Einleitung
Die gegenseitige Wahrnehmung von Russen und Kaukasiern beschreiben zu wollen bedeutet, ein schier unendliches Themenfeld zu betreten. Und es ist ein sehr riskantes Unterfangen. Ausdrücklich soll es nachfolgend nicht darum gehen, als unbeteiligte Dritte Mythen und Zerrbilder, die es sowohl unter "den" Kaukasiern in Bezug auf "die" Russen als auch umgekehrt gibt, nach ihrem Wahrheitsgehalt zu untersuchen oder gar zu werten. Anliegen dieses Beitrags ist es, in der russischen Öffentlichkeit existierende Erkennungscodes in Bezug auf Kaukasien und Kaukasier aufzuzeigen und anhand von Beispielen in ihren historischen Kontext einzuordnen.
Dies scheint - trotz methodologischer Bedenken
Ausgespart werden muss eine Analyse des Diskurses über Vorurteile und die Instrumentalisierung von Stereotypen, der im Unterschied zu einem russisch-kaukasischen Dialog unter russischen Wissenschaftlern, Politikern und Publizisten durchaus geführt wird.
Vom Klischee zur Fremdheit
Vor dem Hintergrund des ersten Tschetschenienkrieges (1994 bis 1996)
Das war nicht immer so. Die Haltung gegenüber dem Kaukasus als Symbol einer Kulturgrenze und gegenüber den Kaukasiern schwankte in der russischen und sowjetischen Geschichte zwischen romantischer Begeisterung für die Kultur und Natur, ja auch für die "freiheitsliebende Wildheit" seiner Bewohner, einem zivilisatorischen Überlegenheitsgefühl und einer höhnischen Feindschaft gegenüber den "kaukasischen Räubern". Nicht zufällig lebte im ersten Tschetschenienkrieg das Klischee vom "bösen Tschetschenen", von "kriminellen Zonen" und "Räuberhöhlen" wieder auf. Politiker und Medien konnten auf Kaukasusbilder zurückgreifen, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts in enger Verbindung mit der klassischen russischen Literatur und der Formierung des russischen Nationalismus entstanden waren. Ohne die kaukasischen Dichtungen eines Puschkin ("Der Gefangene im Kaukasus"), Lermontow ("Dämon"; "Ein Held unserer Zeit") oder Tolstoi ("Kosaken"; "Hadschi Murat"), frühe Reise- bzw. Tätigkeitsberichte von Militärs und die sich darum rankenden Auseinandersetzungen (Belinskij) um einen romantisierenden literarischen Orientalismus
Doch versuchen wir, historische Etappen bei der Herausbildung russischer Zerrbilder von Kaukasien und seinen Bewohner nachzuvollziehen.
Die direkte Berührung mit Russland begann im 16. Jahrhundert mit der Gründung von Kosakengemeinden am Terek und Kuban. Mit dem russischen Vordringen "an die warmen Gewässer" wurde die Region bald zum Objekt geopolitischer Konkurrenz zwischen dem Russischen, Osmanischen und Persischen Reich. Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts konnte Russland seine Herrschaft allmählich direkt nach Südkaukasien ausdehnen. Von Georgien aus wurden bis 1828 die Grenzen an den Arax vorgeschoben. Während die heutigen Gebiete von Georgien, Armenien und Aserbaidschan unter zaristische Herrschaft gelangten, leisteten nordkaukasische Muslime den vehementesten Widerstand, auf den Russland in seiner gesamten Kolonialgeschichte seit dem 16. Jahrhundert gestoßen war. In den Kaukasuskriegen zwischen 1812 und 1864 gingen einige hunderttausend russische Soldaten durch die "kaukasische Gefechtsschule". In Dagestan und Tschetschenien wurde dieser Widerstand von Imamen geleitet und als "Ghazavat" definiert, einer Form des islamischen "Dschihad". Wie heute verfolgte Europa den Widerstand, den Dagestaner und Tschetschenen unter der Führung des Imam Schamil zwischen 1834 und 1859 der russischen Kaukasusarmee entgegensetzten, aufmerksam und nicht ohne Beifall. Im westlichen Teil der Region kämpften die in Europa kollektiv als "Tscherkessen" bezeichneten Volkgruppen mit türkischer und britischer Unterstützung gegen russische Festungen am Schwarzen Meer und hielten den Widerstand auch nach der Kapitulation Schamils noch fünf Jahre lang aufrecht. 1864 gilt als das Datum der Unterwerfung Gesamtkaukasiens. Die Tscherkessen, bis dahin die zahlenmäßig stärkste Volksgruppe im Nordkaukasus, wurden bis auf einen Überrest (1897: 44 000) vertrieben. Mehr als eine Million kaukasische Muslime flohen in Gebiete des Osmanischen Reichs. Die nachfolgende "Befriedungspolitik" war gekennzeichnet teils durch selektive Zusammenarbeit mit den Adelsschichten einiger Völker, teils durch Verdrängung ihrer Bevölkerung und Ansiedlung russischer Kolonisten, teils durch brutale Strafexpeditionen.
Versucht man vor dem Hintergrund dieser historischen Abläufe eine Rekonstruktion des modernen Kaukasusbildes, kann man mehrere Phasen verorten. Bis etwa 1820 wird der Kaukasus als geo-kulturelles Objekt entdeckt. Michail Lomonossow, Gawril Derzawin und Wassili Schukowski beschreiben ihn als "gewaltiges Bergmassiv", "die südliche Stütze Russlands", und es dominieren Attribute wie "wild" und "düster". Unverkennbar ist eine Mythologisierung des Raumes und seiner Bewohner. Die nächste Phase der Formierung eines Kaukasus-Bildes (bis 1840) wird in der russischen Kulturgeschichte als "militärisch-künstlerische Romantik" (voenno-chudozestvennyj romantizm) bezeichnet. Sie ist eng mit der Eroberung Südkaukasiens verknüpft und nutzt (zumindest bis 1828/29) Begriffe wie Freiheit, Würde, Ehrgefühl und Edelmut zur Charakterisierung der Bergbewohner, die eigentlich razbojniki, "Räuber", sind: "Ihr Gott ist die Freiheit, ihr Gesetz - der Krieg". Selbst Armut, Verrat und Müßiggang werden romantisch verklärt, und auch das Bild der stolzen, anmutigen Kaukasierin ("die Schöne Tscherkessin") fehlte nicht.
Zugleich hat die neuere Puschkin-Forschung auf Elemente aufmerksam gemacht, welche die Grundlagen für negative Stereotypen schufen: ewige Gefahr, ewiger Krieg, Bedrohung, Verrat wurden zu charakteristischen Merkmalen, die Natur und Menschen gleichsam verbanden. Persönliche Schicksale, reales Erleben Kaukasiens und literarische Reflexionen wurden eng miteinander verflochten: Der Kaukasus war eine fremde Welt, in der sich der russische Offizier als Mann "beweisen" wollte oder musste, deren Geheimnisse lockten und zu entschlüsseln waren - ob durch Kampf oder Gastfreundschaft. Eine Welt, in der alles anders war, Normen der russischen Gesellschaft nicht mehr zählten, jedoch ritterliche Ideale einer Frühzeit scheinbar existierten: natürliche Schönheit, Ehrgefühl, Risikobereitschaft, Kameradschaft. Während die Schar freier Reiter auf den verschlungenen Pfaden der Berge die Strategien der Armeen des Zaren zum Scheitern brachte, wurde die "Wildheit" zur Herausforderung für den Aristokraten. Was zählte, war der Kampf Mann gegen Mann, was dahinterstand, waren zwei grundsätzlich verschiedene Lebensweisen, aber nicht grundsätzlich verschiedene Werte. Die Lebensprinzipien des Kaukasiers besaßen magische Anziehungskraft für den jungen russischen "Helden", der eigentlich eine Mission erfüllen wollte, aber vor dem Erfahrungshintergrund der russischen Gesellschaft von einer Rückkehr zu archaischen Werten träumte. Dieser Kontrast barg das Element einer "Hass-Liebe" in sich, die sich von der Andersartigkeit angezogen und abgestoßen fühlte. Sie führte von der Frage "Wer bin ich eigentlich?" zur Frage "Wer sind wir?", von der Wahrnehmung der Andersartigkeit der kaukasischen Welt zum Problem "Was charakterisiert uns eigentlich als Russen?" Diese Herausforderung gab entscheidende Impulse für die russische Identitätsbildung des 19. Jahrhunderts. Auch wenn das Bild des Kosaken, der zwischen Russland und den "Bergen der Wilden", am Terek, stand, kaukasische und russische Elemente (die "russische Seele" mit Mut, Ehre und Freiheitsdrang, Kleidung) in sich vereinte, als eine Art Symbiose beider Elemente zur "Entschärfung" dieser Frage beitrug und er selbst zu dieser Zeit noch als Vermittler zwischen den Kulturen angesehen wurde, blieb die Welt der Kaukasier für das russische Selbstbewusstsein eine Herausforderung bis zum heutigen Tag.
Die koloniale Durchdringung der Gebiete jenseits des Großen Kaukasus, der anhaltende Kaukasuskrieg mit seinen Niederlagen und die zunehmende ethnografische Erforschung und Beschreibung der neu eroberten Gebiete leitete ein weitere Phase ein, die parallel zur Annäherung zwischen Russland und Westeuropa und der Aufnahme Russlands in die Gemeinschaft der europäischen Großmächte verlief. Das bevorzugte Medium zur Prägung von Klischees war nun nicht mehr allein die Dichtung. Das Spektrum der Autoren und Konsumenten wurde breiter. Einerseits wurden negativ besetzte Stereotype, die in der westlichen Wahrnehmung ursprünglich die Russen charakterisierten, nun von diesen auf die Völkerschaften in den eroberten Gebieten übertragen,
Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft, der Durchsetzung der Agrarreformen in Kaukasien und der Durchführung von Um- und Ansiedlungsprojekten Anfang des 20. Jahrhunderts kam ein neues Element hinzu: russische Siedler (West-, Nordkaukasus, Mugansteppe) und Arbeiter (Ölfelder von Baku und Grozny). Auf der Suche nach einem besseren Leben gerieten diese in eine doppelte Isolation: Sie waren Abgewanderte, auch Ausgestoßene der russischen Gesellschaft und nun Fremdlinge in einer Mehrheitskultur. Im Unterschied zu den Einheimischen waren sie auf sich allein gestellt, bezogen ihre Identität lediglich aus ihrer ethnischen Abstammung und Religionszugehörigkeit und erfuhren bedingten Schutz nur durch die Staatsgewalt, die jedoch ebenfalls fremd in der Region war. Das soziale Umfeld ihrer althergebrachten Normen und Bräuche hatten sie verlassen (Freiwilligkeit war für einen Kaukasier unvorstellbar, da der Ausstoß aus einer Gemeinschaft nach traditionellem Recht einer Todesstrafe gleichkam; Russen waren nach diesem Verständnis "vogelfrei"), und sie konnten sich in der Regel weder auf Sippen oder Dorfgemeinschaften stützen noch Autorität aus einer staatlichen Funktion beziehen. Sie machten sich nicht die Mühe, die neue Umgebung zu erkunden geschweige die Welt der Kaukasier
Sowohl Russen als auch Kaukasier bezogen nicht nur einen Großteil ihres Selbstwertgefühls aus der negativen Sicht der jeweiligen Fremdgruppe; in einer Zeit allgemeiner Identitätskrisen im Russischen Reich verhärteten sich Stereotype zu Vorurteilen und Feindbildern,
Der Kaukasier als "homo sovieticus"
Obwohl dank der russischen Klassik (sie blieb während der gesamten Sowjetzeit Schulstoff) die romantischen Kaukasus-Klischees nie ganz ausstarben, verschwanden sie doch mit der Vernichtung des kulturellen und sozialen Milieus, in welchem sie einstmals entstanden waren. Es erfolgte eine Reduzierung auf das literarische Phänomen. Gleichzeitig konnten bestimmte Eigenschaften umgedeutet (Freiheitswille = Widerstand, nicht gegen die russische Fremdherrschaft, sondern gegen das Zarenregime) und für die Schaffung neuer Strukturen genutzt werden. Zunächst gelang jedoch eine Entschärfung der Feindbilder. Die bis dahin vorwiegend russischen Verwaltungsbeamten wurden im Zuge der Lenin'schen Nationalitätenpolitik, der "Einwurzelung" (korenizacija), durch Einheimische ersetzt. An den Schulen lehrte man die lokalen Sprachen, von denen viele nun erstmals auch schriftlich kodifiziert wurden. Die Entscheidung für das ethnonationale Prinzip des sowjetischen Staatsaufbaus räumte den Titularnationen bestimmte Rechte in "ihrem Territorium" ein und definierte Privilegien entlang sozialer und politischer Kriterien. Vor der sozialen Definition als "Werktätiger" oder Bolschewik traten primordiale (verwandtschaftliche, dorf- oder stadtgemeinschaftliche) Bindungen zurück. Der "kaukasische Räuber" verwandelte sich in einen Vorzeigetyp für die Freundschaft der Völker inder Sowjetunion. Alphabetisierungsprogramme, Entschleierungs- und Atheismuskampagnen machten mit Hilfe des "russischen Bruders" aus unterdrückten Kaukasiern "aufgeklärte Sowjetbürger".
Gegen Ende der zwanziger Jahre griffen die sowjetischen Behörden jedoch immer brutaler in die Lebensverhältnisse der kleinen Völker ein. Lokale Rechts- und Verwaltungsorgane, autonome Dorfgerichte und islamische Bildungs- und Rechtsinstitutionen wurden beschnitten und schließlich liquidiert. Nach 1928 begann die Kollektivierung der Landwirtschaft, die im Nordkaukasus mit Zwangsumsiedlungen von Gebirgs- in Talregionen begleitet war. Die Antwort war eine Serie von Aufständen unter der Losung "Ghazavat", die in sowjetischen Quellen als "reaktionäres Banditentum" abgestempelt wurden. Islam wurde mit Fanatismus, Widerstand mit Verrat und Zusammenarbeit mit dem ausländischen Klassenfeind gleichgesetzt. Der noch vor Jahren gefeierte "kaukasische Rebell gegen die Zarenarmee" wurde fortan zum "unzuverlässigen Element", zum "Verräter am Sowjetvolk", den es auszumerzen galt. Während im Zuge der Stalin'schen "Säuberungen" auch Antipathien auf ethnischer Grundlage eine Rolle gespielt haben mögen, erreichte die Tabuisierung von kaukasischen Negativ-Stereotypen mit dem Ausbau der Macht Stalins einen Höhepunkt. Waren in den zwanziger Jahren Kaukasus-Klischees durchaus noch Stoff für Satire, Witze oder Komödien, konnte das nun als Verhöhnung der Staatsgewalt aufgefasst werden. Dafür entstanden durch Politiker kaukasischer Herkunft (neben Stalin z.B. Ordschonikidse, Beria, Mikojan) auf der Basis von Stereotypen der Klassik neue Bilder: Stalin, der Stählerne; Kreml = Kaukasus als uneinnehmbare Hochburg/Festung. Tatsächliche (oder propagierte) Eigenschaften wurden als typisch kaukasisch interpretiert: Stalin als Patron (Gastgeber und Hausherr, "Landesvater") mit unbestechlichem Gerechtigkeitsgefühl und Scharfsinn, Bedachtsamkeit, aber auch Heißblütigkeit, der unberechenbare und mit eiserner Hand durchgreifende Held und Kriegsherr. Selbst der Personenkult erinnerte an den "einsamen Kaukasier" an der Spitze des Staates, an den "Ehrenmann, der sich aufopfert".
Trotz Völkerfreundschaft und Solidarität, erheblichen ethno-demografischen Veränderungen im Zuge der Industrialisierung Kaukasiens, die den Anteil slawischer Volksgruppen vor allem in den Städten deutlich ansteigen ließ, blieben die Vorurteile virulent und wurden durch die Machtkonzentration und Gewalt in den Händen des kaukasischen Gespanns Stalin/Beria noch verstärkt. Der Zweite Weltkrieg änderte an diesem zwiespältigen russisch-kaukasischen Verhältnis kaum etwas. Der Kampf ums Überleben verdrängte zunächst nationale Antipathien. Kaukasier erwiesen sich als besonders wagemutige Kämpfer in den Reihen der Roten Armee und bekräftigten somit Züge des früheren "kaukasischen Ritters". Andere erhofften dagegen in nationalen Verbänden der deutschen Wehrmacht eine Befreiung ihrer Heimat und entsprachen so dem Stereotyp des Verräters.
In Tschetschenien hatten sich die Unruhen bis in die Zeit des "Großen Vaterländischen Krieges" fortgesetzt. Seit Januar 1940 formierte sich hier erneut bewaffneter Widerstand. In einem regelrechten Rachefeldzug wurden nach den Deutschen 1941 (1,2 Millionen, darunter rund 50 000 Kaukasusdeutsche) in den Jahren 1943/44 mehrere kaukasische Völkerschaften deportiert: die Karatschaier vom November 1943 bis Februar 1944 (rund 70 000 Deportierte), im Februar 1944 Tschetschenen und Inguschen (310 000 bzw. 81 000), im März 1944 Balkaren (rund 37 000) und im Mai 1944 die Krimtataren (mehr als 200 000) und Volksgruppen aus dem Südkaukasus. Als Vorwand diente zumeist die Beschuldigung, die Volksgruppen stünden mit dem Kriegsgegner in Kontakt. Die deutschen Truppen hatten die betreffenden Gebiete aber in einigen Fällen (z.B. Tschetschenien) gar nicht erreicht. Die Deportierten wurden in Viehwaggons mit den Aufschriften "Banditen" und "Volksfeinde" nach Zentralasien und Sibirien transportiert, und dieser Akt genozider Gewalt ging mit dem Verbot jeder weiteren Erwähnung der deportierten Völker und einer Umdeutung ihrer und eines Teils der russischen Geschichte einher: Aus dem "Ghazavat" des 19. Jahrhunderts als antikolonialer Widerstand wurde ein Aufstand feudaler, reaktionärer Kräfte, aus dem Volkshelden Schamil ein fanatischer Mullah. In den Augen der ausgebluteten Völker im europäischen Teil der Sowjetunion setzte sich das Bild der "kaukasischen Verräter und Kollaborateure" fest, denn die Propaganda verwies nicht umsonst auf die geopolitische Lage und die deutschen Interessen an den Naturressourcen Kaukasiens.
Während die tribal organisierten Tschetschenen und Inguschen in der Deportation eine Art "nationale Geburt" erlebten und sich nach dem Tode Stalins auf den Rückweg in ihre Heimat machten, wurden sie für einen Teil der russischen Intelligenzija zum Symbol für unbeugsamen Widerstand. Solschenizyn beschrieb die Tschetschenen als Nation, die sich in der Deportation am konsequentesten weigerte, "die Psychologie der Unterwerfung zu akzeptieren". Als nach ihrer Rehabilitation 1957 die vormaligen Gebietskörperschaften wieder eingerichtet wurden, kam es nicht nur zu ersten Auseinandersetzungen um ausgetauschte und beschnittene Territorien; viel entscheidender war, dass die Rückkehrer auf jene stießen, die inzwischen dort angesiedelt worden waren.
Auch in Zentralrussland kam es in der Tauwetterperiode nach 1956 zu einer Enttabuisierung russischer Feindseligkeiten gegenüber Kaukasiern, die 1986 mit der Publikation von Viktor Astafjews Erzählung "Der Fang der Gründlinge in Georgien" ihren Höhepunkt erreichte. Es kehrten nicht nur die Witze und Anekdoten über kaukasische Typen zurück. Der Ausbau der Kurorte am Schwarzen Meer und im Nordkaukasus ermöglichte auch eine Wiedergeburt kaukasischer Exotik. Die Tourismusbranche erwartete in "ihrem Orient" eine besondere Lebensart, für die vor allem die Georgier standen. Sie profitierten nicht nur vom Tourismusgeschäft, sie profilierten sich als neue "Ritter" nicht nur an den Tafelrunden ihrer Heimat, sondern zunehmend auch in den Restaurants der Städte Russlands. Die Eigenschaften der Kaukasier als Liebhaber wurden sprichwörtlich. Filme ("Die Gefangene im Kaukasus") und Theaterstücke griffen diese Typen mit (auch schwarzem) Humor auf. Andererseits erschlossen sich Kaukasier im Zuge der industriellen Entwicklung Sibiriens und des Hohen Nordens, aber auch innerhalb der Armee neue Einnahmequellen. Während "die" Russen harter, ehrlicher Arbeit nachgingen und sich beschränken mussten, machten in ihren Augen "spitzfindige Kaukasier" "schmutzige Geschäfte" und "gaben an". Das Ergebnis: Während Kaukasier sich bestärkt fühlen konnten im Gefühl einer Überlegenheit ihrer "Lebenskünste", entwickelten sich Sozialneid, Eifersucht und Verachtung für die Gesten und Posen, hinter denen nur Leere stehen konnte, aber auch Rachegelüste. Letztere konnten sich in der Verweigerung von Dienstleistungen, besonderer Dienstbeflissenheit bei der Kontrolle von Vorschriften, strengeren Prüfungen, aber auch in klarer Ablehnung oder Übergriffen auf Kaukasier in der Armee äußern. Oftmals wurden diese Mechanismen wiederum allmählich durch "kleine Geschenke" seitens der Kaukasier an die "strengen", "konservativen" Russen ausgeglichen. Man arrangierte sich, bis die Krise des Sowjetsystems immer mehr Freiräume für Schwarzmarktmechanismen ließ und ehrliche Arbeit an gesellschaftlichem Ansehen verlor. Der "geldgierige, die gutgläubigen Leute im Norden betrügende Basarnik und Kopekenzähler" wurde seit der Breschnew-Zeit neben dem "nach Autos und Importen jagenden, nur auf Mode und Äußerlichkeiten bedachten, Kinder maßlos verwöhnenden Kaukasier" zum negativen Stereotyp. Man verachtete oder hasste ihn, selbst wenn man von ihm profitierte.
In den siebziger Jahren zeitigte die territoriale Gliederung nach ethnischen Prinzipien noch andere Konsequenzen. Während die Russen dort, wo sie die Mehrheit stellten, auf Distanz zu den Kaukasiern gehen konnten, ohne ihre gesellschaftliche Stellung zu gefährden, verloren sie in Kaukasien ihre führenden Positionen an einheimische Eliten. Zunehmend differenzierte sich die Gesellschaft in Angehörige der Titularnation(en) und Minderheiten, deren Lebenswelten weitestgehend parallel existierten. Es kam zu einer Asymmetrie, die Russen zu "Gästen" machte, die dem Wohlwollen ihrer "Gastgeber" ausgeliefert waren. Während seitens der Russen Dankbarkeit für ihre Verdienste um Kultur, Wissenschaft, Bildung erwartet wurde und hier immer noch der Gedanke einer zivilisatorischen Mission bestand, hatten in den Augen der Kaukasier die Russen dafür dankbar zu sein, dass der Hausherr "für sie sorgte", dass sie bleiben "durften". Die Russen waren Fremde geblieben oder geworden in dieser großen "Sowjetheimat".
Glasnost und Perestrojka Ende der achtziger Jahre trafen auf Menschen, die bereits resigniert hatten oder nach den Ursachen für die immer offensichtlicheren Mängel des Systems suchten. Mit der Enthüllung des Ausmaßes von Verbrechen (Deportationen, Umweltfragen), von Korruption und Ämtermissbrauch kam es schnell zu Solidarisierungen, aber auch zu Schuldzuweisungen auf ethnischer Grundlage. Eine Politisierung sozio-psychologischer Vorurteile setzte ein und führte zu extremen Wortgefechten in der Literatur und in den Medien - bis hin zur Diskussion, wer denn in diesem "Haus Russland" überhaupt einen Platz finden sollte.
Der Feind im eigenen Haus
Der Zerfall der UdSSR und die bewaffneten Konflikte in den kaukasischen Republiken mit ihren Todesopfern und Tausenden von Flüchtlingen zeichnete ein neues Bild des Kaukasiers. Mit der Verstärkung nationaler Bewegungen unter den Völkern der sich auflösenden Sowjetunion gerieten auch die territorialen Verhältnisse im Nordkaukasus in Bewegung und in Konfrontation zur geschwächten russischen Zentralgewalt. Neben vielen anderen hatte im November 1990 die "Tschetscheno-Inguschische Autonome Republik"
In der Republik vollzogen sich politische Machtkämpfe zwischen Dudajew und oppositionellen Kräften. Der größte Teil der Wirtschaft lag brach. Die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe. Die in ganz Russland expandierende Schattenwirtschaft und Wirtschaftskriminalität griff in Tschetschenien besonders stark auf alle Lebensbereiche aus. In dieser Zeit wurde in Russland der Begriff der "kriminellen Freihandelszone" für die abtrünnige Republik geprägt. Das passte sowohl in das Klischee vom "räuberischen Tschetschenen", das im Kaukasusbild des 19. Jahrhunderts etabliert worden war, als auch in die Erfahrungswelt des russischen Bürgers, der den Schritt vom schlitzohrigen Geschäftemacher zum kriminellen Tschetschenen nachvollziehen konnte. Dass kriminelle Transaktionen wie die Fälschung von Finanzdokumenten und die illegale Ausfuhr von Ölprodukten ohne Hintermänner in Russland selbst kaum möglich war, blieb ausgeblendet.
Als Dudajew 1993 die Verfassung in Richtung einer Präsidialautokratie verändern wollte, kam es zum Bruch mit dem Parlament. Tschetschenien spaltete sich politisch und regional zunehmend auf. Der Moment schien günstig für einen russischen Militärschlag, der am 11. Dezember 1994 begann. Während das russische Vorgehen mit massiver Gewalt das kaukasisch-tschetschenische Bild prägte und als "unsinnige Wut", "Ausdruck eines Urhasses gegen den Freiheitswillen der Tschetschenen" aber auch als "letztes Aufbäumen eines sterbenden Tieres, eines Schwächlings" gewertet wurde, begründeten tschetschenische Kriegsherrn wie Schamil Bassajew und Salman Radujew ihren Ruhm als Widerstandshelden. In der russischen Wahrnehmung passten sie in das Bild der "Wilden", der "fanatischen Muslime", die vom Ausland unterstützt wurden (bekanntlich rekrutierten sich in den tschetschenischen Reihen auch Kämpfer aus dem Ausland), um Russland zu zerstören.
Zwar wurde der Friedensschluss vom 12. Mai 1997 von russischer Seite offiziell mit den Worten kommentiert, hier werde ein "Krieg von vierhundert Jahren endgültig beendet", aber die russische Armee zog sich zutiefst gedemütigt aus Tschetschenien zurück. Russische Militärs entwickelten eine Dolchstoßlegende, wonach schwache Politiker und Kapitulanten sie daran gehindert hätten, in Tschetschenien gründlich "aufzuräumen". Wehmütig wurde an Befugnisse von Kommandierenden des 19. Jahrhunderts erinnert und nach mehr Freiheiten für die Armee gerufen. Bis zum Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im Herbst 1999 hatte infolge des Zusammenbruchs der Volkswirtschaft und aufgrund von Zerstörung und Vertreibung fast die gesamte russische Bevölkerung die Region verlassen, und auch hunderttausende Tschetschenen waren zu Flüchtlingen geworden. Vor dem Hintergrund materiellen Elends und fehlender Staatlichkeit nahmen Wirtschafts- und Gewaltkriminalität extreme Maßstäbe an: Raubüberfälle auf Gütertransporte, auf Reisende, Viehdiebstähle gerade auch jenseits der Grenzen, illegaler Handel im "zollfreien Transit" zwischen Russland und den transkaukasischen sowie nahöstlichen Nachbarstaaten (Waffen, Rauschgift, Alkohol, Mädchen, Erdölprodukte) gehörten zum Alltag. Dazu trat die Gefangenenhaltung und Ausbeutung geraubter Zivilisten, aber auch russischer Soldaten als Sklavenarbeiter.
Die Verhältnisse ähnelten den Berichten von Kaukasus-Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts und belebten in den Köpfen vieler Russen Negativ-Stereotype. Hinzu kam, dass von 1998 an die militant islamistische Komponente der Gegner von Präsident Aslan Maschadow, insbesondere Bassajew, deutlicher hervortrat, worauf Maschadow mit einer "Islamisierung" der Staats- und Rechtsorgane reagierte. Diese politische Instrumentalisierung des Islam schürte neue Erinnerungen an den "Ghazavat" unter Imam Schamil, aber vor allem an den verlorenen Feldzug in Afghanistan. Das Trauma von Afghanistan durfte sich in Tschetschenien keinesfalls wiederholen. Noch vor dem 11. September 2001wurde im Zusammenhang mit den Übergriff tschetschenischer Verbände auf das Territorium Dagestans von "Terroristen" gesprochen, und der etwa dreiwöchige Dagestankrieg diente Moskau zum Anlass, zum zweiten Mal massiv militärisch in Tschetschenien vorzugehen. Diese Militärkampagne wurde als "Kampf gegen lokale Terroristen und ihre ausländischen Komplizen" deklariert. Ihr Beginn fiel mit dem Aufstieg Wladimir Putins an die Spitze der Staatsführung zusammen. Putin übertrug 2001 die Leitung der "Anti-Terror-Operation" vom Verteidigungsministerium an den Inlandsgeheimdienst FSB und 2003 an das Innenministerium. Die Tschetschenen waren nun nicht mehr nur "Abtrünnige", sondern "Staatsfeinde" und "Terroristen". Während die russische Seite mit "Säuberungsaktionen" und "Sondermaßnahmen" agierte, trug die Gegenseite durch Selbstmordattentate den Krieg in die russischen Städte.
Eine alltägliche Bedrohung
Inzwischen ist kaum oder nichts mehr übrig von der leicht anekdotenhaften und ironisierenden Wahrnehmung des Georgiers als sowjetischer "Lebemann und Herzensbrecher", der Armenier und Aserbaidschaner als "gewiefte Händler" und der Tschetschenen als "kleine Banditen" und "widerspenstiges Völkchen". Das Bild der Kaukasier ist vielleicht so wenig differenziert, wie es noch nie zuvor war. Die Figur des kaltblütigen kaukasischen Freischärlers bestimmt primär die russische Wahrnehmung. Er ist nicht mehr derjenige, der in seinen Bergen und Tälern Unruhe stiftet. Er ist in die russischen Metropolen gekommen, und seine Präsenz wird als alltägliche Bedrohung wahrgenommen.
"Die Kaukasophobie im gesamtrussischen Maßstab verlor endgültig ihren spöttischen Ton und lässt ein allgemeines Konstrukt aus Angst, Verachtung und Bindung hervortreten, ein Konstrukt aus den Zeiten der Kaukasischen Kriege."