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Alter(n) und Geschlecht: ein Thema mit Zukunft | Alter und Altern | bpb.de

Alter und Altern Editorial Warum wir nicht mehr älter werden - Essay Zur Veränderung des Altersbildes in Deutschland Die große Alterswende Zur Bedeutung von Altersstereotypen Alter(n) und Geschlecht: ein Thema mit Zukunft

Alter(n) und Geschlecht: ein Thema mit Zukunft

Gertrud M. Backes

/ 17 Minuten zu lesen

Frauen leben länger als Männer, scheinen Veränderungen besser zu bewältigen und sind gleichzeitig - vor allem im hohen Alter - stärker von gesundheitlichen und sozialen Einbußen und Verlusten betroffen.

Einleitung

Im anglophonen Bereich, vor allem in Großbritannien, den USA und Kanada, aber auch in skandinavischen Ländern, gehören Themen im Zusammenhang von "Gender and Ageing" seit langem selbstverständlich auf die Agenda der alter(n)swissenschaftlichen Diskussion: "Gender is a crucial organizing principle in society that profoundly shapes the experience of old age and aging and the distribution of resources to older women."

Dimensionen geschlechterspezifischen Alter(n)s werden dort vielseitig in ihrer individuellen Bedeutung ("gendered identities in old age") wie auch als Dimension von Sozialstruktur in sich wandelnden Gesellschaften untersucht ("Patriarchy and the sex/gender system"). Es geht um "Gender roles as structured inequality" und "Social construction of gender" ebenso wie um "Putting gender in life course context" und um "The body, gender, and age", um nur wenige Beispiele des sehr breiten thematischen Spektrums zu nennen. Und in einer 2003 in England erschienenen Monographie zum Thema: "Social theory, social policy and ageing. A critical introduction" von Carroll L. Estes, Simon Biggs und Chris Phillipson steht neben Themen wie "The politics of ageing", "Ageing and globalization", "Age and identity" oder "Productive ageing, self-surveillance and social policy" das Thema: "Feminist perspectives and old age policy" gleichermaßen mit auf der Agenda. Dabei geht es um Fragen der feministischen Erkenntnistheorie und Perspektiven auf Alter, Sozialpolitik und Staat, um feministische Ökonomie, Theorien der männlichen Herrschaft, um Ideologie, Gender und soziale Bewegungen wie auch um feministische Transformation und Alterspolitik.

Im deutschsprachigen Bereich - in Deutschland, Österreich und in der Schweiz - gibt es noch immer weit weniger wissenschaftliche Analysen zum Themenfeld "Geschlecht und Alter(n)", wobei sich in den Grundlinien ähnliche Ergebnisse wie in der oben genannten anglophonen Forschungstradition erkennen lassen. Eine gut überschaubare Zahl von Forschungen in diesem Themenfeld entwickelte sich in der Gerontologie und Alter(n)ssoziologie, zum Teil auch in der feministischen Kritik der Sozialsysteme als Teil der Frauen- und Geschlechterforschung. Erste weitergehende Ansätze finden sich etwa in der Auseinandersetzung mit den "Auswirkungen weiblicher Langlebigkeit auf Lebensformen und Generationenbeziehungen" und neuerdings auch in der Betrachtung des "anderen" Alter(n)s von Männern sowie des Übergangs von Frauen vom Erwerbsleben in den Ruhestand. Mittlerweile ist "Geschlecht" zumindest als durchgängig notwendiges Unterscheidungsmerkmal auch bezüglich des Alter(n)s anerkannt (exemplarisch hierfür sind die Berichte der Enquête-Kommission "Demografischer Wandel" oder die bisherigen fünf Altenberichte der Bundesregierung). Was die Notwendigkeit dieser Differenzierung wie auch eine weitergehende Analyse anbelangt, so sprechen Zahlen und Fakten eine klare Sprache. Als wissenschaftlich wie politisch unzulässig gälte es, der Dimension "Soziales Geschlecht/Gender" bei der Betrachtung des Alter(n)s keine Beachtung zu schenken. Dabei wird sie mancherorts bereits durch die Dimension "Diversity" ersetzt, ohne dass die Konsequenzen dieser Entwicklung für eine angemessene Analyse der Thematik "Geschlecht und Alter(n)" bereits immer hinreichend bedacht worden wären.

Blinde Flecken der Analyse

Dennoch zeigt sich für die deutschsprachige Frauen- und Geschlechterforschung ebenso wie für die hiesige Alter(n)sforschung eine im internationalen Vergleich auffallend schmale Bilanz hinsichtlich weiterreichender Analysen des Themenfeldes "Geschlecht und Alter(n)".

Erstens: In der Frauen- und in der Folge der Geschlechterforschung war Alter(n) bislang selten und eher nur am Rande ein Thema. Nach geschlechterspezifischen Unterschieden und Ungleichheiten im Alter und nach dem jeweils anderen Alternsprozess mit seinen individuellen und sozialen Implikationen wurde und wird dort selten gefragt. Zumindest waren diese Fragen nicht explizit Gegenstand weitergehender und in diesem Feld etablierter Forschung. Ähnlich wie Alter(n) lange Zeit in der Soziologie nur am Rande thematisiert wurde, blieb es bislang im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung marginal und wird erst jetzt langsam entdeckt.

Zweitens: Gleichzeitig wurden in der Gerontologie gesellschaftlich und damit wissenschaftlich relevante Alter(n)sprobleme bei Frauen lange Zeit nahezu ausgeschlossen, oder sie blieben zumindest verdeckt. Insbesondere in der sozialwissenschaftlichen Gerontologie ging die Betrachtung des Alter(n)s mit einer einseitigen Konzentration auf das verallgemeinerte männliche Alter(n), auf das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und dessen Konsequenzen, einher. Individuelle und soziale Alter(n)sprobleme galten als primär vermittelt über männliche Vergesellschaftung und deren mit dem Alter(n) einhergehende Veränderungen, insbesondere mit dem Eintritt in den so genannten Ruhestand. Gemäß der lange vorherrschenden funktionalistisch begründeten Alter(n)stheorien hatte sich dabeiein neues Gleichgewicht zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen einzustellen: entweder durch Disengagement, durch weitere Aktivität oder durch Kontinuität. Bei Frauen - so die häufig nicht einmal explizierte Annahme - sei dies aufgrund ihrer fortbestehenden "typisch weiblichen" Vergesellschaftung über reproduktive, informelle Bereiche, wie Hausarbeit und Familie, kaum erforderlich. Ihnen bleibe der für sie typische und relevante Aufgabenbereich bis ins Alter erhalten; insofern gebe es keine entsprechenden Alter(n)sprobleme. Allenfalls innerhalb der Geriatrie wurden besondere Probleme des Alter(n)s bei Frauen häufiger thematisiert (Multimorbidität im hohen Alter, Pflegebedürftigkeit). Die gesellschaftlichen und individuellen Auswirkungen des Strukturmerkmals Geschlecht im Zusammenwirken mit Alter(n) - etwa des deutlich höheren Anteils von Frauen im hohen Lebensalter - waren erst recht kein hinreichend und angemessen bearbeitetes Thema deutschsprachiger Alter(n)swissenschaft oder Frauen- und Geschlechterforschung.

Fazit: Hinsichtlich des Themas "Geschlecht und Alter(n)" bleiben weiterhin blinde Flecken und oberflächliche Perspektiven:

  • So geschieht die geschlechterspezifische Differenzierung entweder primär auf einer deskriptiven Ebene, etwa der Beschreibung ungleicher Lebensdauer (hier interessiert immer wieder die Frage, weshalb Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer) und ungleicher Betroffenheit von sozialen Problemen im (hohen) Alter.

  • Oder sie bedeutet Konzentration auf das "weibliche" Alter(n) im Sinne des Alter(n)s von Frauen, was durch deren weitaus höheren Anteil und die stärkere Betroffenheit von sozialen Problemen im Alter gerechtfertigt erscheint.

  • Man spricht vom "feminisierten Alter", was durch den höheren Frauenanteil, aber auch dadurch zuzutreffen scheint, dass weibliche Vergesellschaftungsformen scheinbar das Leben im Alter bestimmen. Männern wird sogar eine Angleichung an weibliche Vergesellschaftungsformen im Alter zugeschrieben, da ihre geschlechtstypische Vergesellschaftungsform über Erwerbsarbeit mit den Eintritt ins Alter beendet sei.

  • Tiefergehende empirische wie theoretische Analysen des Geschlechterverhältnisses im Lebens(ver)lauf und dessen Auswirkungen auf die Lebenslagen beider Geschlechter bis ins Alter, aber auch der Bedeutung der Dimension "Geschlecht und Alter(n)" für die Sozialstruktur in sich wandelnden Gesellschaften werden bislang vernachlässigt.

  • Stattdessen werden vielfach mit sozialen Problemen alter und hochbetagter Frauen einhergehende gesellschaftliche Belastungen und Kosten (etwa durch Pflege) betont. Der hohe Anteil von Frauen an der Gruppe der durch starkes Ansteigen von Multimorbidität, Demenzerkrankungen und Pflegebedürftigkeit gekennzeichneten Hochaltrigen wird in einer Kostenbilanz mit der kürzeren Lebensdauer von Männern verglichen und eine höhere Belastung des sozialen Umfelds und der Gesellschaft konstatiert. Dabei werden in aller Regel nur die öffentlich sichtbaren Lasten und Ressourcen betrachtet und privat erbrachte (z.B. betreuende, pflegende) Leistungen von Frauen, die öffentliche Leistungen ergänzen und zum Teil ersetzen, vernachlässigt. Demgegenüber werden nachberufliche Tätigkeitsressourcen bei Männern in den Vordergrund der Überlegungen gestellt. Diese Art der Zuschreibung lässt - auch wenn dies unbeabsichtigt geschieht - Frauen im Alter eher als Last, Männer hingegen als Ressource erscheinen.

Insgesamt zeigt sich: Die vielschichtigen Bedeutungsgehalte, die dem weiblichen und männlichen Geschlecht für das Alter(n) und "Geschlecht und Alter(n)" als Strukturmerkmal der Gesellschaft mit Konsequenzen für die Lebenslagen bis ins Alter zukommen, werden im deutschsprachigen Bereich bislang eher undifferenziert, unzureichend und kaum im Gesamtkontext ihrer Entstehung und Bedeutung thematisiert. Dies steht in einem eigenartigen Kontrast zu der bereits recht populären Erkenntnis, dass "das Alter weiblich", das heißt, zumindest quantitativ, wenn nicht gar qualitativ eher von Frauen geprägt sei.

Soziale Ungleichheiten

Das Alter(n) ist für Frauen in den meisten Gesellschaften, so auch in der deutschen, mit einem zweifachen Risiko hinsichtlich der Lebensqualität verbunden: Mit dem Alter strukturell einhergehende soziale Gefährdungen treffen mit geschlechtsspezifischen sozialen Gefährdungen zusammen und schlagen sich heute bei alten Frauen häufiger als bei alten Männern in sozialen Problemen nieder. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Beschäftigungschancen und die Qualität und den Umfang des Eingebundenseins in die Gesellschaft, auf materielle Sicherung und Unabhängigkeit, auf sozialen Status, Entlastungs- und Schutz- wie Belastungswirkungen der sozialen Vernetzung. Es gilt im Hinblick auf Gesundheits- und Versorgungschancen wie auf soziale und materielle Qualitätsbedingungen in der Pflege, vor allem im hohen Alter.

Geschlechterspezifische Arbeitsteilung bedeutet für die Mehrzahl der heute alten Frauen, dass die zur Ernährerrolle komplementäre Familienrolle - trotz anderer Erfahrungen während des Krieges und unmittelbar danach - für ihre Lebensgestaltung bestimmend war und es zum Teil noch ist. Erwerbsarbeit hatte - so die gängige Norm und Vorstellung - zumindest nicht in erster Linie der eigenständigen Existenzsicherung zu dienen. Die ,alten` bzw. ,traditionalen` Risiken waren die der primären Ehe- und Familienbindung und der entsprechenden Abhängigkeit der Existenzsicherung und häufig auch Sinngebung. Damit einher ging und geht eine Gefährdung der materiellen wie auch sozialen und psychischen Dimensionen der Lebenslage, insbesondere im Hinblick auf das (hohe) Alter. So wird in Studien zu Frauen im Alter durchgängig darauf hingewiesen, dass eine Konzentration auf Ehe und Familie nicht nur Armut im Alter begünstigt, sondern häufig auch zu gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen führt, dass - etwas verkürzt formuliert - qualifizierte und kontinuierliche Berufsarbeit auch bei Frauen mit Kindern die beste Prävention gegenüber sozial problematischem Alter(n) ist.

Nicht nur auf Grund kriegsbedingter Verluste auf Seiten der Männer, sondern vor allem auf Grund der höheren Lebenserwartung von Frauen leben heute bei uns weitaus mehr ältere und alte Frauen als Männer. Zwei Drittel der über 60-Jährigen und drei Viertel der über 75-Jährigen sind Frauen. Dabei ist das Verhältnis bei den 60- bis unter 65-Jährigen noch annähernd ausgeglichen, während bei den 85-Jährigen und älteren mit mehr als drei Viertel Frauen eine eklatante Geschlechterdifferenz auffällt.

Trotz vordergründiger Plausibilität der These von der Angleichung der Lebensweisen im Alter leben Frauen und Männer auch im Alter verschieden und in ungleichen sozialen Lagen - ihre Lebenslagen und Lebensstile unterscheiden sich in sozial ungleicher Weise hierarchisch nach Geschlecht. Hinzu kommen andere sozialstrukturelle Differenzierungen, wie Klasse/Schicht, Kohorte, Region oder Nationalität, die sich mit der Geschlechterlage in jeweils spezifischer Weise verbinden. Die "weiblichen" und "männlichen" Lebensläufe und Vergesellschaftungsweisen finden offensichtlich im Alter ihre Fortsetzung, wenn auch auf quantitativ wie qualitativ anderem Niveau. Erkennbar wird dies etwa daran, dass Männer häufiger in nachberuflichen Tätigkeiten eine modifizierte Fortsetzung ihres Berufs anstreben, während Frauen sich eher auf die Haus- und Familienarbeit konzentrieren, außerdem daran, dass Männer meist besser eigenständig sozial abgesichert sind als Frauen.

Auf folgende soziale Geschlechterunterschiede im Alter sei verwiesen: Einerseits ist bei Frauen im Alter die Wahrscheinlichkeit, von einer sozial problematischen Lebenslage betroffen zu sein, höher als bei Männern. Frauen sind häufiger materiell eingeschränkt, alleinlebend bei eher prekärer materieller und immaterieller Ausstattung. Sie müssen mehrheitlich dazuverdienen oder - mehr oder weniger freiwillig - familiale Leistungen erbringen, die ihrer gesundheitlichen, aber auch sozialen Situation nicht angemessen sind. Sie sind häufiger chronisch krank, leben aber länger, so dass sie nicht selten auf institutionelle Hilfe bis hin zum (Pflege-)Heimaufenthalt angewiesen sind. Während sie ihre Männer bis zum Tod betreuen und pflegen, stehen ihnen derartige Hilfen seltener zur Verfügung. Sie beschließen ihr Leben mehrheitlich als Witwe oder Alleinlebende. Bis dahin müssen sie sich häufiger grundlegend umorientieren, etwa den Auszug der Kinder, das Ende der eigenen Berufsarbeit, das Ende der Arbeit des Mannes, dessen Krankheit und eventuelle Pflegebedürftigkeit, seinen Tod und schließlich ihre eigene nachlassende Selbständigkeit und zunehmende Hilfebedürftigkeit verarbeiten. Männer hingegen sind im Alter vergleichsweise seltener und weniger stark von sozialen Problemen betroffen: Sie sind materiell besser gesichert und entsprechend besser versorgt, gehen eher außerhäusigen Beschäftigungen und Engagementformen nach, die ihren Vorstellungen entsprechen, werden im Pflegefall häufiger zu Hause von der eigenen Partnerin gepflegt und bleiben seltener - nach Trennung/Scheidung oder nach dem Tod der Partnerin - allein zurück.

Andererseits ist Alter bei Frauen auch durch Vorzüge und bei Männern durch Nachteile geprägt, die mit ihrem geschlechtsspezifischen Lebenslauf einhergehen und bis in die alterstypischen Umorientierungen hineinwirken. So sind Frauen - wohl auf Grund der mit dem weiblichen Lebenslauf verbundenen, vermehrt auftretenden Notwendigkeit der Umstellung und Vereinbarung von Widersprüchen - häufig besser in der Lage, Veränderungen und Verluste zu verarbeiten; empirische Studien bestätigen diese Annahme. Männer scheinen beim Wechsel in die bislang ungewohnte Lebensweise ohne die Strukturierung durch Erwerbsarbeit zumindest anfangs größere Probleme zu haben. Gleichzeitig verfügen sie über durch die Erwerbsarbeit erworbene Ressourcen (insbesondere Geld, Qualifikation, Kompetenzen, aber auch soziale Netze), die ihnen die Umgestaltung ihrer Lebensweise eher erleichtern. Und sie sind meist freier von familialen Verpflichtungen (die Pflege von Partnern oder anderer älterer Familienangehöriger oder verpflichtend übernommene Betreuung von Enkeln lastet seltener auf ihnen), die sie an der Entfaltung neuer Interessen und an der Realisierung angestrebter Tätigkeiten hindern.

Auffallend ist die bei Frauen im Alter besonders ausgeprägte Pluralität, Heterogenität und Differenzierung von Lebenslagen, Lebensstilen und Umgangsformen mit dem Alter(n). Auch hier zeigt sich die Konsequenz der besonderen Heterogenität weiblicher Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Lebensverlauf. Weitaus weniger als bei jetzt alten Männern kann hier von einer so genannten "Normalbiografie", nicht einmal einer "typisch weiblichen", gesprochen werden. Grundsätzlich stellt das Alter für Frauen eine doppelt sozial gefährdende Lebensphase dar. Für sie geht damit noch stärker als in anderen Lebensphasen und eher als für Männer die Gefahr einer sozial problematischen Lebenslage einher. Allerdings konkretisiert sich diese soziale Gefährdung - je nach anderen sozialstrukturierenden Merkmalen wie insbesondere Klassenlage und Milieu, Kohortenzugehörigkeit, Familienstand, Gesundheit, Ethnie bzw. Nationalität und Region - in sozial ungleicher und individuell verschiedener Weise. Eine Kumulation von Benachteiligungen findet sich häufig bei Arbeiterwitwen ohne oder mit nur geringfügiger beruflicher Qualifikation und mit diskontinuierlichem Erwerbsverlauf in ungeschützten, schlecht bezahlten und gesundheitlich beeinträchtigenden Arbeitsverhältnissen, mit längeren Zeiten der Erwerbslosigkeit und der Mehrfachbelastung durch Familien- und außerhäusige Arbeit. Eine Kumulation von Vorteilen findet sich eher bei Männern mit kontinuierlicher, hoch qualifizierter Berufsarbeit, entsprechendem Einkommen, Prestige und Einfluss sowie sonstigen damit verbundenen Ressourcen (der Bildung, der sozialen Vernetzung), die sich in der Regel bis ins Alter hinein positiv auf ihre Lebenslage auswirken.

Das Ende der Berufsarbeit konfrontiert Männer mit einer für sie neuen, primär weiblich strukturierten Vergesellschaftung. Hieraus auf eine Angleichung der Lebenslagen und ein "Verweiblichen" der Männer "in ihren psychischen (oder sozialen, G.B.) Merkmalen" zu schließen, greift meines Erachtens jedoch zu kurz. Es verweist auf eine theoretische Vernachlässigung der hierarchisch komplementären Geschlechterverhältnisse bis ins Alter: Denn diese veränderte Vergesellschaftung der Männer ist in der biografischen Perspektive ihrer "Normalbiografie" bereits enthalten. Entsprechend sind Kompensationsmechanismen ,eingebaut`: Auch für die Bewältigung dieser Umstellung stehen ihnen meist hinreichend (materielle und soziale) Ressourcen zur Verfügung (wobei die sozialen Ressourcen in der Regel von den Frauen gestellt werden). Einem Neubeginn mittels so genannter nachberuflicher Tätigkeiten stehen Männern - im Unterschied zu vielen Frauen - familiale, selbst gesetzte oder akzeptierte Verpflichtungen nur in den seltensten Fällen entgegen. Auf Grund ihrer bisherigen Vergesellschaftung müssen sich die wenigsten Männer mit dem Tatbestand eines hohen Alters als Alleinstehende oder gar im (Pflege-)Heim auseinander setzen, sind sie doch in den meisten Fällen in materieller und sozialer Hinsicht besser als Frauen vor sozialen Problemen im Alter geschützt. Auch hier existiert - wie bei Frauen - je nach konkreter Vergesellschaftung im Lebenslauf ein differenziertes Bild, das jedoch die beschriebene Grundstruktur der Geschlechterverhältnisse auch im Alter nicht in Frage stellt.

Ausblick

Im Sinne von forschungsleitenden Vorüberlegungen könnte sich eine weitere Bearbeitung der Thematik "Geschlecht und Alter(n)" meines Erachtens sinnvoll vor allem auf folgende Erkenntnisse und Thesen stützen: Im Lebenslauf angelegte Geschlechterverhältnisse setzen sich - entgegen der These von der Angleichung der Geschlechter und einer oberflächlichen Interpretation der These einer Feminisierung des Alters - bis ins Alter hinein fort. Geschlecht wird auch im Lebensverlauf "gemacht", ebenso wie Alter(n). Und: Im hohen Alter erfahren die im Lebenslauf angelegten Geschlechterverhältnisse und die damit einhergehende Hierarchie der Lebenslagechancen eine Zuspitzung. Die hierarchische Komplementarität der geschlechtsspezifischen Vergesellschaftungsweisen zeigt sich hier verstärkt in widersprüchlicher Form. Diese drückt sich beispielsweise darin aus, dass alte Frauen einmal als "Alterslast", ein anderes Mal als "Altersressource" betrachtet werden.

Geschlechterrollen erfahren Veränderung. Dieser Prozess hat in modernen Gesellschaften bereits jetzt einen nicht unerheblichen Einfluss auf Altern und Alter und wird diesen zukünftig noch stärker haben: Wenn beispielsweise Frauen- und Männerrollen sich hinsichtlich familialer Aufgaben wandeln, bleibt dies - abgesehen von den Wirkungen innerhalb privater Netze und Biografien - nicht ohne Konsequenzen etwa für die Sozial- und Familienpolitik und letztlich für die Gesellschaftspolitik. In ihrer Funktion als Orientierung im Lebensverlauf erweisen sich die traditionellen Geschlechterrollen mittlerweile als brüchig, zumindest als riskant, widersprüchlich und ambivalent.

  • Frauen können sich nicht bis ins hohe Alte hinein auf die ,subventionierte Hausfrauenehe` und eine ihr entsprechende soziale Sicherung oder gar auf die sinnstiftenden Ressourcen der Frauen- und Mutterrolle verlassen.

  • Mit zunehmender Diskontinuität des Erwerbslebens, Infragestellung der Ernährerrolle und gewandelten Frauenrollen verändert sich auch für Männer die vormals weitgehend verlässliche Perspektive der Lebensführung und sozialen Sicherung bis ins (hohe) Alter.

  • Gleichzeitig kann sich das Gros der Frauen (noch) nicht auf kontinuierliche qualifizierte Erwerbsintegration und ihr entsprechende materielle und soziale Sicherung oder gar psychosoziale Alter(n)schancen verlassen.

  • Für Männer ist diese Orientierung am so genannten Normallebenslauf immer seltener möglich. Dies gilt vor allem bei sich verändernden Bedingungen am Arbeitsmarkt.

  • Auch der steigende Anteil an Singles und Einpersonenhaushalten gerade im mittleren und höheren Lebensalter geht Hand in Hand mit einem Geschlechterrollenwandel, sodass insgesamt eine veränderte Lebensgestaltung bis ins Alter hinein notwendig ist und auch bereits praktiziert wird.

Für die Frauen-, Geschlechter- und Alter(n)sforschung wirft das Feld der Geschlechterbeziehungen und -verhältnisse und des Bezugs von Geschlecht und Alter(n) zahlreiche Fragen auf:

Was die theoretische Fundierung anbelangt, so liegen Anleihen vor allem innerhalb der Ansätze zur Geschlechterarbeitsteilung, der Geschlechterkonstruktion und der Komplementarität weiblicher und männlicher Lebensverläufe und Handlungsmuster nahe. Hinsichtlich einer fundierten empirischen Analyse wäre neben gezielten Studien die Einrichtung eines Survey zu Lebenslagen der Geschlechter im Lebensverlauf sinnvoll.

Analysen sollten sich beispielsweise auf sich verändernde Alter(n)srisiken und Alter(n)schancen von Frauen und Männern im Kontext geschlechtsspezifischer Lebens- und Arbeitsverhältnisse sowie auf deren gesellschaftliche Auswirkungen konzentrieren. Dies würde bedeuten, die Situation heute alter Frauen und Männer in einen systematischen Zusammenhang mit ihren kohorten- und gesellschafts-, klassen- und geschlechterspezifischen Lebensrisiken und -chancen zu bringen. Und diese wären den sich abzeichnenden Alter(n)srisiken und -chancen künftig alter Frauen und Männer gegenüberzustellen und auf ihre Folgen hin zu prüfen. Anhaltspunkte für eine Prognose künftigen Alter(n)s von Frauen und Männern fänden sich in der Betrachtung ihrer Integration in Arbeit, Beruf, Familie und sonstige Bereiche. Neben Art, Umfang und Form der Arbeit und sozialer Beziehungen wären dabei vor allem qualitative Aspekte, beispielsweise Unvereinbarkeiten und Widersprüche, Einflüsse auf körperliche, geistige und psychische wie soziale Entwicklungs- und Verschleißprozesse, von Bedeutung.

Insgesamt darf einer umfassenden und zügigen Entwicklung der Forschung im Themenfeld "Alter(n) und Geschlecht" ohne jeden Zweifel eine hohe wissenschaftliche wie gesellschaftspolitische Relevanz zugeschrieben werden. Dabei sind Alter(n)sforschung wie Geschlechterforschung gleichermaßen angesprochen und hinsichtlich ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zu Interdisziplinarität und Transdisziplinarität gefordert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Carroll L. Estes, Social security privatization and older women: A feminist political economy perspective, in: Journal of Aging Studies, 18 (2004), S. 9 - 26, hier S.9.

  2. Catherine B. Silver, Gendered identities in old age: Toward (de)gendering?, in: ebd., 17 (2003), S. 379 - 397.

  3. Carroll L. Estes/Simon Biggs/Chris Phillipson, Social theory, social policy and ageing. A critical introduction, Berkshire 2003, S. 44 - 62, hier S. 50.

  4. Vgl. Sara Arber/Jay Ginn, Gender and Later Life. A Sociological Analysis of Resources and Constraints, London-Newbury Park-New Delhi 1991; Sara Arber/Jay Ginn (Eds.), Connecting Gender and Ageing. A Sociological Approach, Buckingham-Philadelphia 1995 (2002); Jean M. Coyle (Ed.), Handbook on Women and Aging. Westport, Connecticut-London 1997; Miriam Bernard/Judith Phillips/Linda Machin/Val Harding Davies (Eds.), Women Ageing. Changing identities, challenging myths, London-New York 2000; Toni M. Calasanti/Kathleen F. Slevin, Gender, Social Inequalities, and Aging, Walnut Creek-Lanham-Oxford 2001; Sara Arber/Kate Davidson/Jay Ginn (Eds.), Gender and Ageing. Changing Roles and Relationsships, Maidenhead-Philadelphia 2003.

  5. Laurie Russell Hutch/Jon Hendricks (Eds.), Beyond Gender Differences: Adaptation to Aging in Life Course Perspective, Amityville-New York 1999.

  6. Julia Twigg, The body, gender, and age: Feminist insights in social gerontology, in: Journal of Aging Studies, 18 (2004), S. 59 - 73.

  7. Vgl. C. L. Estes/S. Biggs/Ch. Phillipson (Anm. 3); Carroll L. Estes and Associates, Social Policy & Aging. A Critical Perspective, Thousand Oaks-London-New Delhi 2001.

  8. Vgl. Insa Fooken, Älterwerden als Frau, in: Andreas Kruse/Ursula Lehr (Hrsg.), Gerontologie, eine interdisziplinäre Wissenschaft, München 1987, S. 164 - 237; Gertrud M. Backes, Geschlechterverhältnisse im Alter, in: Birgit Jansen/Fred Karl/Hartmut Radebold/Reinhard Schmitz-Scherzer (Hrsg.), Soziale Gerontologie. Ein Handbuch für Lehre und Praxis, Weinheim-Basel 1999, S.453-469; dies., "Geschlecht und Alter(n)" als künftiges Thema der Alter(n)ssoziologie, in: Gertrud M. Backes/Wolfgang Clemens (Hrsg.), Zukunft der Soziologie des Alter(n)s, Opladen 2002, S.111-148; Wolfgang Clemens, Frauen zwischen Arbeit und Rente. Lebenslagen in später Erwerbstätigkeit und frühem Ruhestand, Opladen 1997; François Höpflinger. Frauen im Alter - Alter der Frauen. Ein Forschungsdossier, Zürich 1994.

  9. Vgl. Ilona Kickbusch/Barbara Riedmüller (Hrsg.), Die armen Frauen. Frauen und Sozialpolitik, Frankfurt/M. 1984; Claudia Gather/Ute Gerhard/Karin Prinz/Mechthild Veil (Hrsg.), Frauen-Alterssicherung. Lebensläufe von Frauen und ihre Benachteiligung im Alter, Berlin 1991.

  10. Vgl. François Höpflinger, Auswirkungen weiblicher Langlebigkeit auf Lebensformen und Generationenbeziehungen, in: Pasqualina Perrig-Chiello/ François Höpflinger (Hrsg.), Jenseits des Zenits. Frauen und Männer in der zweiten Lebenshälfte, Bern-Stuttgart-Wien 2000, S. 61 - 74; François Höpflinger. Frauen im Alter - die heimliche Mehrheit. http://www.mypage.bluewin.ch / hoepf / fhtop / fhalter1K. html: 2002.

  11. Vgl. Insa Fooken, Gerontologie eine Männerwissenschaft oder: Der Mann im Alter das unbekannte Wesen?, in: Zeitschrift für Gerontologie, 19 (1986), S. 221 - 222; dies., Geschlechterverhältnisse im Lebensverlauf, in: Birgit Jansen/Fred Karl/Hartmut Radebold/Reinhard Schmitz-Scherzer (Hrsg.), Soziale Gerontologie. Ein Handbuch für Lehre und Praxis, Weinheim-Basel 1999, S. 441 - 452; François Höpflinger. Männer im Alter. Eine Grundlagenstudie, Zürich 2002.

  12. Vgl. W. Clemens (Anm. 8).

  13. Unter Vergesellschaftung verstehe ich die Einbindung von Menschen in gesellschaftliche Bezüge, vermittelt über Institutionen wie Familie, Bildung und Erwerbsarbeit. Vgl. Gertrud M. Backes/Wolfgang Clemens. Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung, Weinheim-München 2003(2), S. 114ff.

  14. Hans Peter Tews, Neue und alte Aspekte des Strukturwandels des Alters, in: Gerhard Naegele/Hans Peter Tews (Hrsg.), Lebenslagen im Strukturwandel des Alters. Alternde Gesellschaft - Folgen für die Politik. Opladen 1993, S. 15 - 42; Martin Kohli, Das Alter als Herausforderung für die Theorie sozialer Ungleichheit, in: Peter A. Berger/Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslage, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990, S. 387 - 406.

  15. Vgl. Martin Kohli/Harald Künemund (Hrsg.), Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey, Opladen 2000.

  16. Vgl. Gerhard Bäcker, Die Lebenssituation älterer Frauen vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung sowie der Alters- und Familienstruktur, in: Frauenforschung, 2 (1994), S. 17 - 22; W. Clemens (Anm. 8); M. Kohli/H. Künemund (Anm. 15); G. Backes (Anm. 8).

  17. Vgl. Ursula Lehr. Psychologie des Alterns, Heidelberg 1977; dies., Zur Lebenssituation von älteren Frauen in unserer Zeit, in: Gisela Mohr/Martina Rummel/Dorothea Rückert (Hrsg.), Frauen. Psychologische Beiträge zur Arbeits- und Lebenssituation, München-Wien-Baltimore 1982, S. 103 - 122; Maximiliane Szinovacz, Women's Retirement. Policy Implications of Recent Research, Beverly Hills-London-New Delhi 1982; Wolfgang Clemens, Arbeit - Leben - Rente. Biografische Erfahrungen von Frauenbei der Deutschen Bundespost, Bielefeld 1992; W.Clemens (Anm. 8).

  18. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 2004. Zur Begründung der Geschlechterdifferenz in der Lebenserwartung vgl. F. Höpflinger (Anm.10).

  19. Vgl. G. Backes (Anm. 8); M. Kohli (Anm. 14).

  20. Vgl. G. Backes (Anm. 8).

  21. Vgl. ebd.; I. Fooken (Anm. 8); Ursula Lehr (Hrsg.), Zur Situation der älter werdenden Frau, München 1987; Gerhard Naegele u.a., Landessozialbericht Band 1: Armut im Alter. Untersuchung zur Lebenslage ökonomisch unterversorgter älterer Frauen in Nordrhein-Westfalen, Duisburg 1992; Annette Niederfranke, Pluralisierung und Individualisierung als Bestandteil weiblichen Älterwerdens, in: Insa Fooken (Hrsg.), Alter(n) - Umbruch und Kontinuität. Akzentsetzungen von Wissenschaftlerinnen, Essen 1994, S. 69 - 80.

  22. Vgl. W. Clemens (Anm. 8).

  23. Vgl. F. Höpflinger (Anm. 11); G. Backes (Anm. 8).

  24. Vgl. G. Backes (Anm. 8); Ilona Ostner, Wandel von Haushaltsformen, Ehe und Familie, in: Winfried Schmähl/Klaus Michaelis (Hrsg.), Altersicherung von Frauen. Leitbilder, gesellschaftlicher Wandel und Reformen, Opladen 2000, S. 46 - 60; Gertrud M. Backes, Alter(n) als ,Gesellschaftliches Problem`? - Zur Vergesellschaftung des Alter(n)s im Kontext der Modernisierung, Opladen 1997.

  25. Vgl. M. Kohli (Anm. 14), S. 401.

  26. Vgl. G. Backes (Anm. 8).

  27. Vgl. ebd.

  28. Vgl. Jutta Allmendinger, Wandel von Erwerbs- und Lebensverläufen und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Alterseinkommen, in: W. Schmähl/K. Michaelis (Anm.24), S. 61 - 80.

  29. Vgl. W. Schmähl/K. Michaelis (Anm.24).

Dr. phil., geb. 1955; Professorin für Soziale Gerontologie an der Universität Kassel, Fachbereich Sozialwesen, Arnold-Bode-Str.10, D-34109 Kassel.
E-Mail: E-Mail Link: backes@uni-kassel.de