Einleitung
"Worin lag das 'national' Verbindende in der Epoche der Teilung?" ist die zentrale Frage, um die weite Teile der historischen Deutschlandforschung bis heute kreisen.
Im Jahr 1968 kämpften die beiden deutschen Mannschaften schließlich doch getrennt um Medaillen, waren aber noch durch eine gemeinsame Flagge und eine gemeinsame Hymne - Beethovens Ode an die Freude - symbolisch vereint. Als Ausdruck eines nationalen Gemeinschaftsgefühls konnten die gesamtdeutschen Mannschaften jedoch kaum gelten. Vielmehr traten die Deutschen nicht gemeinsam an, weil sie es wollten, sondern weil sie es mussten.
Die ungeliebte Einheit
Als Idee reicht die Geschichte der gesamtdeutschen Mannschaften bis in die frühen 1950er Jahre zurück. Im Jahr 1951 hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) zugleich mit der Anerkennung des westdeutschen Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland (NOK) die Bildung einer gesamtdeutschen Mannschaft empfohlen. Da das ostdeutsche Pendant, das sich am 22. April 1951 konstituiert hatte, noch keine entsprechende Akzeptanz auf internationaler Ebene fand, sollten sich vorerst DDR-Sportler in eine Mannschaft unter westdeutscher Federführung einreihen. Dieses Ansinnen wurde jedoch umgehend und heftig von Sportfunktionären und Politikern der Bundesrepublik wie der DDR sabotiert. Der westdeutschen Sportführung war vorrangig daran gelegen, die SED-Funktionäre von der olympischen Ebene fern zu halten. Dementsprechend gab NOK-Präsident Karl Ritter von Halt am 25. Mai 1951 die berüchtigte Rückmeldung an Bundeskanzler Konrad Adenauer, dass er die Gespräche über die gesamtdeutsche Mannschaft mit den ostdeutschen Vertretern so geführt habe, "dass sie ergebnislos verlaufen mussten".
Der DDR-Sport auf der anderen Seite hatte neben der noch fehlenden Anerkennung seines NOK mit einem weiteren Geburtsfehler zu kämpfen: In der Frühphase konnte er kaum konkurrenzfähige Leistungssportler aufbieten. Deshalb drängte es die ostdeutsche olympische Vertretung auch nicht nach einer Teilnahme in einem gesamtdeutschen Team, in dem eigene Athleten ohnehin nur vereinzelt und weitgehend chancenlos angetreten wären. Vielmehr strebte das NOK der DDR mit Nachdruck die eigene Selbständigkeit an. Doch als dem ostdeutschen Gremium, nach wiederholten erfolglosen Anläufen, im Jahr 1955 endlich zumindest eine vorläufige Anerkennung durch das IOC winkte, machte dessen Präsident Avery Brundage die Bildung einer gesamtdeutschen Mannschaft endgültig zur conditio sine qua non einer solchen Aufwertung. Brundage sah ein vereintes Team der beiden ideologisch rivalisierenden Staaten als ein olympisches Signal "which will demonstrate to the world that where the politicians fail the sportsmen can succeed".
Diese schwierigen Voraussetzungen veranlassten schon im September 1955 Karl Ritter von Halt bei der Vorbereitung der ersten gemeinsamen Mannschaft zu dem Stoßseufzer: "Praktisch sind wir also doch zwei Mannschaften, die nach außen hin unter einen Hut gebracht sind."
Selbst während der Olympischen Spiele herrschte kein Burgfriede, die Dissonanzen waren spürbar in der Art der Berichterstattung
Die vergessenen Sportler
Jüngere Studien zum sportlichen Stellvertreterkrieg auf der Aschenbahn haben die 1950er und 1960er Jahre in diplomatischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht detailreich beschrieben,
"Lieber in der Bundesrepublik zugrunde gehen, als in die DDR zurückzukehren"
Eine der erfolgreichsten Sportlerinnen der gesamtdeutschen Mannschaft von 1964 war die 26-jährige Magdeburgerin Karin Balzer, die bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio eine Goldmedaille über 80 Meter Hürden errang. Die langbeinige Weltrekordlerin war wenig später als "attraktivste Erscheinung"
Sechs Jahre zuvor, im Juli 1958, hatte sie unter ihrem Mädchennamen Karin Richert gemeinsam mit ihrem Trainer Heinz Balzer, in den sie sich verliebt hatte, den Entschluss gefasst, in den Westen zu gehen. Beide versuchten auf diese Weise, den vorgezeichneten Laufbahnen, die ihnen der Staatssport aufnötigte, zu entkommen. So lehnte Richert, die aus einem kirchlichen Elternhaus stammte, die bevorstehende Delegierung zum SC Dynamo Berlin ab; zum einen, weil sie politische Vorbehalte gegenüber dem "Stasi-Klub" hatte, zum zweiten, da es immer wieder Gerüchte über die harten Trainingsmethoden und den hohen Athletenverschleiß in dieser sportlichen Renommier-Einrichtung der "Hauptstadt der DDR" gab. Gemeinsam fuhren Richert und Balzer am 21. Juli 1958 über die Grenze nach West-Berlin und dann weiter nach Ludwigshafen, wo sie beim SV Phoenix unterkamen. Der rheinland-pfälzische Verband kümmerte sich darum, dem jungen Paar Arbeitsplätze zu beschaffen, so dass Balzer als Schlosser und seine Freundin als Chemielaborantin Anstellung fanden.
Es dauerte nur wenige Tage, bis die Staatssicherheit ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht hatte. Es wurden "Maßnahmen eingeleitet", um "die Tochter über den Vater aus Westdeutschland zurückzuholen". Karin Richerts Eltern erhielten kurz darauf Besuch von Stasi-Mitarbeitern, die zunächst auf "großen Widerstand" stießen. Doch, einmal unter Druck gesetzt, reiste Balzers parteiloser Vater schließlich seiner Tochter nach Ludwigshafen hinterher, begleitet von MfS-Angehörigen, die eilfertig soufflierten, wann immer dem alten Herrn die Stimme versagte, während er seine Tochter gegen seine Überzeugung zur Rückkehr bewegen musste. Aber das junge Paar blieb zunächst standhaft, so dass die Stasi ein "Scheitern" ihrer Mission verzeichnete. "Er würde also dann lieber in der Bundesrepublik zugrunde gehen, als in die DDR zurückzukehren", hielt das MfS die Entgegnung Heinz Balzers fest. Erst nach unmissverständlichen Drohungen, dass die in der DDR verbliebenen Familien beider Flüchtlinge die Folgen ihres "Verrats" zu spüren bekommen würden, entschlossen sich Richert und Balzer zur Rückkehr. Die Strafe - ein Jahr Wettkampfsperre - fiel für DDR-Verhältnisse vergleichsweise milde aus, jedoch versprach sich der SED-Staat noch einiges von den jungen Talenten.
Eine gänzlich erfundene Version der Fluchtmotive und ihrer Hintergründe wurde in Form einer gefälschten eidesstaatlichen Erklärung Heinz Balzers dem IOC und der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Hier präsentierten sich vermeintlich reuige Sünder, die aufgrund finanzieller Schwierigkeiten und politischer Opposition zur Bundesrepublik freiwillig und empört den Weg in die sozialistische Heimat gesucht hatten.
Im Unterschied zu Karin Balzer kehrten die meisten "republikflüchtigen" Sportler nicht in die DDR zurück. Einer der für den SED-Staat unangenehmsten Fälle ereignete sich Anfang des Jahres 1968, kurz bevor die DDR das erste Mal selbständig bei Olympia antreten durfte.
Flucht aus dem Trainingslager
Am 19. Januar 1968 schlich sich der Nordische Kombinierer Ralph Pöhland, ostdeutsche Medaillenhoffnung für die bevorstehenden Olympischen Winterspiele in Grenoble, um Mitternacht auf den Balkon des Teamhotels der Ski-Nationalmannschaft der DDR, die sich im schweizerischen Les Brassus im Trainingslager befand. Mit Georg Thoma, bundesdeutscher Ski-Weltmeister von 1966, hatte er einen prominenten Fluchthelfer, der in der Nähe angespannt im startbereiten Porsche auf ihn wartete. Pöhland erstarrte, als jäh grell aufstrahlende Scheinwerfer ihn blendeten. "Ich hatte wahnsinnige Angst, ich habe gedacht, jetzt haben sie mich erwischt", erinnert sich Pöhland heute an die furchtbare Schrecksekunde. Aber Georg Thoma beruhigte ihn: "Komm, Ralph, du brauchst keine Angst zu haben. Das ist das ZDF." Pöhland sprang - die Szene wurde vom Wintersport-Experten des Zweiten Deutschen Fernsehens, Bruno Moravetz, mit Kameramann und Tontechniker festgehalten.
Diese wie ein Revolverroman anmutende Fluchtgeschichte ereignete sich kurz vor dem ersten olympischen Auftritt einer eigenständigen DDR-Mannschaft bei den Winterspielen im französischen Grenoble. Ralph Pöhland sprang in die Freiheit, da er in den Jahren zuvor sportlich und persönlich von SED-Funktionären schikaniert worden war. Doch liefen in dieser denkwürdigen Nacht in den Schweizer Alpen mehrere Fäden zusammen, die für die deutsch-deutschen Sportbeziehungen dieser Zeit charakteristisch waren: Das Entkommen des DDR-Athleten verstärkte das wachsende "Republikflucht"-Trauma des ostdeutschen Staatssports; der westdeutsche Sport leistete aktive Fluchthilfe - ein bislang nahezu unbekanntes Kapitel der Sportgeschichte; schließlich war es der Beginn der Leidensgeschichte von Pöhlands in der DDR lebenden Angehörigen.
Wenige Tage nach der Flucht Ralph Pöhlands erging Haftbefehl gegen ihn, einige Wochen später verloren beide Eltern ihre Anstellungen in staatlichen Betrieben.
Sind die frühen Fluchtfälle im DDR-Sport noch kaum aufgearbeitet, so gilt dies erst recht für ein weiteres historisches Phänomen: die Beteiligung westdeutscher Sportler und Funktionäre an der Vorbereitung und dem Gelingen der häufig abenteuerlichen Fluchtunternehmen. Bis heute wird ein solcher aktiver Part der westlichen Seite selten offen eingeräumt. Der Grund erscheint einfach: In der DDR-Propaganda wurde niemals die persönliche oder politische Motivation der Flüchtenden erwähnt, sondern der Wechsel gen Westen stets als alleinige Folge rücksichtsloser "Abwerbung", wenn nicht gar "Menschenhandels" von Seiten westlicher Sportfunktionäre verzerrt. Offenkundig hatte der bundesdeutsche Sport zur Zeit des Kalten Krieges nicht die Absicht, ein derartiges Propagandaszenario durch öffentliche Bekanntgabe der eigenen Beteiligung in einzelnen Fällen der Fluchthilfe zu bedienen. Dennoch wäre es lohnenswert, systematisch der Frage nachzugehen, inwieweit derartige Aktionen vom westdeutschen Sport gefördert wurden, sei es, um einzelnen Athleten das Entkommen aus der Diktatur zur ermöglichen, sei es, um den kommunistischen Gegner auf der Aschenbahn gezielt sportlich zu schwächen. Der Fall Pöhland liefert für letztere Motivation einige Anhaltspunkte: Georg Thoma wartete um Mitternacht im Porsche nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf explizite Weisung des westdeutschen Skiverbandes. Ralph Pöhland selbst schätzt die Konstellation rückblickend so ein: "Durch meine Flucht hatten die Westdeutschen bei der ersten olympischen Konkurrenz mit der DDR einen wichtigen Gegner weniger." Nur durch eine gründliche Auswertung der Verbandsarchive und zahlreiche Zeitzeugeninterviews sind sämtliche Hintergründe erklärbar, die den schwierigen Weg flüchtender Sportler zwischen Ost und West bestimmten und begleiteten.
Ein letzter Blick soll der Rolle der Medien gelten: Bruno Moravetz vom ZDF hatte in der Nacht von Les Brassus eigentlich einen großen journalistischen Coup gelandet. Durch einen Tipp des befreundeten Georg Thoma war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um das Geschehen aufzunehmen. Doch wurde seine Verfilmung des Sprungs nie gesendet. Zwar präsentierte bereits am nächsten Abend das "Aktuelle Sportstudio" sowohl Georg Thoma als auch Ralph Pöhland live in der Sendung, um die gelungene "Republikflucht" publik zu machen. Doch scheute sich die ZDF-Sportredaktion, einzugestehen, dass eigene Journalisten bei dieser Flucht im wahrsten Sinne des Wortes die Lampe gehalten hatten. Hier spielte auch Sorge um das Wohlergehen der Beteiligten eine Rolle - nicht ohne Grund, denn Bruno Moravetz wurde trotz dieser Vorsichtsmaßnahme des Senders kurz darauf von einem ostdeutschen Journalisten gewarnt, nie mehr in die DDR zu reisen. Der Film von Pöhlands Sprung verschwand in der Folgezeit als unscheinbarer "Take 004"
"War minus the shooting"
Der visionäre Schriftsteller George Orwell, der in seinem Roman "1984" wie kein anderer die Schrecken eines modernen Überwachungsstaates vorwegnahm, zeigte sich auch in anderer Hinsicht prophetisch. Mit seiner Sentenz, Leistungssport sei nichts anderes als "war minus the shooting",
Als im Jahr 1989 die Mauer fiel, die SED ihren Machtzugriff verlor und sich zahlreiche Verfolgte des Regimes öffentlich zu Wort melden konnten, waren es nicht die DDR-Sportler, die zunächst als Opfergruppe ins Blickfeld gerieten. Es artikulierten und organisierten sich erstmals zahlreiche politisch oder konfessionell Verfolgte, die lange Jahre in Bautzen oder ähnlichen Hafteinrichtungen durchleben mussten, Opfer der Enteignungspolitik, politische Oppositionelle, und viele, die auf eine Karriere im realsozialistischen System verzichtet hatten, um sich durch die Machtverhältnisse nicht korrumpieren zu lassen. Fast allen war gemein, dass sie entweder aus intellektueller Überzeugung oder durch einschneidende Erlebnisse bereits zu DDR-Zeiten zu Gegnern des Regimes geworden waren. Im Unterschied zu ihnen hatten ostdeutsche Athleten nicht nur zu den funktionierenden Bausteinen des DDR-Systems gehört, sondern vielmehr als werbewirksame Aushängeschilder fungiert.
Als Opfer wurden einzelne DDR-Sportler erst vergleichsweise spät wahrgenommen, und hier vor allem im Zuge der Diskussion um das staatlich angeleitete Zwangsdoping. Die Würdigung des Leids der Betroffenen wurde durch verschiedene Faktoren erschwert: Zum einen durch ihre späte organisatorische Formierung,
Im Unterschied zur Dopingproblematik ist die Geschichte der "Republikflucht" von Sportlern, ihrer Motive und ihrer Konsequenzen, bislang kaum beachtet worden. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich bislang vorwiegend auf einige Fälle im Fußballsport in den 1970er und 1980er Jahren, wie etwa das Schicksal von Lutz Eigendorf.