Einleitung
Üblicherweise bezeichnet Politikberatung die Einbeziehung von Akteuren mit Expertenstatus. Politikberatung durch Bürgerinnen und Bürger im Rahmen spezifischer Beteiligungsprozesse jenseits der üblichen Informations- und Anhörungsrechte ist ein vergleichsweise wenig etabliertes politisches Instrument. Eine solche Politikberatung bedarf einer normativen Begründung und muss auf Tragfähigkeit und Effektivität überprüft werden, geht es doch letztlich um Elemente einer neuen Kommunikations- und Beteiligungskultur.
Inzwischen geben einige Großkonflikte, von der gescheiterten Hamburger Schulreform über die Aufkündigung des Atomkonsenses bis hin zu "Stuttgart 21" hinreichend Anlass zu fragen, ob es nicht Zeit ist für eine "Umsteuerung von Kommunikation als medienzentriertes, exklusives Elitenspiel hin zur verstärkten, aktiven Organisation inklusiver Bürger-Politik-Kommunikation", zu einem Wandel "von der ex-post-Kommunikation zur demokratischen Präventivkommunikation".
Umso mehr verdient Interesse, dass das Land Rheinland-Pfalz im Rahmen einer noch laufenden Kommunal- und Verwaltungsreform die Bürgerinnen und Bürger bereits zu Beginn der Reformplanung in eine prozessbegleitende Beratungsrolle versetzt hat. Es gab in der Geschichte der Bundesländer bereits zahlreiche Kommunal- und Verwaltungsreformen.
Politische Beratung durch Bürgerbeteiligung ist auch deshalb ernst zu nehmen, weil die Komplexität der Probleme und die damit verbundenen Steuerungsanforderungen zunehmen. Insofern liegt auch die Frage nahe, ob sich auf diesem Wege nicht Fehlschläge oder politische Enttäuschungen im Rahmen notwendiger Kommunal- und Verwaltungsreformen vermeiden oder reduzieren lassen. Denn für den Durchsetzungsprozess könnte der "Rationalitätstest" durch Partizipation der Beteiligten entscheidend sein.
Ausgangslage
Zu den Aufgaben der rheinland-pfälzischen Landesregierung gehört in der zu Ende gehenden Legislaturperiode der Beginn der Kommunal- und Verwaltungsreform (KVR). Der Ministerpräsident hatte sich in seiner Regierungserklärung vom 30. Mai 2006 ausdrücklich dazu bekannt. Als Reformgründe gelten die demografische Entwicklung, Chancen der Informations- und Kommunikationstechnologien, die angespannte öffentliche Haushaltslage, die "schwindende" Verwaltungskraft der kleinen Gemeinden sowie die Herstellung von Chancengleichheit unter Berücksichtigung der Größe von Gebietskörperschaften.
Mit Beschluss
Beteiligungsprozess
Insgesamt handelt es sich bei der Bürgerbeteiligung im Rahmen der rheinland-pfälzischen KVR um einen zweistufigen Beteiligungsprozess auf Landesebene. Thematisch geht es bei der Reform um die Erhaltung zukunftsfähiger Verwaltungsgebietsstrukturen. So soll im kleinräumigen Rheinland-Pfalz die neue Mindestgröße der Verbandsgemeinde 10000 Einwohner und der verbandsfreien Gemeinden 12000 Einwohner betragen. Im Rahmen einer Aufgabenkritik sollen Vorschläge zur Optimierung von Zuständigkeiten in der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben erarbeitet werden. Die Bürger sollen im Rahmen der Bürgerbeteiligung Anregungen und Kritik formulieren können. In der Freiwilligkeitsphase, die dem ersten Beteiligungsprozess nachgeschaltet ist und in der Verantwortung der Kommunen liegt, können Bürger nach wie vor beteiligt werden.
Die erste Stufe der Bürgerbeteiligung diente vor allem der allgemeinen Informationsgewinnung und -vermittlung, nachdem sich das rheinland-pfälzische Ministerium des Innern und für Sport im Vorfeld mit dem Gemeinde- und Städtebund sowie dem Städte- und Landkreistag auf vorläufige Eckpunkte - die sie dann aber als unzureichend kritisierte, sogenannte 63er Liste
Erste Stufe der Bürgerbeteiligung
Neun Regionalkonferenzen.
Im Oktober und November 2007 fanden landesweit neun sogenannte Regionalkonferenzen statt.
Fünf Bürgerkongresse.
Die Bürgerkongresse wurden unter dem Slogan "Meine Meinung zählt!" mit einer breiten Informationskampagne beworben. Jede(r) Interessierte konnte teilnehmen. Dies führte dazu, dass insbesondere die politisch bereits aktiven Bürger überrepräsentiert waren. Da das Ziel der Kongresse in der Ideensammlung und Problemidentifikation bestand, wirkte sich diese sozialstrukturelle Verzerrung nicht negativ aus. Die fünf Bürgerkongresse fanden jeweils samstags statt. Pro Kongress berieten zwischen 150 und 250 Bürger in Achtergruppen über die Reform. Die Dokumentation der Bürgerkongresse ist im Internet - transparent für jedermann - abrufbar.
Sechs Planungszellen.
Nach den Bürgerkongressen wurden im Juni 2008 insgesamt sechs Planungszellen regional verteilt durchgeführt. Das von Peter C. Dienel
Bewertung.
Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung zeigt sich ein klarer Befund: Mit der Intensität der Beteiligungsmethode steigen Beratungsinteresse und Zufriedenheit der Bürger. Bei allen Veranstaltungen wurde zudem deutlich, dass prinzipiell Reformbedarf besteht und dieser von den Bürgern auch wahrgenommen wird. Gerade die beratungsintensiven Bürgerkongresse und Planungszellen unterstrichen die Partizipationsbereitschaft der Bürger und deren Interesse an weiterer Beteiligung im Reformprozess.
Zweite Stufe der Bürgerbeteiligung
Im Zentrum der zweiten Beteiligungsstufe standen eine Repräsentativ- und eine Onlinebefragung. "Im Wege einer repräsentativen Umfrage sollen die Meinungen von Bürgerinnen und Bürgern zu beabsichtigten Reformschritten und zu Erwartungen ähnlich wie bei der ersten Stufe der Bürgerbeteiligung konkreter erfragt werden",
Die Mehrheit der rheinland-pfälzischen Bevölkerung (60 Prozent) weiß, dass die Landesregierung an einer KVR arbeitet. Gerade das Informationsbedürfnis der Jüngeren im Alter von 18 bis 24 Jahren, also jener Personengruppe, welche die Reform am stärksten betreffen wird, ist deutlich größer als bei den Älteren. Sie hätten "gerne mehr Informationen".
Bürgerbeteiligung in der Freiwilligkeitsphase
Die mit finanziellen Anreizen seitens der Landesregierung versehene Freiwilligkeitsphase bietet eine zeitlich befristete Handlungs- und Entscheidungschance, in der die Kommunen und kommunalen Gebietskörperschaften unter Berücksichtigung der Problemlagen und Bedingungen vor Ort über die Details der sie betreffenden Reformschritte und -maßnahmen entscheiden. Im Verlauf der Reformdebatte wurde die Freiwilligkeitsphase als politische Vorgabe kritisiert. Die Kritik betrifft nicht die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, sondern das Damoklesschwert zu erwartender gesetzlicher Entscheidungen nach dem Ende der Freiwilligkeitsphase.
Die anstehende Bürgerbeteiligung in der Freiwilligkeitsphase stellt insbesondere die betroffenen Gebietskörperschaften vor große Herausforderungen. Dadurch, dass die Landesregierung durch die Freiwilligkeitsphase einen erheblichen Teil der Komplexität nach unten in die Kommunen abgegeben hat, wird es auf das Regelungsgeschick und auf die Organisation von Beteiligungschancen vor Ort ankommen. Die Umsetzung liegt dabei in der Hand der lokalen politischen Eliten. In einer Stichprobe wurden 155 Mandatsträger sowohl qualitativ als auch quantitativ befragt, die von der Reform betroffen sind. Eine sehr deutliche Mehrheit der Befragten (83,8 Prozent; N=154) befürwortet - von der Parteimitgliedschaft unabhängig - die Freiwilligkeitsphase für ihre Gebietskörperschaft. Die überwiegende Mehrheit hält finanzielle Unterstützung, die Bereitstellung von Sachverstand und Hilfe bei Beteiligungsprozessen für Erfolgsfaktoren der Freiwilligkeitsphase, wobei Unterstützung bei Beteiligungsprozessen mit knapp 90 Prozent am meisten von den Befragten angefordert wird, wie die Tabelle (sh. PDF-Version) zeigt.
Die Ursache für die hohe Nachfrage nach Unterstützung bei Beteiligungsprozessen vor Ort scheint einerseits damit zusammenzuhängen, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten (77,7 Prozent) Bürgerbeteiligung für ein Werkzeug effizienten Regierens hält und deshalb befürwortet, dass die Bürger bei der Planung der Reform beteiligt werden (88,8 Prozent). Andererseits besteht Unklarheit darüber, wie man in der Praxis Bürger beteiligen soll. "Selbst die Verwaltung hier wäre überfordert (...). Weil keiner von uns das Wissen hat. Das ist etwas Neues (...) da sind auch wir dann die Laien, selbst die Ortsbürgermeister oder Beigeordneten",
Aus den Leitfadengesprächen ist deshalb eine Handreichung (Leitfaden) für Möglichkeiten der Organisation von Bürgerbeteiligung bei örtlichen Fusionsdiskussionen und -prozessen in der Freiwilligkeitsphase erarbeitet worden. Dabei geht es um ein Instrumentarium, mit dem auf kommunaler Ebene ein transparenter Beteiligungsfahrplan aufgestellt werden kann. Zu diesem Zweck wurde eine in der Wirtschaft bereits erfolgreiche Methode, die Balanced-Scorecard (ausgewogener zielorientierter Berichtsbogen), genutzt und an die Bedürfnisse von kommunalen Gebietskörperschaften angepasst. Damit sollte den Kommunen und den Bürgern eine Orientierung gegeben werden, welchem Typ sie sich selbst zuordnen und wie entsprechende Partizipationsprozesse optimal eingesetzt werden können. Der Leitfaden ist im Internet allgemein zugänglich.
Empfehlungen aus einem Demokratieexperiment
Die Befragungsergebnisse der kommunalen Mandatsträger weisen auf ein hohes Einverständnis mit Notwendigkeit und Bedeutung der Bürgerbeteiligung als politikberatende Ressource und als Legitimationsstrategie. Aus den Befunden wird deutlich, dass sich in der Zeit der Freiwilligkeitsphase Komplexität und damit verbundener Problemdruck auf die kommunale Ebene verlagert. Durch Bereitstellung von Beratungskompetenz sollte die kommunale Ebene unter dem Interesse erfolgreicher Bürgerbeteiligung unterstützt werden. Die Akteure vor Ort stehen überwiegend vor dem Problem, die Bürger in wichtige Fragen der strukturellen Entwicklung der Gemeinde aktiv einzubeziehen und dabei als "politische" Bürger und "Politikberater" in eigener Sache ernst zu nehmen. Erfolgreiche Beteiligung kann dabei für jede Kommune anders aussehen und muss anhand der Gegebenheiten vor Ort entschieden werden. Als eine erste Orientierung für das Design der Beteiligungs- und Regelungsprozesse dient die entwickelte Balanced-Scorecard. Ob die Kommunen ihre Freiräume für Bürgerbeteiligung dann tatsächlich nutzen, bleibt abzuwarten.
Das Beispiel der Bürgerbeteiligung im Rahmen der rheinland-pfälzischen Kommunal- und Verwaltungsreform erweist sich als ein Demokratieexperiment, aus dem für ähnliche Reformvorhaben einige Empfehlungen abgeleitet werden können.
Bürgerbeteiligung bei Kommunal- und Verwaltungsreformen ist kein politisch-administrativer Selbstläufer. Jenseits juristischer Logik liegend und schon deshalb inneradministrativ als eher lästig empfunden, bedarf sie des kontinuierlichen Anstoßes durch die politische Spitze.
Die Initiative zur Bürgerbeteiligung muss verankert sein in einer programmatischen Leitidee, die von der politischen Führung in Regierung und Parlament glaubwürdig repräsentiert wird.
Bürgerbeteiligung braucht echte Handlungsspielräume. Sie ist keine politische "Spielwiese" zur Ruhigstellung der Bürger, sondern eine Chance, Bürger in eine aktive Beratungsrolle zu bringen.
Bürger sind durchaus kompetent zur eigenen Interessenvertretung. Eine Garantie für einen gelingenden Interessenausgleich im Rahmen partizipativer Diskurse gibt es jedoch nicht.
Bürgerbeteiligung bedarf der professionellen Organisation und Dokumentation von Diskursen und Beratungsgegenständen.
Mit dem Grad der Betroffenheit steigt das Beteiligungsinteresse. Deshalb müssen zunächst landesweit organisierte Beratungs- und Beteiligungsprozesse ihre Fortsetzung auf der kommunalen Ebene finden.
Glaubwürdigkeit gewinnt Bürgerbeteiligung in dem Maße, wie eine kontinuierliche und für die Bürger nachvollziehbare Rückkoppelung mit den Repräsentanten des parlamentarischen Parteiensystems stattfindet.
Fazit
Durch Bürgerbeteiligung ermutigtes Engagement ist keine politische Harmonieveranstaltung. Sie kann aber konfliktkanalisierend wirken und zum Abbau von politischer Distanz und Politikverdrossenheit beitragen.
In dem hier vorgestellten Kontext geht es nicht darum, die repräsentative Demokratie gegen direktdemokratische Verfahren auszuspielen. Bürgerbeteiligung in Verbindung mit plebiszitären Rechten würde fraglos ein Neuaustarieren von Kompetenzen im Rahmen parlamentarischer und plebiszitärer Entscheidungsfindung notwendig machen. Das aber war nicht das Ziel der Bürgerbeteiligung im Rahmen der rheinland-pfälzischen KVR. Dennoch hat eine Ausweitung von Bürgerbeteiligungschancen auch unterhalb plebiszitärer Rechte politische Folgen für Willensbildung und Entscheidungsfindung der für die "Legitimation durch Verfahren" (Niklas Luhmann) zuständigen Akteure und Institutionen.
Die stärkere Verknüpfung zwischen repräsentativ-demokratischer und bürger-demokratischer Politik dürfte der zunehmenden Komplexität von Gesellschaft und Politik eher Rechnung tragen als ein überkommenes, hoheitliches Politikverständnis, das sich allein mit parlamentarischer Mehrheitsentscheidung rechtfertigt. Notwendig ist vielmehr eine "horizontal und vertikal differenzierte Regelungsstruktur"
Stecken die Versuche, Fragen einer schwieriger werdenden politischen Steuerung mit bürgergesellschaftlichen beziehungsweise zivildemokratischen Ansätzen zu verbinden, wissenschaftlich und politisch noch in den Anfängen, so hat Rheinland-Pfalz über die Jahre hinweg Wege "von der Engagementförderung zur Engagementpolitik"