnte dazu dienen, das eigene Leben überschaubarer und eindeutiger zu machen. Zudem konnten so die eigenen vergangenen Erfahrungen eine Orientierungshilfe bei neuen Zielsetzungen sein.

Diese "Logik der Ordnung" hat heute an Bedeutung verloren. Ein Grund dafür scheint zu sein, dass feste Strukturen auch als Einschränkung des eigenen Freiheitsraumes wahrgenommen werden. Ein anderer liegt wohl darin, dass der Glaube an allgemeingültige Regeln bzw. Konventionen fehlt, der die Grundlage einer Ordnung bilden kann. Die um 1900 lebenden Menschen waren davon überzeugt, dass es für jeden einen "richtigen" Lebensweg gäbe, den es anzustreben gälte. Auch wenn ihnen die Welt oft verworren und unklar erschien, so glaubten sie doch fest an den tieferen Sinn ihres Lebens. Sie versuchten, diesem "vorgezeichneten Weg" zu folgen: ihrem Leben durch diese Orientierung einen "roten Faden" zu verleihen, an dem sich alle ihre Handlungen, Überzeugungen und Lebensbereiche orientierten.

Der Glaube an diesen einen "richtigen" Lebensweg, der Halt und Sicherheit versprach, ist heute überwiegend nicht mehr vorhanden. Die Menschen sehen sich mit einer Vielfalt möglicher Lebenswege konfrontiert, zwischen denen sie wählen können, aber auch wählen müssen. Ein möglicher tieferer Sinn des eigenen Lebens scheint häufig zumindest unklar oder aber nicht vorhanden zu sein. Und auch der "rote Faden" im eigenen Lebensverlauf scheint kaum noch Bedeutung zu haben. Diskontinuitäten, Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen werden oft gar nicht als Problem empfunden, ein Hinweis darauf, dass sie inzwischen als selbstverständlich wahrgenommen und hingenommen werden.

Anhand der Lebensbeschreibungen der befragten Künstlerinnen und Künstlern lassen sich im historischen Vergleich - wie oben geschehen - zahlreiche Unterschiede, sowohl in der Wahrnehmung von Unsicherheit als auch im Umgang mit ihr belegen. Neben einer ganzen Reihe neuer Aspekte, die heute in die Gestaltung des Lebensverlaufs mit einfließen, zeigte sich allerdings auch, dass Bewältigungsstrategien, die in der Zeit der Jahrhundertwende um 1900 eine große Rolle spielten, ihre Bedeutung bis heute nicht verloren haben.

Fazit

Es bleibt zu resümieren, dass Unsicherheiten und Ungewissheiten, die den eigenen Lebensverlauf betreffen, heute überwiegend als tief greifender und umfassender wahrgenommen werden als um 1900. Dies spiegelt sich sowohl in den Interpretationen biographischer Unsicherheiten als auch in den Strategien ihrer Bewältigung wider.

Betrachtet man die Wahrnehmungen von Unsicherheit, so lässt sich um die Jahrhundertwende 2000 bis heute ein neues Interpretationsmuster belegen. Die Menschen sind in doppelter Weise irritiert: zum einen verunsichert durch die offene und ungewisse Zukunft, zum anderen durch das Problem, die Ursachen der Unsicherheiten nicht mehr erkennen zu können. Und wenn es nicht möglich scheint, deren Ursachen zu durchschauen, wird es umso schwieriger, geeignete Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Auch die Strategien, welche die Menschen heute im Umgang mit Unsicherheiten wählen, lassen darauf schließen, dass Ungewissheiten schärfer als in der Vergangenheit erlebt werden. Denn die Menschen scheinen immer weniger in der Lage zu sein, klare und eindeutige Lebenswege und -ziele für sich zu definieren. Und auch die Suche einiger nach "gültigen" gesellschaftlichen Regeln, die dem eigenen Leben Halt und Sicherheit versprechen könnten, scheint immer weniger von Erfolg gekrönt zu sein. Demzufolge zeigt sich heute eine unüberschaubare Vielfalt verschiedenster Lebensentwürfe und unterschiedlichster Strategien zur Bewältigung der Verunsicherungen.

Dieses Erleben gestiegener Ungewissheiten geht einher mit der Vermutung geringerer eigener Kontrollmöglichkeiten, ohne dass dabei allerdings die individuelle Verantwortung abgeschwächt würde. Vielmehr fühlen sich die Menschen heute in zunehmendem Maße gezwungen, ihren Lebensverlauf aktiv - und ohne Rückgriff auf gesellschaftliche Leitbilder - selbst zu gestalten, auch wenn sie die Folgen ihres Handelns immer weniger einschätzen und planen können und damit die Gefahr des Scheiterns mehr denn je zu bestehen scheint.

Bleibt noch die Frage nach der Ursache für den beschriebenen Wandel, der allerdings in dieser Untersuchung nicht nachgegangen wurde und die auch in der aktuellen wissenschaftlichen Debatte bislang ungeklärt blieb. Es ist nach wie vor offen, ob sich die verstärkten Verunsicherungen vor allem vor dem Hintergrund faktisch gestiegener Unsicherheiten ergeben haben oder ob sie das Ergebnis kultureller Umdeutungen sind.

Ein bedenklich stimmender Befund der Studie ist, dass heute ein erheblicher Teil der Befragten von Gefühlen der Belastung, der Überforderung und der zunehmenden sozialen Isolation heimgesucht wird. Zahlreiche Aussagen verweisen auf Gefühle der Hilflosigkeit in der eigenen Lebensführung und auf die Suche nach einfachen und klaren Lösungen. Dass diese Suche auch in einen Beitritt in extreme" - auch nationalistische - Gruppierungen münden kann, ist ein Problem, dass zunehmend auch in der Wissenschaft diskutiert wird.

Aber - und auch das ist ein wichtiges Ergebnis - die wahrgenommene gestiegene Ungewissheit führt heute nicht zwangsläufig zu persönlicher Verunsicherung. Sie kann auch zur Entlastung vom hohen Anspruch an die Gestaltung eines "gelungenen" Lebensverlaufs beitragen. Denn wenn dieses ignoriert wird, können sich die Menschen offenbar genussvoll der unmittelbaren Gegenwart zuwenden, die eine Vielzahl intensiver "Augenblicksgenüsse" bietet. Biographische Reflexionen können dann im "Hier und Jetzt" verfangen bleiben und haben keinen Einfluss auf zukünftiges Handeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 - 1918, München 1990.

  2. Wassily Kandinsky, Essays über Kunst und Künstler, Stuttgart 1955, S. 88.

  3. Vgl. Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985.

  4. Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992.

  5. Vgl. Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.

  6. Vgl. Arthur Imhof, Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Fünf historisch-demographische Studien, Darmstadt 1988.

  7. Vgl. Helga Pelizäus-Hoffmeister, Biographische Sicherheit im Wandel? Eine historisch vergleichende Analyse von Künstlerbiographien, Wiesbaden 2006.

  8. Um präzise Aussagen über die Wandlungstendenzen machen zu können, wurden in der Studie sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Jahrhundertwenden herausgearbeitet. Da in diesem Beitrag die Unterschiede im Vordergrund stehen, werden die zahlreichen Parallelen vernachlässigt, ohne dass damit behauptet werden soll, dass diese nicht existieren.

  9. Um die Anonymität der Befragten zu gewährleisten, sind die Namen der Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart frei erfunden.

  10. Vgl. zum Normallebenslauf Martin Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37 (1985), S. 1 - 29.

  11. Vgl. Wolfgang Bonß, Risiko und Angst - Zum Funktionswandel der Angst in der Risikogesellschaft, in: SOWI, Sozialwissenschaftliche Informationen, (1992) 2, S. 97f.

  12. Vgl. z.B. Heiner Keupp, Ambivalenzen postmoderner Identität, in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1994, oder Wilhelm Heitmeyer, Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Frankfurt/M. 2004.

Dr. rer. pol., geb. 1961; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Bundeswehr München, Professur für Allgemeine Soziologie, Werner-Heisenberg- Weg 39, 85577 Neubiberg.
E-Mail: E-Mail Link: Helga.pelizaeus-hoffmeister@unibw.de
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