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Bundesdeutsche Souveränität und die Rückgabe der diplomatischen Akten | 50 Jahre Souveränität | bpb.de

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Bundesdeutsche Souveränität und die Rückgabe der diplomatischen Akten

Astrid M. Eckert

/ 18 Minuten zu lesen

Die schrittweise Rückführung der bei Kriegsende durch die Alliierten beschlagnahmten Akten zeigt: Souveränität kann auch durch die Rückgabe diplomatischer Akten erreicht werden.

Einleitung

Der Weg der jungen Bundesrepublik zur weitgehenden staatlichen Souveränität im Mai 1955 wird in der Regel in politikgeschichtlichen Schritten bemessen. Die Aufmerksamkeit gilt dabei Konrad Adenauers großen Verhandlungen mit den Alliierten Hohen Kommissaren, bei denen er den schrittweisen Abbau alliierter Kontrollen und die institutionellen und vertraglichen Einbindungen der Bundesrepublik in das westliche Staatensystem erzielte. Adenauer verhandelte die "harte" Souveränität, nämlich die "volle Macht eines souveränen Staates über [seine] inneren und äußeren Angelegenheiten", wie es im Deutschlandvertrag hieß. Nach den Jahren der Besetzung wollte er für die junge Republik so bald wie möglich Gleichberechtigung und Sicherheit im westlichen Bündnis und den Ausbau und die Konsolidierung ihres völkerrechtlichen Status erreichen.

m Windschatten der großen Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und den Westalliierten, und mit diesen eng verzahnt, verliefen aber noch andere Gespräche, die in den Augen der Zeitgenossen für die Souveränität des Staates nicht weniger relevant waren. Die Rückgabeverhandlungen um beschlagnahmte deutsche Akten sind dafür ein Beispiel. Die Bundesregierung forderte von den Westalliierten die Rückkehr von Akten und Archivgut, das beim militärischen Vormarsch beschlagnahmt worden war. Die Geschichte der Aktenrückgabe ist ein bisher vernachlässigtes Kapitel der politischen Emanzipation der Bundesrepublik. Die Verhandlungen waren neben der Wiedereröffnung von Konsulaten, der neuerlichen Aufnahme von Außenhandelsbeziehungen oder der Regelung von Auslandsschulden nicht einfach ein weiteres Sachgebiet der jungen bundesdeutschen Außenpolitik. Vielmehr wurde die Forderung nach Rückkehr der Akten auf der symbolischen Ebene schnell zu einem Versuch, verlorene Souveränität zurückzugewinnen.

Die vorrückenden Armeen der Alliierten hatten bei Kriegsende hunderte von Tonnen an Schriftgut aus den Registraturen und Archiven von Reichsministerien, militärischen Stellen, der NSDAP, der ihr angeschlossenen Parteiorganisationen, Forschungsinstituten und der deutschen Industrie beschlagnahmt. Besonders die amerikanischen und britischen Truppen hatten sich monatelang minutiös auf die Beschlagnahmungen vorbereitet. Ihre Planungsstäbe dirigierten spezielle Einheiten, so genannte Target-Forces, und versuchten die Schritte der Deutschen nachzuvollziehen, die auf die Bombardierungen der Städte mit der Auslagerung ganzer Dienststellen und Archive an weniger exponierte Orte reagierten. Im Zuge des Vormarsches füllten sich die Aktensammelstellen der Alliierten, die Document Centers, mit deutschen Akten. Mancher Fang war eine besondere Trophäe, beispielsweise die Erbeutung der Mitgliederkartei der NSDAP in einer Papiermühle bei München durch amerikanische Einheiten. Auch die Beschlagnahmung des Archivs des Auswärtigen Amtes im Harz im April 1945 galt als Triumph, schon allein, weil Briten und Amerikaner den Fund vor den Sowjets eine Zeit lang geheimhalten konnten.

Dokumentenjäger suchten in den Document Centers der Westzonen nach Beweismaterial für die geplanten Kriegsverbrecherprozesse, waren Verbindungen der NSDAP ins Ausland auf der Spur, vollzogen Kapitalflucht und Kunstraub nach, schöpften technisches Know-how der deutschen Industrie ab und versuchten zu erfassen, was im Innern des "Dritten Reiches" vor sich gegangen war. Brisantes Material - militärische, diplomatische und technische Unterlagen - wurde zur weiteren Auswertung aus Deutschland ausgeflogen oder verschifft. Besonders die Viersektorenstadt Berlin erschien den Briten und Amerikanern bald nicht mehr sicher. Die Beuteakten sollten bei einer möglichen Eskalation der dort wachsenden Spannungen nicht den Sowjets in die Hände fallen. Am Ende der Besatzungszeit hatte allein das amerikanische Kriegsministerium etwa 800 Tonnen vor allem militärischer Akten nach Washington verlegt.

Lange ließ sich für die Deutschen kaum auseinander halten, welches Material durch den Bombenkrieg verloren, welches sie selbst bei Kriegsende vernichtet und welches die Kriegsgegner beschlagnahmt und verlagert hatten. Archivare waren die ersten, die sich einen Überblick zu verschaffen suchten. Sie forderten im Mai 1949, die Frage der Aktenrückgabe in einem Friedensvertrag zu regeln. Im September äußerten sich auch die deutschen Historiker. Die Teilnehmer des ersten Nachkriegs-Historikertages in München beklagten den "politisch wie wissenschaftlich gleich bedenkliche[n], auf die Dauer unerträglich[en] Zustand, dass weitaus der größte und wichtigste Teil des Quellenmaterials seit 1919, in einzelnen Beständen sogar seit der Bismarckzeit, sich heute außerhalb Deutschlands befindet und der deutschen Forschung praktisch unzugänglich ist". Im Oktober 1949, in einer seiner ersten Sitzungen, nahm sich der Deutsche Bundestag des Themas an und forderte die Rückgabe der deutschen Akten; zumindest jener in westalliiertem Gewahrsam.

Im Juni 1950 übermittelte Konrad Adenauer die Rückgabeforderung des Bundestages den Hohen Kommissaren. Er stellte sich voll hinter das Anliegen und forderte die Rückkehr aller Akten von "früheren Reichsbehörden sowie der verschiedenen Wehrmachtsstäbe und der obersten Parteistellen". Die "wissenschaftliche Aufklärung des deutschen Volkes über die Vorgänge unter der nationalsozialistischen Herrschaft" sei eine wichtige Aufgabe der Bundesregierung, die Rückgabe der Akten die Voraussetzung für eine "einwandfreie Forschung". Die Diplomaten im Bundeskanzleramt, die bald darauf in das wiedergegründete Auswärtige Amt einrückten, betrachteten die Frage anfangs lediglich als logistisches Problem. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, dass sie am Beginn von Jahre währenden, streckenweise zermürbenden Verhandlungen mit den Regierungen der Westalliierten stehen könnten. Tatsächlich begannen Rückgaben in nennenswertem Umfang jedoch erst elf Jahre nach Kriegsende: Die diplomatischen Akten des früheren Auswärtigen Amts trafen zwischen 1956 und 1958 in Bonn ein. Gleichzeitig begann die Rückgabe militärischer Akten aus Washington, die 1968 zu einem vorläufigen Abschluss kam. Bis heute kehren sporadisch deutsche Akten aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten zurück.

Die Akten des früheren Auswärtigen Amts

Die diplomatischen Akten spielten eine besondere Rolle und legten alle Empfindlichkeiten bloß, die sich an den Aktenverlust knüpften. Wie bei keinem anderen Material machten die Verhandlungen um diese Unterlagen deutlich, dass die Geschichte der Aktenrückgabe zugleich auch eine Auseinandersetzung um die Deutungsmacht über die deutsche Geschichte war. Die neue Verteilung der Quellen, nämlich ihr temporärer Verlust für die (west-)deutsche Geschichtswissenschaft und, umgekehrt, der unvorhergesehene Zuwachs an Quellen für die amerikanischen und britischen Historiker, löste eine Auseinandersetzung um die legitimen Sprecher in der Deutung deutscher Geschichte aus.

Auf deutscher Seite verknüpfte sich diese Frage mit der Debatte um die (Un-)Versehrtheit der Nationalgeschichte und die Einordung des Nationalsozialismus in ihr Kontinuum. Der Kampf um die Akten verband sich in der jungen Bundesrepublik mit einem "sprunghaft wachsenden Bedarf an historischer Selbstvergewisserung", dessen Konsequenz unter anderem die Anfänge institutionalisierter Zeitgeschichtsschreibung waren. Auf der Gegenseite - bei den britischen und amerikanischen Historikern genauso wie bei den politisch Verantwortlichen - war der Blick auf die Geschichte nicht weniger relevant. Dort stand das Bewusstsein, durch den Besitz des Quellenmaterials die zukünftige Meistererzählung deutscher Geschichte und eben auch den Ort des Nationalsozialismus darin entscheidend beeinflussen zu können.

Seit das Archiv des Auswärtigen Amts im April 1945 im Harz aufgespürt worden war, unterstand es der gemeinsamen Verwaltung des britischen Foreign Office und des amerikanischen State Department, deren Experten die Akten erst einmal nachrichtendienstlich auswerteten. Allerdings war schon frühzeitig auch ein starkes historisches Interesse an den Akten aufgekommen. Britische Historiker forderten noch während des Krieges die Veröffentlichung deutscher Akten zum Kriegsbeginn, die historischen Abteilungen der Außenministerien in London und Washington nahmen die Idee auf. Die Deutung der jüngsten Vergangenheit sollte nicht, wie nach dem Ersten Weltkrieg, den Deutschen überlassen bleiben. Damals hatte das Kriegsschuldreferat des Auswärtigen Amts eine Dokumentenedition in Auftrag gegeben, welche die Diskussion um den Beginn des Ersten Weltkriegs erneut in Gang bringen und den Kriegsschuldvorwurf gegen das Deutsche Reich in Frage stellen sollte. Unter dem Titel Die Große Politik der Europäischen Kabinette wirkte sich die Edition während der Zwischenkriegsjahre besonders in den Vereinigten Staaten in diesem Sinne aus.

Um also den Deutschen nach dem neuerlichen Krieg auf keinen Fall die Akten als Material für eine apologetische Geschichtspolitik zu überlassen, kamen State Department und Foreign Office im Juni 1946 überein, die diplomatischen Akten in einer gemeinsamen, wissenschaftlichen Edition selbst zu veröffentlichen. Sie stellten eine Arbeitsgruppe von akademisch ausgewiesenen Historikern aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien zusammen, welche die deutsche Außenpolitik vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausbreiten sollten, solange das Interesse an der jüngsten Vergangenheit noch akut war. Die Franzosen wurden im April 1947 eingeladen, an der Edition mitzuarbeiten. Eine sowjetische Mitarbeit hatten Briten und Amerikaner hingegen nie ernsthaft erwogen.

Deutsche Gelehrte an der Edition zu beteiligen stand in der frühen Phase nicht zur Diskussion. Die Historiker arbeiteten in Whaddon Hall, einem Landhaus nahe London, wohin die Akten während der Berliner Luftbrücke 1948 ausgelagert worden waren. Das politische Interesse an der Edition Documents on German Foreign Policy war auf westalliierter Seite stark genug, um sich öffentlich und finanziell in gehörigem Umfang zu engagieren. "Nie zuvor", hieß es im Vorwort des ersten Bandes, "hatten drei siegreiche Mächte sich die Aufgabe gestellt, die Geschichte der Außenpolitik einer besiegten Macht aus solchen Archiven 'auf der Grundlage strengster wissenschaftlicher Objektivität' lückenlos aufzuzeigen." Mit ihrem Vorgehen wiesen die Westalliierten den deutschen diplomatischen Akten eine hohe Symbolkraft zu, welche die Bonner Diplomaten durch die prioritäre Rückgabeforderung eben dieser Akten noch unterstrichen.

Die Documents on German Foreign Policy waren die nach außen sichtbarste Folge der Beschlagnahmung deutscher Akten. Der erste Band "Von Neurath zu Ribbentrop" erschien 1949 auf englisch und ein Jahr später auf deutsch. Die Tatsache, dass die Alliierten diese Akten in einer wissenschaftlichen Edition veröffentlichten, hatte auf die interessierte deutsche Öffentlichkeit eine Schockwirkung und wurde als entmündigende Umerziehungsmaßnahme wahrgenommen. Der Anknüpfungspunkt der Documents an die deutsche Edition Große Politik war für informierte Beobachter zu offensichtlich, um übersehen zu werden. Zeitungskommentatoren zeigten sich alarmiert darüber, dass vergangene deutsche Außenpolitik bis zurück ins Jahr 1867 in "Feindeshand" gefallen war. Denn die beschlagnahmten Dokumente erzählten den "Schicksalsweg des deutschen Volkes" von der Gründung des Norddeutschen Bundes bis zur "nationalen Katastrophe". Ihre Beschlagnahmung bedeute "nationalpolitisch und geisteswissenschaftlich durchaus [dasselbe] wie etwa volkswirtschaftlich die Beschlagnahmung der deutschen Patente". Sogar von einer "zeitweilige[n] Lähmung der Nervenstränge unseres nationalgeschichtlichen Erinnerungsvermögens" war die Rede.

Das "Intimste einer Nation"

Selbst wenn man die gängige Diktion der fünfziger Jahre in Rechnung stellt, die einem heutigen Leser überspannt erscheinen mag, so überrascht immer noch die Einhelligkeit der Zeitungsartikel zum Thema. Die Beschlagnahmung und Veröffentlichung der deutschen Akten sei eines der "beschämendsten [!] Kapitel des deutschen Volkes. Wenn man einem Volk seine Archive nimmt, macht man es geschichtslos und beraubt es nicht nur seiner Geschichtsquellen, sondern auch der Möglichkeit, seine Geschichte selbst zu schreiben." Die Alliierten hätten "ein Stück deutscher Geschichte erbeutet und weggetragen". Denn die Akten von Außenministerien gehörten allerorten zu den "wichtigsten Geschichtsquellen. Sie werden besser gehütet als andere und nur nach Wartezeiten und unter Berücksichtigung des Staatsinteresses der Forschung zugänglich gemacht. Wer sie erbeutet, kann ins Intimste einer Nation hineinschauen."

Mit jenen Akten geht die Kontrolle über die Geschichtsschreibung in fremde Hände über. Man muß dann aus den Federn der Sieger die eigene Geschichtsdarstellung entgegennehmen (...)." Entsprechend war an anderer Stelle analog zum Abbau der Schwerindustrie von der "Demontage unserer Geschichte" die Rede. Die verschleppten Akten seien "für Staat und Volk dasselbe wie Stammbaumtafeln, Katasterbescheinigungen oder Haushaltsbücher für die Familie. Wenn das Material vernichtet ist, hört die Geschichtlichkeitauf." Neben Kriegsverlusten durch Bombenkrieg und Vertreibung müsse nun alsonoch die "Abrüstung der deutschen Geschichte durch die Siegermächte" ertragen werden.

Die Ablehnung einer aufgezwungenen "Geschichte von außen", die Angst vor "Geschichtsverlust" und verletzter Nationalstolz sind die Motive dieser Äußerungen. Sie bestätigen einmal mehr ein Muster, das auch bei anderen Fällen von Archiv- und Kulturgutraub in der Geschichte zu beobachten ist: Der Archivraub demonstriert die Macht des Räubers und demütigt den Beraubten. Noch Jahrzehnte später und über Generationen hinweg folgen ihm Versuche der Revision - durch Gegenraub, Tausch oder Verhandlungen. Die Zeitungskommentare unterstreichen aber auch, wie zentral ihnen Interpretationen der Vergangenheit dafür waren, die Gegenwart einzuordnen und ein nationales Selbstverständnis zu konstruieren. Die Motive ordnen sich in den von Edgar Wolfrum beschriebenen geschichtspolitischen Diskurs der fünfziger Jahre ein, der unter anderem gekennzeichnet war von geschichtspessimistischen Zeitdiagnosen und wachsenden Verlustängsten. Die Nation drohte durch die politischen Entwicklungen faktisch zu entgleiten, der als Provisorium angelegte neue West-Staat konsolidierte sich und prosperierte zu einem Dauerzustand.

Die jüngste Vergangenheit war für jene, die bereit waren, die beispielsweise in den Nürnberger Prozessen ausgebreiteten Fakten zu rezipieren, desavouiert. In der weiter zurückliegenden Vergangenheit ließen sich hingegen immer noch historische Orte der Nation entdecken, aus denen sich positive Selbstvergewisserung ziehen ließ. Wenn schon die Diskreditierung der jüngsten Vergangenheit akzeptiert werden musste - sei es aus Kalkül, Konzession oder Einsicht -, so galt es, die übrigen Erinnerungsorte vor unwillkommenen Interpretationen zu bewahren. Mit dem Material für die Geschichtsschreibung schien die Geschichtsdeutung selbst verloren zu sein. Der physische Entzug des Papiers und der ausländische Blick in die Akten lösten in der publizistischen Überhöhung gleichsam einen mnemonischen Hirnschlag aus; oder eben, in zeitgenössischer Diktion, eine "Lähmung der Nervenstränge unseres nationalgeschichtlichen Erinnerungsvermögens". Hier erst drohte die eigentliche Gefahr: Ohne die Orientierung durch das "nationalgeschichtliche Erinnerungsvermögen", so legt diese Lesart nahe, war der Geschichte von außen nichts mehr entgegenzusetzen. Bei solchem Kontrollverlust hätten es die Sieger dann in der Hand, "unser Bild (...) nach ihren Interessen mit dem Vorteil des ersten Eindrucks einzuprägen".

Die Geschichte wurde in dieser Wahrnehmung zum Umerziehungsinstrument der Alliierten und löste die entsprechenden Abwehrreflexe aus. Dass es sich bei der Edition nicht um darstellende und damit interpretierende Geschichtsschreibung handelte, sondern um die Veröffentlichung von Quellen, spielte keine Rolle. Den deutschen Historikern, so meinte ein Kommentator, stehe "das erste Anrecht" auf die Akten zu. Ihr Fehlen bei den Arbeiten an der Dokumenten-Edition war nicht nur eine Stilfrage. Zwar traute sich keine Zeitung, der Edition ihre wissenschaftlichen Meriten abzusprechen; eine gewisse Beißhemmung gegenüber den vormaligen Besatzern blieb bestehen. In bemüht diplomatischen Tönen, aber dennoch deutlich, kommentierte aber die Frankfurter Allgemeine Zeitung: "So neidlos wir diese wissenschaftlichen Bemühungen begrüßen, weil gewissenhafte Forschung ohne Ansehen der Nationalität des Forschenden Früchte für alle Nationen trägt, so bedauerlich, ja bisweilen bestürzend war es doch, dass die deutsche historische Wissenschaft von dieser Arbeit ausgeschlossen war."

Akten und Souveränität

Briten und Amerikaner rechneten durchaus damit, dass die junge Bundesregierung die Akten zurückfordern würde. Sie stellten im Vorwort des ersten Bandes der Dokumentenedition die Rückgabe vage für einen Zeitpunkt in Aussicht, wenn in Deutschland "gefestigtere Zustände herrschen" würden - eine Formulierung, der noch der Geruch der unmittelbaren Nachkriegszeit anhaftete, und die die Westdeutschen nach der Gründung der Bonner Republik als nicht mehr zeitgemäß betrachteten. Denn für die Bundesdeutschen war die Verfügungsgewalt über das Schriftgut vergangener Reiche Bestandteil der staatlichen Souveränität. Im Mai 1951 befand der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein, dass die Einbehaltung der diplomatischen Akten sich nicht mehr mit dem "heutigen Grad an Souveränität" vertrage. Die Verhandlungen um den "Generalvertrag" boten Gelegenheit, die Grenzen der Souveränität abermals auszudehnen. Der Versuch, 1952 die Aktenfrage gerade im Vertragswerk zur Ablösung des Besatzungsstatuts zu regeln, war nicht nur pragmatisch, sondern auch symbolisch. Ein "ausgebombter Historiker" schrieb an den Kanzler, "dass, wenn wir als Nation bei dem Generalvertrag mehr als 'eine Scheibe Souveränität' bekommen sollten, wir dann auch als Volk unsere Archive wiederhaben müssten".

Die deutsche Forderung stieß bei den Alliierten auf Widerstände. Noch waren weder die Amerikaner und schon gar nicht die Briten bereit, an den Documents on German Foreign Policy Abstriche zu machen, die der Welt mit viel Fanfare angekündigt worden waren. Allerdings ließ sich nicht übersehen, dass die realpolitische Linie auf eine Integration Westdeutschlands hinauslief. Oder, wie ein britischer Diplomat es ausdrückte: Man könne diesen Wunsch jener Bonner Regierung, die man selbst ja mit geschaffen habe, langfristig wohl kaum abschlagen. Um sich aus diesem Dilemma zu befreien, boten die Alliierten der Bundesregierung im Juli 1951 an, bestimmte Aktengruppen sofort zurückzugeben, die für die Edition nicht benötigt wurden. Hierbei hätte es sich um Tonnen von Papier gehandelt: Protokoll- und Konsulatsakten sowie alles Material bis 1914. Außerdem luden sie einen deutschen Historiker von internationalem Rang ein, Mitherausgeber der Edition zu werden und einen Mitarbeiterstab nach Großbritannien zu entsenden. Nach Abschluss der Arbeiten sollten dann alle übrigen diplomatischen Akten unter der Bedingung nach Bonn gegeben werden, dass sie zukünftig der internationalen Forschung voll zugänglich sein würden.

Der Bundesregierung reichte dieses Angebot nicht aus. Adenauer verlangte von den Hohen Kommissaren eine prinzipielle Erklärung, dass die in alliiertem Besitz befindlichen Archive deutsches Eigentum seien und zurückgegeben würden, und bestand auf sofortiger Rückgabe der gesamten Akten des ehemaligen Auswärtigen Amts. Den alliierten Wunsch, die Dokumentenedition fortzuführen, griff er mit dem Angebot auf, den gesamten Mitarbeiterstab in die Bundesrepublik zu verlegen und das Projekt dort unter deutscher Beteiligung fortzusetzen. Dafür genehmigte der Bundestag Mitte 1953 über eine halbe Million Mark - eine stattliche Summe für die Finanzverhältnisse der jungen Republik. Mit dem Geld mietete das Auswärtige Amt Schloß Gymnich bei Köln an, in das Akten und Historiker nach Wunsch der Bonner Diplomaten einziehen sollten. Eine deutsche Mitarbeit in Großbritannien kam für die Bundesregierung hingegen nicht in Frage.

Das deutsche Gegenangebot kam zumindest dem State Department gerade recht. Dort hatte man nach Kriegsende die Aufgabe unterschätzt, aus gut 400 Tonnen Akten eine mehrbändige Dokumentenedition zusammenzustellen. Das Projekt war aber nicht, wie ursprünglich angenommen, in drei bis vier Jahren abgeschlossen. Die Zeitgeschichte "qualmte" bald nicht mehr, ein Ende der Edition war dennoch nicht abzusehen. Allerdings kamen die amerikanischen Diplomaten mit diesem Anliegen beim Londoner Foreign Office nicht weit. Britische Historiker, die an der Dokumentenedition mitarbeiteten oder in dem vom Foreign Office bestellten wissenschaftlichen Beirat des Projekts saßen, schlossen einen Umzug der Documents on German Foreign Policy an den Rhein kategorisch aus. Sobald die Akten wieder in deutsche Hände gelangten, argumentierten sie, würden belastende Dokumente unterschlagen werden, die "Objektivität" der Edition wäre nicht länger gewährleistet.

Um ihre Position zu untermauern, nutzten sie den vollen Aktenzugang und unterzogen die deutsche Edition Große Politik der zwanziger Jahre einer genauen Prüfung. Die dabei nachgewiesenen Mängel wurden 1953 als Argumente gegen die Rückgabe geschickt in die Fachpresse gespielt. Die britischen Historiker konnten dabei auf Unterstützung aus höchsten Kreisen rechnen. Winston Churchill hatte ebenfalls ein Interesse daran, die Kontrolle über das deutsche Material zu behalten. Er befürchtete noch immer Enthüllungen, welche die britische Königsfamilie kompromittieren könnten. Dass der Premier auf Seiten der Historiker stand, war im Foreign Office wohl bekannt und zwang die Diplomaten zu Rücksichtnahmen im eigenen Lager, die sie selbst jedoch für die falsche Politik gegenüber der Bundesregierung hielten. Das volle Ausmaß der internen Auseinandersetzungen hinter den diplomatischen Kulissen erschloß sich der deutschen Seite nie. Dort registrierte man nur, dass die Zeit verging, die Verhandlungen nicht vom Fleck kamen und die Ratifikation der Pariser Verträge immer näher rückte.

Die Ergebnislosigkeit der Verhandlungen trotz beachtlicher materieller Vorleistungen der Bundesregierung wuchs sich schließlich zu einem wunden Punkt aus, den die DDR-Propaganda geschickt zu nutzen verstand. Im Juni 1955 gab die sowjetische Regierung eine Ladung Archivalien an die DDR-Regierung zurück. Diese vermarktete den "hochherzigen Beschluß des Ministerrats der UdSSR" als "neuen Vertrauensbeweis" und ritt herum auf der "beschämenden Tatsache, dass die Regierungen der USA und Englands das in ihren Händen befindliche deutsche Archivmaterial noch immer zurückhalten und sich bis jetzt beharrlich geweigert haben, es zu übergeben". Im Timing lag die Spitze: So kurz nach dem Pariser Ratifikationstriumph, in dessen Folge "in Bonn endlich die Souveränität ausgebrochen ist", wollten die Sowjets mit der Rückgabe bewusst düpieren. Die Bundesregierung mit ihrer Souveränitätsrhetorik sollte vorgeführt, ihr Alleinvertretungsanspruch karikiert werden. Die Botschaft kam an: "Wie es um unsere Souveränität tatsächlich bestellt ist", kommentierte Der Spiegel, "beweist das Schicksal der deutschen Archive, die sich noch in alliierten Händen befinden. Die augenblicklichen Besitzer wollen sie erst dann zurückgeben, nachdem ein großer Teil der Akten veröffentlicht worden sind. (...) Wie geschickt nutzte der Osten dieses unverständliche Verhalten unserer neuen Verbündeten in der vergangenen Woche propagandistisch aus: Das Presseamt der DDR teilte mit, dass die Sowjet-Union einen großen Teil der erbeuteten deutschen Akten zurückgegeben habe."

Im März 1956 konnte der Störfaktor zwischen der Bundesregierung und den "neuen Verbündeten" endlich beseitigt werden. Die Rückgabeverhandlungen waren zu diesem Zeitpunkt längst zu einem ungeliebten Anhängsel der "großen Fragen" der deutsch-alliierten Beziehungen geworden und hatten ein gehöriges Maß an diplomatischer Energie gebunden. Einem formellen Abkommen gingen alle Beteiligten nach dem mehrjährigen Verhandlungsmarathon ermüdet aus dem Weg. Stattdessen machte ein einfacher Notenwechsel zwischen dem Auswärtigen Amt und den westalliierten Botschaftern den Weg frei, mit der Rückgabe der diplomatischen Akten zu beginnen. Dabei sicherte die Bundesregierung zu, dass alle Papiere nach ihrem Umzug von Großbritannien nach Bonn der internationalen Forschung uneingeschränkt zur Verfügung stehen würden, eine Zusage, die sich im Hinblick auf Wissenschaftler aus der DDR und Polen als zunehmend delikat erweisen sollte. Im Herbst 1956 trafen die ersten 100 Tonnen Akten ein, im April 1957 wurde der Lesesaal des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts wieder eröffnet. Die Documents on German Foreign Policy blieben unvollendet. Zur Zeit der Rückgabe lagen neun Bände auf Englisch und sieben Bände auf Deutsch für die Zeit von 1933 bis 1941 vor. Vorarbeiten für weitere Bände waren zum Teil weit fortgeschritten. Die Bundesregierung nahm 1960 den Faden wieder auf und lud amerikanische, britische und französische Historiker ein, das Projekt in Bonn als Vierländeredition fortzusetzen. Die Akten zur deutschen auswärtigen Politik, erweitert um die Jahre von 1918 bis 1945, kamen 1995 zu einem Abschluss.

Die Rückkehr der Akten und der Übergang des Publikationsprojekts in deutsche Hände waren eine öffentlichkeitswirksame Genugtuung, die dem Thema der Beuteakten viel von seiner politischen Brisanz nahm. Das Problem deutscher Akten im Ausland war damit allerdings noch lange nicht gelöst. Verhandlungen um weiteres Material im Gewahrsam der Westalliierten schlossen sich unmittelbar an. Nach 1989/90 tat sich dann erstmals die Möglichkeit auf, Näheres auch über die von der Roten Armee beschlagnahmten Aktenbestände und verschleppten Kulturgüter zu erfahren. Sensationsmeldungen über verschollen geglaubteGeheimdienstunterlagen, Musikalien und Nachlässe riefen einmal mehr die Verwerfungen in der Archivlandschaft in Erinnerung, die der Zweite Weltkrieg mit den unzähligen Plünderungen und Gegen-Plünderungen hinterlassen hatte. Allerdings sind Fragen nach der Rückgabe von deutschem Archivgut nicht noch einmal rhetorisch so explizit mit dem Problem staatlicher Souveränität verknüpft worden, wie es in den fünfziger Jahren der Fall gewesen war. Damals war es der hohe Symbolcharakter gerade der diplomatischen Akten gewesen, der aus dem Anliegen umgehend eine Prestigefrage machte. Aber auch die spezifische Textur der Bonner Politik in den ersten Jahren der Bundesrepublik, als ein Schlussstrich unter die Besatzungsherrschaft und die Liquidierung ihrer Folgen ein zentrales Anliegen für Politiker aller Parteien war, hatte ihren Anteil daran.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2004, S. 22 - 120.

  2. Resolution des Archivtags in Wiesbaden, Mai 1949, in: Der Archivar, 2 (1949) 2, S. 48; Entschließung des deutschen Historikertages, in: Historische Zeitschrift, 169 (1949), S. 669f.; Bundestag, 1. Wahlperiode 1949, Drucksache Nr. 149, 27. 10. 1949.

  3. Adenauer an den Geschäftsführenden Vorsitzenden der AHK, André François-Poncet, 17. 6. 1950, in: Konrad Adenauer, Briefe 1949 - 1951, Nr. 257, bearb. von Hans Peter Mensing. Rhöndorfer Ausgabe, hrsg. von Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz, Berlin 1985, S. 232f.

  4. Ralph Jessen, Zeithistoriker im Konfliktfeld der Vergangenheitspolitik, in: Konrad Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/M. 2002, S. 153.

  5. Adolf Halfeld, Die Wilhelmstraße, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 15. 7. 1950.

  6. Die Rückkehr der Akten, in: Rheinzeitung (Koblenz) vom 25. 4. 1956.

  7. "Geschichtsquellen als Kriegsbeute. Die Akten des Auswärtigen Amts kehren zurück." Dieser Artikel findet sich ohne Quellenangabe in den Geschäftsakten des Bundesarchivs mit dem Eingangsstempel 7. 5. 1956. Bundesarchiv Koblenz (BA/K), B198, Bd. 132.

  8. Dr. K., Die Demontage unserer Geschichte. Unersetzliche Archive wurden zerstört, entführt oder dem Osten ausgeliefert, in: Hamburger Freie Presse vom 20. 10. 1950.

  9. Vgl. Alexander Demandt, Vandalismus. Gewalt gegen Kultur, Berlin 1997, S. 43, über Kunstraub.

  10. Vgl. Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 - 1990, Darmstadt 1999, S. 222 - 238.

  11. A. Halfeld (Anm. 5).

  12. "Geschichtsquellen als Kriegsbeute" (Anm. 7).

  13. Vgl. Wo bleiben unsere Akten?, in: Rheinzeitung (Koblenz) vom 21. 5. 1953.

  14. Dr. W. W., Verstopfte Quellen, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 6. 5. 1955.

  15. Die Aktenlücke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 4. 1956.

  16. Staatssekretär Walter Hallstein an den Abteilungsleiter Kultur im Innenministerium Erich Wende vom 17. 5. 1951, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, B 118, Bd. 507.

  17. Albert Mühlmeister, Hannover, an Konrad Adenauer vom 5. 5. 1952, in: ebd.

  18. Vgl. A. M. Eckert (Anm. 1), S. 180.

  19. Zur Haltung der britischen Historiker vgl. D. C. Watt, British Historians, the War Guilt Issue, and Post-War Germanophobia: A Documentary Note, in: Historical Journal, 36 (1993), S. 179 - 185. Vgl. auch Sacha Zala, Geschichte unter der Schere politischer Zensur. Amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich, München 2001, S.241-243; A. M. Eckert (Anm. 1), S. 183 - 185, 300 - 314, 378 - 388.

  20. Konkret ging es um die pronazistischen Allüren des Herzogs von Windsor, der 1936 als König Edward VIII. abgedankt hatte. Vgl. Paul R. Sweet, Der Versuch amtlicher Einflussnahme auf die Edition der "Documents on German Foreign Policy, 1933 - 1941", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 39 (1991), S. 265 - 303.

  21. Es handelte sich nur um einen Bruchteil dessen, was tatsächlich in der Sowjetunion, zum Teil in Geheimarchiven, lagerte. Vgl. Thomas Fitschen, Das rechtliche Schicksal von staatlichen Akten und Archiven bei einem Wechsel der Herrschaft über Staatsgebiet, Baden-Baden 2004, S. 209 - 212.

  22. UdSSR übergab DDR wichtige Archive. Übergabeprotokoll in Moskau unterzeichnet. Neuer Vertrauensbeweis der UdSSR, in: Neues Deutschland vom 1. 7. 1955, S. 1.

  23. So Paul Kluke vom Institut für Zeitgeschichte (München) in einem Brief an den Historiker Francis L. Carsten in London vom 5. 11. 1954, in: IfZ Hausarchiv, ID102, Bd. 39.

  24. Paul Rathje, Souveränität, in: Der Spiegel vom 1. 6. 1955, S. 4.

  25. Vgl. Astrid M. Eckert, "... and grant German and foreign scholars access at all times". Archival Access in West Germany during the Cold War, in: Michael Cook/Margaret Procter/Caroline Williams (Hrsg.), Political Pressure and the Archival Record, Chicago 2005 (i. E.).

  26. Vgl. Kai von Jena/Wilhelm Lenz, Die deutschen Bestände im Sonderarchiv Moskau, in: Der Archivar, 45 (1992), S. 457 - 467; Kai von Jena, Die Rückführung deutscher Akten aus Russland - eine unerledigte Aufgabe, in: Klaus Oldenhage (Hrsg.), Archiv und Geschichte. Festschrift für Friedrich P. Kahlenberg, Düsseldorf 2000, S. 391 - 420.

  27. Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

Dr. phil.; Research Fellow am German Historical Institute, Washington, D. C., 1607 New Hampshire Avenue NW, Washington, D. C. 20009.
E-Mail: E-Mail Link: eckert@ghi-dc.org