Einleitung
Im anglophonen Bereich, vor allem in Großbritannien, den USA und Kanada, aber auch in skandinavischen Ländern, gehören Themen im Zusammenhang von "Gender and Ageing" seit langem selbstverständlich auf die Agenda der alter(n)swissenschaftlichen Diskussion: "Gender is a crucial organizing principle in society that profoundly shapes the experience of old age and aging and the distribution of resources to older women."
Dimensionen geschlechterspezifischen Alter(n)s werden dort vielseitig in ihrer individuellen Bedeutung ("gendered identities in old age"
Im deutschsprachigen Bereich - in Deutschland, Österreich und in der Schweiz - gibt es noch immer weit weniger wissenschaftliche Analysen zum Themenfeld "Geschlecht und Alter(n)", wobei sich in den Grundlinien ähnliche Ergebnisse wie in der oben genannten anglophonen Forschungstradition erkennen lassen. Eine gut überschaubare Zahl von Forschungen in diesem Themenfeld entwickelte sich in der Gerontologie und Alter(n)ssoziologie,
Blinde Flecken der Analyse
Dennoch zeigt sich für die deutschsprachige Frauen- und Geschlechterforschung ebenso wie für die hiesige Alter(n)sforschung eine im internationalen Vergleich auffallend schmale Bilanz hinsichtlich weiterreichender Analysen des Themenfeldes "Geschlecht und Alter(n)".
Erstens: In der Frauen- und in der Folge der Geschlechterforschung war Alter(n) bislang selten und eher nur am Rande ein Thema. Nach geschlechterspezifischen Unterschieden und Ungleichheiten im Alter und nach dem jeweils anderen Alternsprozess mit seinen individuellen und sozialen Implikationen wurde und wird dort selten gefragt. Zumindest waren diese Fragen nicht explizit Gegenstand weitergehender und in diesem Feld etablierter Forschung. Ähnlich wie Alter(n) lange Zeit in der Soziologie nur am Rande thematisiert wurde, blieb es bislang im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung marginal und wird erst jetzt langsam entdeckt.
Zweitens: Gleichzeitig wurden in der Gerontologie gesellschaftlich und damit wissenschaftlich relevante Alter(n)sprobleme bei Frauen lange Zeit nahezu ausgeschlossen, oder sie blieben zumindest verdeckt. Insbesondere in der sozialwissenschaftlichen Gerontologie ging die Betrachtung des Alter(n)s mit einer einseitigen Konzentration auf das verallgemeinerte männliche Alter(n), auf das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und dessen Konsequenzen, einher. Individuelle und soziale Alter(n)sprobleme galten als primär vermittelt über männliche Vergesellschaftung und deren mit dem Alter(n) einhergehende Veränderungen, insbesondere mit dem Eintritt in den so genannten Ruhestand. Gemäß der lange vorherrschenden funktionalistisch begründeten Alter(n)stheorien hatte sich dabeiein neues Gleichgewicht zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen einzustellen:
Fazit: Hinsichtlich des Themas "Geschlecht und Alter(n)" bleiben weiterhin blinde Flecken und oberflächliche Perspektiven:
So geschieht die geschlechterspezifische Differenzierung entweder primär auf einer deskriptiven Ebene, etwa der Beschreibung ungleicher Lebensdauer (hier interessiert immer wieder die Frage, weshalb Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer) und ungleicher Betroffenheit von sozialen Problemen im (hohen) Alter.
Oder sie bedeutet Konzentration auf das "weibliche" Alter(n) im Sinne des Alter(n)s von Frauen, was durch deren weitaus höheren Anteil und die stärkere Betroffenheit von sozialen Problemen im Alter gerechtfertigt erscheint.
Man spricht vom "feminisierten Alter",
was durch den höheren Frauenanteil, aber auch dadurch zuzutreffen scheint, dass weibliche Vergesellschaftungsformen scheinbar das Leben im Alter bestimmen. Männern wird sogar eine Angleichung an weibliche Vergesellschaftungsformen im Alter zugeschrieben, da ihre geschlechtstypische Vergesellschaftungsform über Erwerbsarbeit mit den Eintritt ins Alter beendet sei. Tiefergehende empirische wie theoretische Analysen des Geschlechterverhältnisses im Lebens(ver)lauf und dessen Auswirkungen auf die Lebenslagen beider Geschlechter bis ins Alter, aber auch der Bedeutung der Dimension "Geschlecht und Alter(n)" für die Sozialstruktur in sich wandelnden Gesellschaften werden bislang vernachlässigt.
Stattdessen werden vielfach mit sozialen Problemen alter und hochbetagter Frauen einhergehende gesellschaftliche Belastungen und Kosten (etwa durch Pflege) betont. Der hohe Anteil von Frauen an der Gruppe der durch starkes Ansteigen von Multimorbidität, Demenzerkrankungen und Pflegebedürftigkeit gekennzeichneten Hochaltrigen wird in einer Kostenbilanz mit der kürzeren Lebensdauer von Männern verglichen und eine höhere Belastung des sozialen Umfelds und der Gesellschaft konstatiert. Dabei werden in aller Regel nur die öffentlich sichtbaren Lasten und Ressourcen betrachtet und privat erbrachte (z.B. betreuende, pflegende) Leistungen von Frauen, die öffentliche Leistungen ergänzen und zum Teil ersetzen, vernachlässigt. Demgegenüber werden nachberufliche Tätigkeitsressourcen bei Männern in den Vordergrund der Überlegungen gestellt.
Diese Art der Zuschreibung lässt - auch wenn dies unbeabsichtigt geschieht - Frauen im Alter eher als Last, Männer hingegen als Ressource erscheinen.
Insgesamt zeigt sich: Die vielschichtigen Bedeutungsgehalte, die dem weiblichen und männlichen Geschlecht für das Alter(n) und "Geschlecht und Alter(n)" als Strukturmerkmal der Gesellschaft mit Konsequenzen für die Lebenslagen bis ins Alter zukommen, werden im deutschsprachigen Bereich bislang eher undifferenziert, unzureichend und kaum im Gesamtkontext ihrer Entstehung und Bedeutung thematisiert. Dies steht in einem eigenartigen Kontrast zu der bereits recht populären Erkenntnis, dass "das Alter weiblich", das heißt, zumindest quantitativ, wenn nicht gar qualitativ eher von Frauen geprägt sei.
Soziale Ungleichheiten
Das Alter(n) ist für Frauen in den meisten Gesellschaften, so auch in der deutschen, mit einem zweifachen Risiko hinsichtlich der Lebensqualität verbunden: Mit dem Alter strukturell einhergehende soziale Gefährdungen treffen mit geschlechtsspezifischen sozialen Gefährdungen zusammen und schlagen sich heute bei alten Frauen häufiger als bei alten Männern in sozialen Problemen nieder. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Beschäftigungschancen und die Qualität und den Umfang des Eingebundenseins in die Gesellschaft, auf materielle Sicherung und Unabhängigkeit, auf sozialen Status, Entlastungs- und Schutz- wie Belastungswirkungen der sozialen Vernetzung. Es gilt im Hinblick auf Gesundheits- und Versorgungschancen wie auf soziale und materielle Qualitätsbedingungen in der Pflege, vor allem im hohen Alter.
Geschlechterspezifische Arbeitsteilung bedeutet für die Mehrzahl der heute alten Frauen, dass die zur Ernährerrolle komplementäre Familienrolle - trotz anderer Erfahrungen während des Krieges und unmittelbar danach - für ihre Lebensgestaltung bestimmend war und es zum Teil noch ist. Erwerbsarbeit hatte - so die gängige Norm und Vorstellung - zumindest nicht in erster Linie der eigenständigen Existenzsicherung zu dienen. Die ,alten` bzw. ,traditionalen` Risiken waren die der primären Ehe- und Familienbindung und der entsprechenden Abhängigkeit der Existenzsicherung und häufig auch Sinngebung. Damit einher ging und geht eine Gefährdung der materiellen wie auch sozialen und psychischen Dimensionen der Lebenslage, insbesondere im Hinblick auf das (hohe) Alter. So wird in Studien zu Frauen im Alter durchgängig darauf hingewiesen, dass eine Konzentration auf Ehe und Familie nicht nur Armut im Alter begünstigt, sondern häufig auch zu gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen führt, dass - etwas verkürzt formuliert - qualifizierte und kontinuierliche Berufsarbeit auch bei Frauen mit Kindern die beste Prävention gegenüber sozial problematischem Alter(n) ist.
Nicht nur auf Grund kriegsbedingter Verluste auf Seiten der Männer, sondern vor allem auf Grund der höheren Lebenserwartung von Frauen leben heute bei uns weitaus mehr ältere und alte Frauen als Männer. Zwei Drittel der über 60-Jährigen und drei Viertel der über 75-Jährigen sind Frauen. Dabei ist das Verhältnis bei den 60- bis unter 65-Jährigen noch annähernd ausgeglichen, während bei den 85-Jährigen und älteren mit mehr als drei Viertel Frauen eine eklatante Geschlechterdifferenz auffällt.
Trotz vordergründiger Plausibilität der These von der Angleichung der Lebensweisen im Alter leben Frauen und Männer auch im Alter verschieden und in ungleichen sozialen Lagen
Auf folgende soziale Geschlechterunterschiede im Alter sei verwiesen: Einerseits ist bei Frauen im Alter die Wahrscheinlichkeit, von einer sozial problematischen Lebenslage betroffen zu sein, höher als bei Männern. Frauen sind häufiger materiell eingeschränkt, alleinlebend bei eher prekärer materieller und immaterieller Ausstattung. Sie müssen mehrheitlich dazuverdienen oder - mehr oder weniger freiwillig - familiale Leistungen erbringen, die ihrer gesundheitlichen, aber auch sozialen Situation nicht angemessen sind. Sie sind häufiger chronisch krank, leben aber länger, so dass sie nicht selten auf institutionelle Hilfe bis hin zum (Pflege-)Heimaufenthalt angewiesen sind.
Andererseits ist Alter bei Frauen auch durch Vorzüge und bei Männern durch Nachteile geprägt, die mit ihrem geschlechtsspezifischen Lebenslauf einhergehen und bis in die alterstypischen Umorientierungen hineinwirken. So sind Frauen - wohl auf Grund der mit dem weiblichen Lebenslauf verbundenen, vermehrt auftretenden Notwendigkeit der Umstellung und Vereinbarung von Widersprüchen - häufig besser in der Lage, Veränderungen und Verluste zu verarbeiten; empirische Studien bestätigen diese Annahme.
Auffallend ist die bei Frauen im Alter besonders ausgeprägte Pluralität, Heterogenität und Differenzierung von Lebenslagen, Lebensstilen und Umgangsformen mit dem Alter(n). Auch hier zeigt sich die Konsequenz der besonderen Heterogenität weiblicher Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Lebensverlauf. Weitaus weniger als bei jetzt alten Männern kann hier von einer so genannten "Normalbiografie", nicht einmal einer "typisch weiblichen", gesprochen werden.
Das Ende der Berufsarbeit konfrontiert Männer mit einer für sie neuen, primär weiblich strukturierten Vergesellschaftung. Hieraus auf eine Angleichung der Lebenslagen und ein "Verweiblichen" der Männer "in ihren psychischen (oder sozialen, G.B.) Merkmalen"
Ausblick
Im Sinne von forschungsleitenden Vorüberlegungen könnte sich eine weitere Bearbeitung der Thematik "Geschlecht und Alter(n)" meines Erachtens sinnvoll vor allem auf folgende Erkenntnisse und Thesen stützen: Im Lebenslauf angelegte Geschlechterverhältnisse setzen sich - entgegen der These von der Angleichung der Geschlechter und einer oberflächlichen Interpretation der These einer Feminisierung des Alters - bis ins Alter hinein fort. Geschlecht wird auch im Lebensverlauf "gemacht", ebenso wie Alter(n). Und: Im hohen Alter erfahren die im Lebenslauf angelegten Geschlechterverhältnisse und die damit einhergehende Hierarchie der Lebenslagechancen eine Zuspitzung. Die hierarchische Komplementarität der geschlechtsspezifischen Vergesellschaftungsweisen zeigt sich hier verstärkt in widersprüchlicher Form. Diese drückt sich beispielsweise darin aus, dass alte Frauen einmal als "Alterslast", ein anderes Mal als "Altersressource" betrachtet werden.
Geschlechterrollen erfahren Veränderung. Dieser Prozess hat in modernen Gesellschaften bereits jetzt einen nicht unerheblichen Einfluss auf Altern und Alter und wird diesen zukünftig noch stärker haben: Wenn beispielsweise Frauen- und Männerrollen sich hinsichtlich familialer Aufgaben wandeln, bleibt dies - abgesehen von den Wirkungen innerhalb privater Netze und Biografien - nicht ohne Konsequenzen etwa für die Sozial- und Familienpolitik und letztlich für die Gesellschaftspolitik. In ihrer Funktion als Orientierung im Lebensverlauf erweisen sich die traditionellen Geschlechterrollen mittlerweile als brüchig, zumindest als riskant, widersprüchlich und ambivalent.
Frauen können sich nicht bis ins hohe Alte hinein auf die ,subventionierte Hausfrauenehe` und eine ihr entsprechende soziale Sicherung oder gar auf die sinnstiftenden Ressourcen der Frauen- und Mutterrolle verlassen.
Mit zunehmender Diskontinuität des Erwerbslebens, Infragestellung der Ernährerrolle und gewandelten Frauenrollen verändert sich auch für Männer die vormals weitgehend verlässliche Perspektive der Lebensführung und sozialen Sicherung bis ins (hohe) Alter.
Gleichzeitig kann sich das Gros der Frauen (noch) nicht auf kontinuierliche qualifizierte Erwerbsintegration und ihr entsprechende materielle und soziale Sicherung oder gar psychosoziale Alter(n)schancen verlassen.
Für Männer ist diese Orientierung am so genannten Normallebenslauf immer seltener möglich. Dies gilt vor allem bei sich verändernden Bedingungen am Arbeitsmarkt.
Auch der steigende Anteil an Singles und Einpersonenhaushalten gerade im mittleren und höheren Lebensalter geht Hand in Hand mit einem Geschlechterrollenwandel, sodass insgesamt eine veränderte Lebensgestaltung bis ins Alter hinein notwendig ist und auch bereits praktiziert wird.
Für die Frauen-, Geschlechter- und Alter(n)sforschung wirft das Feld der Geschlechterbeziehungen und -verhältnisse und des Bezugs von Geschlecht und Alter(n) zahlreiche Fragen auf:
Was die theoretische Fundierung anbelangt, so liegen Anleihen vor allem innerhalb der Ansätze zur Geschlechterarbeitsteilung, der Geschlechterkonstruktion und der Komplementarität weiblicher und männlicher Lebensverläufe und Handlungsmuster nahe. Hinsichtlich einer fundierten empirischen Analyse wäre neben gezielten Studien die Einrichtung eines Survey zu Lebenslagen der Geschlechter im Lebensverlauf sinnvoll.
Analysen sollten sich beispielsweise auf sich verändernde Alter(n)srisiken und Alter(n)schancen von Frauen und Männern im Kontext geschlechtsspezifischer Lebens- und Arbeitsverhältnisse sowie auf deren gesellschaftliche Auswirkungen konzentrieren. Dies würde bedeuten, die Situation heute alter Frauen und Männer in einen systematischen Zusammenhang mit ihren kohorten- und gesellschafts-, klassen- und geschlechterspezifischen Lebensrisiken und -chancen zu bringen. Und diese wären den sich abzeichnenden Alter(n)srisiken und -chancen künftig alter Frauen und Männer gegenüberzustellen und auf ihre Folgen hin zu prüfen. Anhaltspunkte für eine Prognose künftigen Alter(n)s von Frauen und Männern fänden sich in der Betrachtung ihrer Integration in Arbeit, Beruf, Familie und sonstige Bereiche. Neben Art, Umfang und Form der Arbeit und sozialer Beziehungen wären dabei vor allem qualitative Aspekte, beispielsweise Unvereinbarkeiten und Widersprüche, Einflüsse auf körperliche, geistige und psychische wie soziale Entwicklungs- und Verschleißprozesse, von Bedeutung.
Insgesamt darf einer umfassenden und zügigen Entwicklung der Forschung im Themenfeld "Alter(n) und Geschlecht" ohne jeden Zweifel eine hohe wissenschaftliche wie gesellschaftspolitische Relevanz zugeschrieben werden. Dabei sind Alter(n)sforschung wie Geschlechterforschung gleichermaßen angesprochen und hinsichtlich ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zu Interdisziplinarität und Transdisziplinarität gefordert.