Einleitung
In den letzten Jahren ist die lange Reihe der Forschungen über die Volkserhebung vom 17. Juni 1953 in der DDR mit vertiefenden Regional- und Lokalstudien und jüngst auch neuen Gesamtdarstellungen fortgesetzt worden.
Ursachenforschung und "Neuer Kurs"
Am 17. Juni 1953 legten Bauarbeiter in der Ost-Berliner Stalinallee die Arbeit nieder. Sie gaben das Signal zu einer Volkserhebung, die binnen weniger Stunden die gesamte DDR erfasste. Soldaten und Panzer der Sowjetarmee schlugen den spontanen antistalinistischen Aufstand nieder. Er hatte gezeigt, dass sich die Macht der SED letztlich auf die Bajonette der Roten Armee stützte und dass die sowjetische Option, sie im Fall der Systemgefährdung jederzeit einzusetzen, neue Aufstände prinzipiell verbot. Diese Einsicht bildete bis zur "Wende" 1989/90 die wichtigste Konstante der Wahrnehmung sowjetischer Interessen sowohl durch die SED als auch die DDR-Bevölkerung.
Von den Ereignissen zutiefst erschüttert, begann gleich nach dem 17. Juni in Politbüro und Zentralkomitee (ZK) der SED die Suche nach den Ursachen, nach Fehlern und Schuldigen. Führende Funktionäre übten eine bemerkenswerte Selbstkritik, die tatsächliche Missstände benannte, ohne allerdings den sozialistischen Kurs in Frage zu stellen: Sein Forcieren sei falsch gewesen, "bedeutende Schichten der Bevölkerung" seien zu Gegnern geworden, und viel Zündstoff habe sich "aus einer falschen sozialen Politik" ergeben. Diese habe "Provokateuren" den Boden bereitet und den "Eingriff des faschistischen und monopolistischen Gegners aus dem Westen" erst ermöglicht.
Doch setzte bereits Ende Juli ein propagandistischer Wandel ein, als Grotewohl gegen eine angebliche Entwicklung der SED zur "Büßergemeinde"
Diese Lesart bildete einen parteiinternen und ostdeutsch-sowjetischen Konsens, der die innenpolitische Notwendigkeit berücksichtigte, den "Neuen Kurs" zumindest formal fortsetzen zu können. Als sowjetische Initiative zur Entspannung der Situation geplant, lief er auf ein Abbremsen von Sowjetisierungsprozessen und forciertem sozialistischen Aufbau hinaus, hatte aber - von der DDR-Bevölkerung richtig als Phänomen der Schwäche des Regimes gewertet - in den Augen der SED zum Ausbruch der Volkserhebung beigetragen. Der 17. Juni bestätigte, dass eine politische Liberalisierung in der DDR geboten war, erhärtete aber gleichzeitig die Erkenntnis, nach der eine solche das System insgesamt in Frage stellen musste.
Dieses eigenartige Spannungsverhältnis wurde in der unmittelbaren Folge des 17. Juni dergestalt aufgelöst, dass die Aufgabe, die Gesellschaft der DDR wieder in ein ordnungspolitisches Gleichgewicht zu bringen, auf althergebrachte administrative Weise in Angriff genommen wurde und politische Reformunfähigkeit zum Zukunftsprogramm geriet. Allerdings konnte auf die stabilisierenden, beruhigenden Effekte des "Neuen Kurses" nicht verzichtet werden. In den Monaten nach dem Volksaufstand bemühte man sich, einen Modus zu finden, der eine harte Bestrafung von "Rädelsführern" ermöglichte, aber gleichzeitig "irregeführte Mitläufer" eher "milde" behandelte.
Sicherungsmaßnahmen
Ganz offensichtlich hatte die Volkserhebung wesentlich zur Festschreibung der sowjetischen Deutschlandpolitik beigetragen. Hatte es nach Stalins Tod in Moskau noch Diskussionen darüber gegeben, ob die DDR gehalten oder unter bestimmten Bedingungen aufgegeben werden sollte, setzte sich nun jene Fraktion durch, die an deren Fortbestand im sowjetisch determinierten Block festhielt. Daraus ergab sich, dass die Sowjetunion ihre Rolle als Garantiemacht überdenken und beginnen musste, die DDR zügig zu stabilisieren. Einerseits wurden Maßnahmen zur Entlastung der Wirtschaft verkündet, andererseits führten vor allem die Unzulänglichkeiten der bewaffneten Organe der DDR und das Misstrauen der Sowjets gegenüber der Zuverlässigkeit der Kasernierten Volkspolizei (KVP) umgehend zu Sicherungsmaßnahmen. Die sowjetische Direktive, nach der für alle wichtigen volkswirtschaftlichen Objekte "ein sicherer Schutz aus geprüften und politisch der demokratischen Ordnung ergebenen Personen" zu organisieren und die Standorte der Volkspolizei so zu wählen seien, "dass die Einheiten ((...)) in einigen Minuten an volkswirtschaftlich wichtigen Objekten eintreffen können",
Im Weiteren konstituierten sich "die bis 1989 fortexistierenden Einsatzstäbe in den Bezirken aus führenden Funktionären der SED, der Armee, des MfS und der Polizei".
Die Volkserhebung engte die ohnehin schmalen operativen Handlungsräume der SED gegenüber der Sowjetunion unmittelbar weiter ein. Die Erhebung als Ausdruck einer zugespitzten Sowjetisierungskrise löste paradoxerweise einen Sowjetisierungsschub aus. So wurde die Übertragung sowjetischer Formen innerbetrieblichen Lebens, insbesondere des sozialistischen Wettbewerbs, beschleunigt und im Staatsapparat das sowjetische Nomenklaturmodell zügig durchgesetzt.
Deutschlandpolitische Effekte und Konsequenzen
Der 17. Juni führte nicht nur zu einer "Inneren"
Für die Anerkennungspolitik der SED wirkte die Volkserhebung insofern fatal, als der bundesdeutsche Alleinvertretungsanspruch eine weitere Dimension erhielt. Hatte Bonn die Verweigerung offizieller Kontakte zur DDR bislang mit der fehlenden Legitimation der SED begründet, so argumentierte Bundeskanzler Konrad Adenauer nun auch moralisch: Die Bevölkerung der Ostzone habe der SED am 17. Juni jedes Vertretungsrecht abgesprochen. Also vollziehe die Bundesregierung mit ihrer Gesprächsverweigerung nichts anderes als das Votum der Ostdeutschen. Ein Abgehen vom Alleinvertretungsanspruch wäre "eine Beleidigung der zahllosen Opfer an Leben und Freiheit" und "Verrat" an den "Zonenbewohnern".
Wirkungen bis zum Mauerbau
Das Politbüro der SED und die Regierung der DDR handelten fortan unter verstärktem innenpolitischen Legitimationsdruck, der insbesondere von der Entwicklung der "Republikflucht" mit bestimmt wurde. Zwar ging eine Reihe von aktiven Teilnehmern der Juni-Erhebung aus Angst vor Strafen und Repressionen in den Westen, was für die Partei eine erwünschte Minderung des Oppositionspotenzials bedeutete. Doch hatte der 17. Juni das Politbüro gelehrt, dass nur die Erhöhung des Lebensstandards, vor allem die Lösung der Lebensmittelfrage, massenhafter Unzufriedenheit und dem Exodus der Bevölkerung vorbeugen konnte.
Welchen politischen Zündstoff die Versorgungsfrage im Kalten Krieg besaß, erfuhr die SED wenige Wochen nach dem 17. Juni, als die USA und die Bundesrepublik von West-Berlin aus eine risikoreiche Lebensmittelhilfe für die ostdeutsche Bevölkerung organisierten und die sich zuspitzende Ost-West-Konfrontation
Intellektuelle Opposition und studentische Revolte 1956
Im Verlauf des Jahres 1955 schien sich die Lage in der DDR zu stabilisieren. Einerseits begann sich die Wirtschaft langsam zu erholen, andererseits verschafften die Verkündung der sowjetischen Zwei-Staaten-Theorie und die Mitgliedschaft der DDR im Warschauer Pakt der SED ein gewisses Sicherheitsgefühl. Gleichzeitig trugen seit Mitte 1953 soziale Maßnahmen wie die Erhöhung von Löhnen und Renten sowie Preissenkungen und die Erweiterung der Konsum- und Nahrungsgüterproduktion zur Beruhigung der Arbeiterschaft bei. In der Tat hatten die Maßnahmen des "Neuen Kurses" durch eine relative Verbesserung der Lebenslage Anteil am allmählichen Verblassen der Aufstandsbilder. Eine dauerhafte Beruhigung wurde jedoch dadurch in Frage gestellt, dass die politischen Strukturen des Stalinismus in der DDR fortbestanden und sich das Problem einer Entstalinisierung der Gesellschaft in allen Staaten des Ostblocks stellte.
So waren die Ereignisse des Jahres 1956 in Blockprozesse eingebettet, die ähnlich gelagert waren, aber von nationalen Besonderheiten bestimmt wurden. Für ihre Intensität war von Bedeutung, dass sie im Zentrum des Systems, in Moskau, mit dem XX. Parteitag der KPdSU und einer Kritik am Personenkult um Stalin begannen und ansatzweise die ideologischen Grundlagen für eine Entstalinisierung der Herrschaft und eine Liberalisierung der Machtausübung schufen. Dies ging einher mit neuen Ideen zur Entschärfung des Kalten Krieges. Er sollte vor allem durch das Prinzip der "friedlichen Koexistenz" von einer vorrangig konfrontativen in eine nichtmilitante Systemkonkurrenz verwandelt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit des sozialistischen Lagers zu erhöhen. Abgesehen davon, dass sich das Politbüro gegen dieses Prinzip im Verhältnis zur Bundesrepublik sperrte, weil es Einflussmöglichkeiten des Nachbarn auf die DDR und das Ende ihrer "einmischenden" Westarbeit in der Bundesrepublik befürchtete,
Es waren 1956/57 parteinahe Intellektuelle, die für Reformen zur Überwindung des Stalinismus in der DDR und damit gegen Ulbricht als dessen wichtigsten Repräsentanten auftraten. Von diesem als "Revisionisten" bezeichnet, ging es ihnen im Unterschied zu den Aufständischen des 17. Juni nicht um eine Entmachtung der SED und die Beendigung des sozialistischen Weges, sondern um einen "menschlichen" Sozialismus. Sie lehnten den Kapitalismus ab und entwickelten Programme zur "Reinigung" der Lehren von Marx und Lenin von stalinistischen Verfälschungen und zur Dezentralisierung und Demokratisierung der Wirtschaft.
Für die SED-Führung ebenfalls brisant war die sich an den Universitäten und Hochschulen 1956/57 unter dem Eindruck des Entstalinisierungsdiskurses entwickelnde studentische Opposition. Antistalinistisch ausgerichtet, trafen sich ihre Forderungen mit denen reformorientierter SED-Wissenschaftler: Beseitigung der Vorherrschaft des dialektischen Materialismus über die Fachwissenschaft und die Durchsetzung "des Rechts auf freie Diskussion ohne Furcht vor Zwangsmaßnahmen".
Doch die Forderungen der Studenten gingen bald über die der SED-internen Opposition hinaus. Eine Analyse des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) vom 28. Oktober 1956 hielt fest, dass sich an fast allen Hochschulen Versuche zeigten, "die Auseinandersetzungen in den Volksrepubliken Polen und Ungarn für Forderungen an die Führung der SED und den Staat auszunutzen". Man verlange "Änderungen im Hochschulbetrieb, nämlich vor allem die Gründung einer unabhängigen Studentenorganisation, Auflösung der FDJ-Hochschulgruppen, Abschaffung des obligatorischen gesellschaftlichen Grundstudiums und des Unterrichts in der russischen Sprache". Im Übrigen würden die Studenten die Berichterstattung der "demokratischen Presse" und verstärkt das Führungskollektiv der SED, besonders Ulbricht, angreifen, "dessen Rücktritt wiederholt gefordert wird".
Arbeiterprotest
Im Unterschied zu den oppositionellen Intellektuellen und den aufmüpfigen Studenten und im Gegensatz zu ihrem Verhalten am 17. Juni 1953 blieben die Arbeiter insgesamt ruhig und zählten nicht zu den Initiatoren spektakulärer Aktionen. Als Ursachen dafür sind eine Reihe von sozialen Verbesserungen wie Lohnerhöhungen, Preissenkungen und Arbeitszeitverkürzungen, aber auch politische Versprechen zu nennen
Doch bedeutete das keineswegs Abstinenz von jeglicher Opposition. Das MfS berichtete von Streiks und Streikdrohungen, die sich seit Mitte Oktober 1956 häuften. Versucht man, ihren Anlass zu bestimmen, fallen lohnpolitische Ursachen auf; es gewannen aber auch die Umbrüche in Polen und Ungarn und - weniger stark - die studentischen Unruhen in Berlin an Gewicht. Territorial hatten die Streiks ihr Zentrum in Magdeburg, einer Hochburg des Aufstandes vom 17. Juni; kleinere, meist spontane Arbeitsniederlegungen in verschiedenen Regionen folgten.
Der 17. Juni 1953 war der SED im Herbst 1956 allgegenwärtig. Allerdings standen in der Perzeption nicht die Arbeiter, sondern die oppositionellen Intellektuellen sowohl in der DDR als auch in Polen und Ungarn im Vordergrund. Deren Reformvorstellungen seien laut Grotewohl "in voller Breitseite auf uns monatelang gerichtet gewesen. In offenen Ratschlägen und unterirdisch durch Wühlarbeit ((...)). Der Ausgangspunkt in Polen ist der Aufstand in Poznan ((...)) gewesen. Aber der Ausgangspunkt für uns ist der 17. Juni 1953. Und seit dem 17. Juni 1953 haben wir viel gelernt, und gebranntes Kind scheut das Feuer."
Spätfolgen bis zum Mauerfall
Mit dem Mauerbau 1961, der auch eine Spätfolge des Volksaufstands vom Juni 1953 gewesen war, begannen sich die meisten Menschen in der DDR mit "ihrem" Staat zu arrangieren. Der fortschreitende zeitliche Abstand, ein steigender Lebensstandard, der wichtige wirtschaftliche und soziale Ursachen des Volksaufstandes ausräumte oder vergessen machte, sowie die kaum mehr reale Perspektive der deutschen Einheit ließen die Erinnerungen allmählich verblassen. Immer mehr schien es, als würden die Bürger der DDR den in der Bundesrepublik als Gedenktag begangenen 17. Juni als Ereignis mehr der west- als der ostdeutschen Geschichte betrachten. Dazu trug bei, dass westliche Medien ihn häufig zu "einem Heldenepos erhoben",
Die politische Marginalisierung des Datums - teils aus schwindendem Interesse, teils als Ergebnis disziplinierten Schweigens - fand seine Entsprechung im SED-obrigkeitlichen Verdrängungsprozess, der aber keineswegs erinnerungslos verlief. Die Verdrängung war einerseits instrumentell, insofern nichts an den "Betriebsunfall" der DDR erinnern und den sozialistischen Aufbau behindern durfte. Andererseits wurzelte der Volksaufstand im kollektiven Bewusstsein der SED-Führung als Trauma und Versagenssyndrom sowie als ständig aktualisierbare "Lehre".
Maßgeblich für die Darstellung des Volksaufstandes in der offiziellen Geschichtsdeutung war die 1966 erschienene achtbändige "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung". Zwar wurde die bis dahin geltende Ursachenbeschreibung im Wesentlichen beibehalten, aber die Behauptung, es habe sich um einen "faschistischen" Putsch bzw. Putschversuch gehandelt, zugunsten der Definition als "konterrevolutionärer Putsch" zurückgenommen.
Das Trauma
Doch gerade die Kader der Kasernierten Volkspolizei, die sich "trotz aller aufgetretenen Probleme als funktionierendes Machtinstrument des herrschenden SED-Regimes" erwiesen und nach dem Aufstand weitere politische und soziale Privilegien erhalten hatten,
Auch in der rigorosen Position, die das Politbüro gegenüber den Demokratisierungsversuchen in der CSSR 1968 und der Solidarnosc-Bewegung in Polen 1980 einnahm, wirkte das Trauma des 17. Juni nach. Zwar lässt sich ein Erinnern an den Volksaufstand bei den jugendlichen Protestierern in der DDR anlässlich des Einmarsches des Warschauer Paktes in die CSSR kaum feststellen. Aber Erich Honecker berief sich explizit auf ihn, als er zu harten Maßnahmen gegen die polnische "Konterrevolution" riet,
Im Vorfeld des Zusammenbruchs der DDR ortete die SED-Führung und insbesondere ihr Generalsekretär zwei Ursachen für die akute Systemkrise: "konterrevolutionäre Tätigkeit" und "bestimmte Kreise" in der Bundesrepublik.
Das Trauma 17. Juni wurde beredt, als Staatssicherheitsminister Erich Mielke seine Generale im August 1989 beunruhigt fragte, ob es so sei, "dass morgen der 17. Juni ausbricht",
Die Krise und das Ende der DDR bewirkten bei vielen Bürgerinnen und Bürgern eine Mobilisierung der Erinnerung an den Volksaufstand. Eine Befragung von SED-Mitgliedern 1988/89 - eine Zeit einsetzender akuter Krisensymptome und der Zweifel an der Staatsführung - erbrachte, dass sich die meisten mit der parteioffiziellen Interpretation des 17. Juni identifizierten.
Resümee
Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und seine (Spät-)Folgen haben Gesellschaft und Politik der DDR erheblich beeinflusst. Die Erinnerung an ihn war in der SED und ihren Apparaten aus Gründen des Machterhaltes stärker als in der Bevölkerung, wo sie nie ganz verschwand, aber doch tendenziell abnahm.
Die Volkserhebung stellt zweifellos ein "singuläres Ereignis in der Geschichte der DDR" (Stefan Wolle) dar. Doch fragt es sich, ob es dies nicht auch für die Bundesrepublik bzw. die gesamtdeutsche Nachkriegsgeschichte im Kalten Krieg war. Dafür sprechen u.a. die direkt oder mittelbar auf den 17. Juni bezogenen deutschen Interaktionen, gesellschaftlichen Diskurse und die unterschiedlichen und doch gemeinsamen Erinnerungen der Zeitzeugen.