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Sportler zwischen Ost und West

Jutta Braun

/ 17 Minuten zu lesen

Von 1956 bis 1964 traten gesamtdeutsche Olympiamannschaften bei den Spielen an. Dennoch war der Sport in der frühen DDR stark "durchherrscht", wie zwei Beispiele von "republikflüchtigen" Sportlern zeigen.

Einleitung

"Worin lag das 'national' Verbindende in der Epoche der Teilung?" ist die zentrale Frage, um die weite Teile der historischen Deutschlandforschung bis heute kreisen. Sicherlich nicht in den gesamtdeutschen Olympiamannschaften, möchte man hierauf aus sporthistorischer Sicht erwidern. Die olympischen Winter- und Sommerspiele der Jahre 1956, 1960 und 1964 sind die Wegmarken, die das organisatorische Abenteuer der Bildung gesamtdeutscher Teams aus Ost- und Westdeutschland bezeichneten.


Im Jahr 1968 kämpften die beiden deutschen Mannschaften schließlich doch getrennt um Medaillen, waren aber noch durch eine gemeinsame Flagge und eine gemeinsame Hymne - Beethovens Ode an die Freude - symbolisch vereint. Als Ausdruck eines nationalen Gemeinschaftsgefühls konnten die gesamtdeutschen Mannschaften jedoch kaum gelten. Vielmehr traten die Deutschen nicht gemeinsam an, weil sie es wollten, sondern weil sie es mussten.

Die ungeliebte Einheit

Als Idee reicht die Geschichte der gesamtdeutschen Mannschaften bis in die frühen 1950er Jahre zurück. Im Jahr 1951 hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) zugleich mit der Anerkennung des westdeutschen Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland (NOK) die Bildung einer gesamtdeutschen Mannschaft empfohlen. Da das ostdeutsche Pendant, das sich am 22. April 1951 konstituiert hatte, noch keine entsprechende Akzeptanz auf internationaler Ebene fand, sollten sich vorerst DDR-Sportler in eine Mannschaft unter westdeutscher Federführung einreihen. Dieses Ansinnen wurde jedoch umgehend und heftig von Sportfunktionären und Politikern der Bundesrepublik wie der DDR sabotiert. Der westdeutschen Sportführung war vorrangig daran gelegen, die SED-Funktionäre von der olympischen Ebene fern zu halten. Dementsprechend gab NOK-Präsident Karl Ritter von Halt am 25. Mai 1951 die berüchtigte Rückmeldung an Bundeskanzler Konrad Adenauer, dass er die Gespräche über die gesamtdeutsche Mannschaft mit den ostdeutschen Vertretern so geführt habe, "dass sie ergebnislos verlaufen mussten".

Der DDR-Sport auf der anderen Seite hatte neben der noch fehlenden Anerkennung seines NOK mit einem weiteren Geburtsfehler zu kämpfen: In der Frühphase konnte er kaum konkurrenzfähige Leistungssportler aufbieten. Deshalb drängte es die ostdeutsche olympische Vertretung auch nicht nach einer Teilnahme in einem gesamtdeutschen Team, in dem eigene Athleten ohnehin nur vereinzelt und weitgehend chancenlos angetreten wären. Vielmehr strebte das NOK der DDR mit Nachdruck die eigene Selbständigkeit an. Doch als dem ostdeutschen Gremium, nach wiederholten erfolglosen Anläufen, im Jahr 1955 endlich zumindest eine vorläufige Anerkennung durch das IOC winkte, machte dessen Präsident Avery Brundage die Bildung einer gesamtdeutschen Mannschaft endgültig zur conditio sine qua non einer solchen Aufwertung. Brundage sah ein vereintes Team der beiden ideologisch rivalisierenden Staaten als ein olympisches Signal "which will demonstrate to the world that where the politicians fail the sportsmen can succeed". Doch diese idealisierte Vorstellung vom olympischen Geist als friedensstiftender Kraft hatte mit der Realität nicht viel zu tun. Hinter den Kulissen strebten die beiden feindlichen deutschen Brüder weiterhin höchst unterschiedliche Ziele an: Der Osten hoffte, über das gesamtdeutsche Auftreten als seriöses Mitglied der olympischen Familie vom IOC ernst genommen zu werden und so mittelfristig die endgültige Anerkennung seines NOK und damit auch die olympische Selbständigkeit zu erreichen. Der Westen hingegen wollte genau dies verhindern. Keinesfalls sollte es der DDR jemals gelingen, "mit einer eigenen Mannschaft in Erscheinung zu treten, um im Verfolg der kommunistischen Weltpolitik das Nebeneinander-Bestehen zweier deutscher Staaten vor den Augen der Welt und im Blickwinkel eines so spektakulären Weltereignisses, wie es die Olympischen Spiele darstellen, evident zu machen".

Diese schwierigen Voraussetzungen veranlassten schon im September 1955 Karl Ritter von Halt bei der Vorbereitung der ersten gemeinsamen Mannschaft zu dem Stoßseufzer: "Praktisch sind wir also doch zwei Mannschaften, die nach außen hin unter einen Hut gebracht sind." Die Querelen, die sich angesichts der angespannten politischen Lage in den nächsten Jahren um die Bildung der Teams ranken sollten, waren ebenso zahlreich wie hartnäckig. Streitereien entzündeten sich am Modus des Auswahlverfahrens der Sportler, der Gestaltung der gemeinsamen Flagge und Bekleidung, am angemessenen Ort der Qualifizierungskämpfe ebenso wie der Benennung des "Chef de Mission" und den Verantwortlichkeiten bei der Erledigung des Schriftverkehrs. Drastisch waren die Beschimpfungen, mit denen sich beide deutsche Partner während ihrer unglücklichen olympischen Ehe direkt und in der Kommunikation mit dem IOC belegten. In den ostdeutschen Sportfunktionären konnte der seit 1961 amtierende NOK-Präsident Willi Daume nur "armselige Marionetten" erkennen, im Chef des ostdeutschen NOK Heinz Schöbel sah er "not more than a dummy". Erfolglos versuchte das IOC von Zeit zu Zeit, mit mahnenden Worten die Wogen zu glätten. Während der Westen eifrig Belastungsmaterial über Politisierung und Prämiensystem im DDR-Sport sammelte, um die Position des ostdeutschen NOK gegenüber dem IOC zu destabilisieren, zeterte die ostdeutsche Propagandapresse regelmäßig im "Stürmerstil" über die "westdeutschen Revanchisten".

Selbst während der Olympischen Spiele herrschte kein Burgfriede, die Dissonanzen waren spürbar in der Art der Berichterstattung und der offiziellen Zurechnung der Medaillen, selbst innerdeutsche Glückwünsche gerieten zum publizistisch aufgeplusterten Ärgernis. Nach dem Mauerbau 1961 spitzte sich die politische Situation derart zu, dass eine weitere gemeinsame Olympiamannschaft für das Jahr 1964 zunächst unmöglich erschien. Am 28. November 1962 äußerte Willi Daume deshalb gegenüber IOC-Kanzler Otto Mayer erstmals einen "einstweilig streng vertraulichen Vorschlag", um die verfahrene Situation zu lösen: "Wäre es nicht denkbar, dass das IOC folgende Anordnung trifft: West-Deutschland stellt eine eigene Mannschaft und Ost-Deutschland stellt auch eine eigene Mannschaft auf. Beide sind aber vereint unter dem gleichen Symbol, also schwarz-rot-goldene Fahne mit den olympischen Ringen und Beethoven-Hymne." Eine solche Regelung habe "sportlich den gewaltigen Vorteil, dass die Belastung mit den gesamtdeutschen Ausscheidungskämpfen entfiele, die so viel Ärger bringen, die Atmosphäre vergiften und ein großes Handikap für die Aktiven sind". Auch war er sich sicher, dass die öffentliche Meinung und die der Sportler mittlerweile gegen eine gemeinsame Mannschaft seien. Doch war die Zeit noch nicht reif für seinen Vorschlag, das IOC lehnte scharf ab - erst 1968 wurde Daumes Idee erstmals bei den Olympischen Winterspielen in Grenoble Wirklichkeit.

Die vergessenen Sportler

Jüngere Studien zum sportlichen Stellvertreterkrieg auf der Aschenbahn haben die 1950er und 1960er Jahre in diplomatischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht detailreich beschrieben, hierbei jedoch zwei Dimensionen vermissen lassen, wobei es sich bei der ersten um eine inhaltliche, bei der zweiten um eine gravierende methodische Einschränkung handelt: Zum einen werden die Schicksale einzelner Athleten, die als die Akteure des Klassenkampfes in der Arena eine zwar instrumentalisierte, jedoch elementare und durchaus individuell geprägte Rolle spielten, dem analytischen Blickwinkel nahezu gänzlich vorenthalten. Zum zweiten verzichtet selbst eine kompakt angelegte und sich als "politische Geschichte" verstehende Studie auf die Auswertung des Aktenmaterials der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), obgleich es sich beim ostdeutschen Sportsystem um einen massiv durchherrschten Bereich der SED-Diktatur handelte. Dies ist umso bedauerlicher, als Akte politischer Repression im DDR-Sport - auch in den ersten Dekaden der deutschen Teilung - zumeist explizit mit Blick auf die Systemkonkurrenz zum deutschen "Polarisierungszwilling" erfolgten. Sie müssen deshalb als integraler Bestandteil in ein umfassendes Bild der Geschichte der deutsch-deutschen Sportbeziehungen einbezogen werden. Anhand der Schicksale von zwei Sportlern, die in den 1950er und 1960er Jahren aus der DDR flüchteten, soll an dieser Stelle gezeigt werden, welche heute nahezu vergessenen machtpolitischen Mechanismen jenseits der bislang von der Geschichtswissenschaft ausführlich beschriebenen sportdiplomatischen Ebene wirksam wurden.

"Lieber in der Bundesrepublik zugrunde gehen, als in die DDR zurückzukehren"

Eine der erfolgreichsten Sportlerinnen der gesamtdeutschen Mannschaft von 1964 war die 26-jährige Magdeburgerin Karin Balzer, die bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio eine Goldmedaille über 80 Meter Hürden errang. Die langbeinige Weltrekordlerin war wenig später als "attraktivste Erscheinung" strahlender Mittelpunkt eines Galaempfangs, den Walter Ulbricht am 16. November 1964 für die heimgekehrten ostdeutschen Olympiateilnehmer im Festsaal des Hauses des Staatsrates in Ost-Berlin ausrichten ließ. Doch hatte die blonde Vorzeige-Athletin im kirschblütenrosa Festkleid, die nun ungezählte Glückwünsche als Star der gesamtdeutschen Mannschaft vom SED-Funktionärskorps entgegennahm, wenige Jahre zuvor bitterlich zu spüren bekommen, dass es eben dieses Gesamtdeutschland nach dem Willen der SED nicht mehr geben durfte.

Sechs Jahre zuvor, im Juli 1958, hatte sie unter ihrem Mädchennamen Karin Richert gemeinsam mit ihrem Trainer Heinz Balzer, in den sie sich verliebt hatte, den Entschluss gefasst, in den Westen zu gehen. Beide versuchten auf diese Weise, den vorgezeichneten Laufbahnen, die ihnen der Staatssport aufnötigte, zu entkommen. So lehnte Richert, die aus einem kirchlichen Elternhaus stammte, die bevorstehende Delegierung zum SC Dynamo Berlin ab; zum einen, weil sie politische Vorbehalte gegenüber dem "Stasi-Klub" hatte, zum zweiten, da es immer wieder Gerüchte über die harten Trainingsmethoden und den hohen Athletenverschleiß in dieser sportlichen Renommier-Einrichtung der "Hauptstadt der DDR" gab. Gemeinsam fuhren Richert und Balzer am 21. Juli 1958 über die Grenze nach West-Berlin und dann weiter nach Ludwigshafen, wo sie beim SV Phoenix unterkamen. Der rheinland-pfälzische Verband kümmerte sich darum, dem jungen Paar Arbeitsplätze zu beschaffen, so dass Balzer als Schlosser und seine Freundin als Chemielaborantin Anstellung fanden. Doch waren sie damit dem Zugriff des SED-Staates nicht entronnen: Vier Tage nach der Flucht fand eine "Aussprache" des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit Vertretern des Deutschen Turn- und Sportbundes und des Leichtathletikverbandes statt, in der einerseits das "verwerfliche Handeln der beiden Sportfreunde verurteilt", aber gleichzeitig beschlossen wurde, "dass es notwendig ist, bei Bekanntwerden der Adresse unbedingt zu versuchen, die beiden Republikflüchtigen wieder zurückzuholen".

Es dauerte nur wenige Tage, bis die Staatssicherheit ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht hatte. Es wurden "Maßnahmen eingeleitet", um "die Tochter über den Vater aus Westdeutschland zurückzuholen". Karin Richerts Eltern erhielten kurz darauf Besuch von Stasi-Mitarbeitern, die zunächst auf "großen Widerstand" stießen. Doch, einmal unter Druck gesetzt, reiste Balzers parteiloser Vater schließlich seiner Tochter nach Ludwigshafen hinterher, begleitet von MfS-Angehörigen, die eilfertig soufflierten, wann immer dem alten Herrn die Stimme versagte, während er seine Tochter gegen seine Überzeugung zur Rückkehr bewegen musste. Aber das junge Paar blieb zunächst standhaft, so dass die Stasi ein "Scheitern" ihrer Mission verzeichnete. "Er würde also dann lieber in der Bundesrepublik zugrunde gehen, als in die DDR zurückzukehren", hielt das MfS die Entgegnung Heinz Balzers fest. Erst nach unmissverständlichen Drohungen, dass die in der DDR verbliebenen Familien beider Flüchtlinge die Folgen ihres "Verrats" zu spüren bekommen würden, entschlossen sich Richert und Balzer zur Rückkehr. Die Strafe - ein Jahr Wettkampfsperre - fiel für DDR-Verhältnisse vergleichsweise milde aus, jedoch versprach sich der SED-Staat noch einiges von den jungen Talenten.

Eine gänzlich erfundene Version der Fluchtmotive und ihrer Hintergründe wurde in Form einer gefälschten eidesstaatlichen Erklärung Heinz Balzers dem IOC und der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Hier präsentierten sich vermeintlich reuige Sünder, die aufgrund finanzieller Schwierigkeiten und politischer Opposition zur Bundesrepublik freiwillig und empört den Weg in die sozialistische Heimat gesucht hatten. 1960 in Rom trat die - mittlerweile verheiratete - Karin Balzer bereits wieder im gesamtdeutschen Team für die DDR an, doch war die gelungene Reintegration in das SED-System ein oberflächlicher Schein. Bis zum Mauerfall blieben die Sportlerin und ihr Ehemann Überwachungsobjekte der Staatssicherheit, ebenso lange ließ das Umfeld sie den "Fehler" ihrer Jugend durch wiederholte Verleumdungen und Schikane spüren. Der Makel der "Republikflucht" hing auch im Moment ihres größten Erfolges, des strahlenden Olympiasieges von 1964, über Karin Balzer: Ihr Ehemann und Trainer fehlte in Tokio. Aufgrund "erhöhter Fluchtgefahr" war es ihm nicht gestattet, seine Frau ins "nichtsozialistische" Ausland zu begleiten. Den Weltrekord seiner Frau erlebte Heinz Balzer deshalb im heimischen Frankfurt an der Oder - am Radiogerät.

Im Unterschied zu Karin Balzer kehrten die meisten "republikflüchtigen" Sportler nicht in die DDR zurück. Einer der für den SED-Staat unangenehmsten Fälle ereignete sich Anfang des Jahres 1968, kurz bevor die DDR das erste Mal selbständig bei Olympia antreten durfte.

Flucht aus dem Trainingslager

Am 19. Januar 1968 schlich sich der Nordische Kombinierer Ralph Pöhland, ostdeutsche Medaillenhoffnung für die bevorstehenden Olympischen Winterspiele in Grenoble, um Mitternacht auf den Balkon des Teamhotels der Ski-Nationalmannschaft der DDR, die sich im schweizerischen Les Brassus im Trainingslager befand. Mit Georg Thoma, bundesdeutscher Ski-Weltmeister von 1966, hatte er einen prominenten Fluchthelfer, der in der Nähe angespannt im startbereiten Porsche auf ihn wartete. Pöhland erstarrte, als jäh grell aufstrahlende Scheinwerfer ihn blendeten. "Ich hatte wahnsinnige Angst, ich habe gedacht, jetzt haben sie mich erwischt", erinnert sich Pöhland heute an die furchtbare Schrecksekunde. Aber Georg Thoma beruhigte ihn: "Komm, Ralph, du brauchst keine Angst zu haben. Das ist das ZDF." Pöhland sprang - die Szene wurde vom Wintersport-Experten des Zweiten Deutschen Fernsehens, Bruno Moravetz, mit Kameramann und Tontechniker festgehalten.

Diese wie ein Revolverroman anmutende Fluchtgeschichte ereignete sich kurz vor dem ersten olympischen Auftritt einer eigenständigen DDR-Mannschaft bei den Winterspielen im französischen Grenoble. Ralph Pöhland sprang in die Freiheit, da er in den Jahren zuvor sportlich und persönlich von SED-Funktionären schikaniert worden war. Doch liefen in dieser denkwürdigen Nacht in den Schweizer Alpen mehrere Fäden zusammen, die für die deutsch-deutschen Sportbeziehungen dieser Zeit charakteristisch waren: Das Entkommen des DDR-Athleten verstärkte das wachsende "Republikflucht"-Trauma des ostdeutschen Staatssports; der westdeutsche Sport leistete aktive Fluchthilfe - ein bislang nahezu unbekanntes Kapitel der Sportgeschichte; schließlich war es der Beginn der Leidensgeschichte von Pöhlands in der DDR lebenden Angehörigen.

Wenige Tage nach der Flucht Ralph Pöhlands erging Haftbefehl gegen ihn, einige Wochen später verloren beide Eltern ihre Anstellungen in staatlichen Betrieben. Die Familie und das Umfeld wurden mit Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit infiltriert, engste Angehörige gegeneinander ausgespielt. Wie nach der Flucht von Karin Richert und in zahlreichen anderen Fällen wurde auch hier die Familie als Druckmittel zur Rückkehr eingesetzt, die Stasi drohte, den Vater dauerhaft zu inhaftieren, falls Pöhland nicht den Weg zurück in die DDR wählte, doch blieb er bei seiner Weigerung. Seinem ehemaligen Teamkollegen, dem ostdeutschen Skistar Andreas Kunz, wurde die fortgesetzte Freundschaft zu Pöhland - die beiden trafen sich zu Beginn der 1970er Jahre am Rande internationaler Wettkämpfe - zum Verhängnis. Er wurde wegen dieses Kontakts dauerhaft vom Leistungssport ausgeschlossen, "aus gesundheitlichen Gründen", wie die SED gegenüber der Öffentlichkeit behauptete. Dem Zugriff der Stasi sollte die Familie des Geflüchteten zu DDR-Zeiten nie mehr entkommen. Auch Pöhland selbst blieb im Visier des MfS. Der letzte Eintrag in seiner Opfer-Akte bei der BStU stammt aus dem Jahr 1985, dort firmierte der Vorgang - noch 18 Jahre nach Pöhlands Flucht - unter "Operative Personenkontrolle - Verräter".

Sind die frühen Fluchtfälle im DDR-Sport noch kaum aufgearbeitet, so gilt dies erst recht für ein weiteres historisches Phänomen: die Beteiligung westdeutscher Sportler und Funktionäre an der Vorbereitung und dem Gelingen der häufig abenteuerlichen Fluchtunternehmen. Bis heute wird ein solcher aktiver Part der westlichen Seite selten offen eingeräumt. Der Grund erscheint einfach: In der DDR-Propaganda wurde niemals die persönliche oder politische Motivation der Flüchtenden erwähnt, sondern der Wechsel gen Westen stets als alleinige Folge rücksichtsloser "Abwerbung", wenn nicht gar "Menschenhandels" von Seiten westlicher Sportfunktionäre verzerrt. Offenkundig hatte der bundesdeutsche Sport zur Zeit des Kalten Krieges nicht die Absicht, ein derartiges Propagandaszenario durch öffentliche Bekanntgabe der eigenen Beteiligung in einzelnen Fällen der Fluchthilfe zu bedienen. Dennoch wäre es lohnenswert, systematisch der Frage nachzugehen, inwieweit derartige Aktionen vom westdeutschen Sport gefördert wurden, sei es, um einzelnen Athleten das Entkommen aus der Diktatur zur ermöglichen, sei es, um den kommunistischen Gegner auf der Aschenbahn gezielt sportlich zu schwächen. Der Fall Pöhland liefert für letztere Motivation einige Anhaltspunkte: Georg Thoma wartete um Mitternacht im Porsche nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf explizite Weisung des westdeutschen Skiverbandes. Ralph Pöhland selbst schätzt die Konstellation rückblickend so ein: "Durch meine Flucht hatten die Westdeutschen bei der ersten olympischen Konkurrenz mit der DDR einen wichtigen Gegner weniger." Nur durch eine gründliche Auswertung der Verbandsarchive und zahlreiche Zeitzeugeninterviews sind sämtliche Hintergründe erklärbar, die den schwierigen Weg flüchtender Sportler zwischen Ost und West bestimmten und begleiteten.

Ein letzter Blick soll der Rolle der Medien gelten: Bruno Moravetz vom ZDF hatte in der Nacht von Les Brassus eigentlich einen großen journalistischen Coup gelandet. Durch einen Tipp des befreundeten Georg Thoma war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um das Geschehen aufzunehmen. Doch wurde seine Verfilmung des Sprungs nie gesendet. Zwar präsentierte bereits am nächsten Abend das "Aktuelle Sportstudio" sowohl Georg Thoma als auch Ralph Pöhland live in der Sendung, um die gelungene "Republikflucht" publik zu machen. Doch scheute sich die ZDF-Sportredaktion, einzugestehen, dass eigene Journalisten bei dieser Flucht im wahrsten Sinne des Wortes die Lampe gehalten hatten. Hier spielte auch Sorge um das Wohlergehen der Beteiligten eine Rolle - nicht ohne Grund, denn Bruno Moravetz wurde trotz dieser Vorsichtsmaßnahme des Senders kurz darauf von einem ostdeutschen Journalisten gewarnt, nie mehr in die DDR zu reisen. Der Film von Pöhlands Sprung verschwand in der Folgezeit als unscheinbarer "Take 004" in den Archiven des ZDF und fiel dem Vergessen anheim. Auch hier stellt sich die Frage, wie viele andere mediale Dokumente dieser bewegten Zeit in Rundfunk- und Fernseharchiven noch darauf warten, aus dem Dunkel der Vergessenheit hervorgeholt zu werden.

"War minus the shooting"

Der visionäre Schriftsteller George Orwell, der in seinem Roman "1984" wie kein anderer die Schrecken eines modernen Überwachungsstaates vorwegnahm, zeigte sich auch in anderer Hinsicht prophetisch. Mit seiner Sentenz, Leistungssport sei nichts anderes als "war minus the shooting", nahm er im Epochenjahr 1945 eine maßgebliche Konstellation der kommenden Jahrzehnte vorweg: Hochleistungssport als Stellvertreter-Schauplatz des politischen Systemkonflikts. Schüsse fielen in der Tat nicht im Verlauf des deutsch-deutschen Konflikts im Sport, doch gab es viele Opfer, zu denen nicht zuletzt die Sportler selbst gehörten.

Als im Jahr 1989 die Mauer fiel, die SED ihren Machtzugriff verlor und sich zahlreiche Verfolgte des Regimes öffentlich zu Wort melden konnten, waren es nicht die DDR-Sportler, die zunächst als Opfergruppe ins Blickfeld gerieten. Es artikulierten und organisierten sich erstmals zahlreiche politisch oder konfessionell Verfolgte, die lange Jahre in Bautzen oder ähnlichen Hafteinrichtungen durchleben mussten, Opfer der Enteignungspolitik, politische Oppositionelle, und viele, die auf eine Karriere im realsozialistischen System verzichtet hatten, um sich durch die Machtverhältnisse nicht korrumpieren zu lassen. Fast allen war gemein, dass sie entweder aus intellektueller Überzeugung oder durch einschneidende Erlebnisse bereits zu DDR-Zeiten zu Gegnern des Regimes geworden waren. Im Unterschied zu ihnen hatten ostdeutsche Athleten nicht nur zu den funktionierenden Bausteinen des DDR-Systems gehört, sondern vielmehr als werbewirksame Aushängeschilder fungiert.

Als Opfer wurden einzelne DDR-Sportler erst vergleichsweise spät wahrgenommen, und hier vor allem im Zuge der Diskussion um das staatlich angeleitete Zwangsdoping. Die Würdigung des Leids der Betroffenen wurde durch verschiedene Faktoren erschwert: Zum einen durch ihre späte organisatorische Formierung, zum anderen durch die Tatsache, dass schwerwiegende Gesundheitsschäden als Folge des Dopingkonsums bei vielen erst lange nach Karriereende eintraten. Gegenüber anderen Formen des SED-Unrechts wurde das Zwangsdoping erst Ende der 1990er Jahre umfassend historisch beschrieben. Der mangelnde Gesprächswille des bundesdeutschen organisierten Sports gegenüber den Geschädigten blockierte zusätzlich die öffentliche Akzeptanz und Wahrnehmung der Problematik. Daneben fehlte häufig auch die Bereitschaft der Athleten, sich als Betroffene überhaupt erkennen zu geben, um nicht im Milieu ehemaliger Protagonisten des DDR-Sports als "Sportverräter" zu gelten.

Im Unterschied zur Dopingproblematik ist die Geschichte der "Republikflucht" von Sportlern, ihrer Motive und ihrer Konsequenzen, bislang kaum beachtet worden. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich bislang vorwiegend auf einige Fälle im Fußballsport in den 1970er und 1980er Jahren, wie etwa das Schicksal von Lutz Eigendorf. Demgegenüber sind die Biographien hunderter anderer Leistungssportler, die aus persönlichen, politischen oder sportlichen Gründen aus der DDR flohen, nahezu vergessen. Ihre historische Würdigung ist überfällig, zumal einzelne Fluchten immer wieder gravierende Folgen für die Sportpolitik der DDR hatten. So wurde nach dem Schock von Pöhlands Flucht der Athletenkader für Grenoble schlagartig von 95 auf 57 Wintersportler reduziert, nur die politisch zuverlässigsten durften die Reise nach Frankreich antreten. Und noch ein weiterer Aspekt ist ein drängendes Desiderat der Forschung, insbesondere derjenigen über die Phase der gesamtdeutschen Mannschaften: Justitielle Willkür, vor allem Schauprozesse gegen Sportler und Sportfunktionäre in der DDR. Der erste Präsident des ostdeutschen NOK, Kurt Edel, war persönlich in die Vorbereitung politischer Gerichtsurteile verstrickt. Dieses Faktum ist bislang weder von der ansonsten sehr ausführlichen juristischen DDR-Forschung noch von der Sportgeschichte analysiert worden. Der Sport zur Zeit des Kalten Krieges ist nicht nur wichtiger Bestandteil der Geschichte der geteilten Nation, sondern ebenso wesentliches Element der Herrschaft der SED-Diktatur.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Horst Möller, Worin lag das "national" Verbindende in der Epoche der Teilung?, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 307-324, hier: S. 311.

  2. Karl Ritter von Halt an Bundeskanzler Konrad Adenauer, 25. 5. 1951. Zit. nach Tobias Blasius, Olympische Bewegung, Kalter Krieg und Deutschlandpolitik 1949-1972, Frankfurt/M. u.a. 2001, S. 85.

  3. "welche der Welt demonstrieren wird, dass Sportler dort erfolgreich sein können, wo Politiker versagen". Avery Brundage an Karl Ritter von Halt, 28. 5. 1955, IOC-Archiv, Lausanne.

  4. Zur Problematik vgl. grundsätzlich Andreas Höfer, Der olympische Friede. Anspruch und Wirklichkeit einer Idee, St. Augustin 1994.

  5. Willi Daume an Otto Mayer, 12. 5. 1961, IOC-Archiv, Lausanne.

  6. Karl Ritter von Halt an Otto Mayer, 6. 9. 1955, IOC-Archiv, Lausanne.

  7. Willi Daume an Otto Mayer, 28. 11. 1962, IOC-Archiv, Lausanne.

  8. "nicht mehr als einen Strohmann". Karl Ritter von Halt und Willi Daume an Avery Brundage, 10. 11. 1961, IOC-Archiv, Lausanne.

  9. Ritter von Halt übersandte seit Juni 1959 alle "Hetzartikel" aus ostdeutschen Tageszeitungen, um dem IOC zu demonstrieren, "what kind of people we have to get along with" ("mit was für Leuten wir auskommen müssen"). Karl Ritter von Halt an Avery Brundage, 18. 6. 1959, IOC-Archiv, Lausanne.

  10. Willi P. H. Knecht, Nach Tokio und zurück. Sportpolitik in Deutschland, Dießen/Ammersee 1965, S. 124.

  11. Als die 17-jährige Dresdnerin Ingrid Krämer die erste Goldmedaille für die gesamtdeutsche Mannschaft im Jahr 1960 in Rom im Kunstspringen holte, titelte der "Tagesspiegel" vom 28. 8. 1960: "Erste Goldmedaille für Deutschland", das "Neue Deutschland" vermeldete am selben Tag: "Erste Goldmedaille für DDR".

  12. Im Sinne der östlichen Drei-Staaten-Theorie wurden die Medaillen ostdeutscher und westdeutscher Sportler und solcher aus West-Berlin getrennt aufgeführt. Vgl. Neues Deutschland vom 25. 10. 1964. Zur Berlin-Problematik vgl. Jutta Braun/Hans Joachim Teichler (Hrsg.), Sportstadt Berlin im Kalten Krieg. Prestigekämpfe und Systemwettstreit, Berlin 2006.

  13. Unter der Überschrift "Scheinheilige Patrone" kritisierte die "Berliner Zeitung" nach den Olympischen Spielen in Rom Glückwunschtelegramme bundesdeutscher Politiker an DDR-Sportler. Vgl. Berliner Zeitung vom 1. 9. 1960. Eine ähnliche Kritik erfolgte während der Olympischen Spiele in Innsbruck 1964. Vgl. Berliner Zeitung vom 10. 2. 1964.

  14. Willi Daume an Otto Mayer, 28. 11. 1962, IOC-Archiv, Lausanne.

  15. Ebd.

  16. Vgl. T. Blasius (Anm. 2); Uta Andrea Balbier, Kalter Krieg auf der Aschenbahn. Der deutsch-deutsche Sport 1950-1972, Eine politische Geschichte, Paderborn 2006.

  17. Diese Lücke wird demnächst durch eine Dissertation von Juliane Lanz geschlossen, die explizit die Perspektive der Athleten zum Gegenstand ihrer Studie über die gesamtdeutschen Olympiamannschaften macht.

  18. U. A. Balbier (Anm. 16).

  19. Begriff bei Hans Günter Hockerts, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit: NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 8.

  20. W. P. H. Knecht (Anm. 10), S. 9.

  21. Zeitzeugengespräch der Autorin mit Karin Balzer, 1. 6. 2008 in Chemnitz.

  22. Dieses und weitere zitierte Dokumente zum Auftreten des MfS sind der Opferakte von Karin Balzer bei der BStU entnommen. Akten im Privatarchiv von Karin Balzer.

  23. Vgl. Bundesarchiv Berlin, NOK 510/524.

  24. In den 1970er Jahren kam es erneut zu einem ernsten Zusammenstoß mit der Sportführung der DDR, da Balzer - mittlerweile Trainerin beim SC Leipzig - sich weigerte, Dopingmittel an Minderjährige zu verabreichen. Zur Strafe wurde sie nach Dresden versetzt. Zeitzeugengespräch der Autorin mit Karin Balzer, 1. 6. 2008 in Chemnitz.

  25. Die Schilderung der Ereignisse des 19. 1. 1968 beruht auf Zeitzeugengesprächen der Autorin mit Ralph Pöhland am 6. 2. 2008, Georg Thoma am 6. 2. 2008 sowie mit Bruno Moravetz am 7. 2. 2008.

  26. Diese und weitere Angaben über die MfS-Tätigkeit im Fall Pöhland sind seiner Opferakte entnommen: BStU, 1721/68.

  27. Die persönlichen Zitate entstammen dem Zeitzeugengespräch mit Ralph Pöhland am 6. 2. 2008 in Plauen.

  28. Rechercheergebnis Michael Barsuhn, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig.

  29. Eine Pionierleistung vollbrachte in dieser Hinsicht der Journalist Willi P. H. Knecht, der einige zeitgenössische Fälle in Interviews dokumentierte. Vgl. W. P. H. Knecht, Verschenkter Lorbeer. Deutsche Sportler zwischen Ost und West, Köln-Berlin 1969.

  30. George Orwell, The Sporting Spirit, in: Tribune, Dezember 1945.

  31. Im März 1999 wurde der Doping-Opfer-Hilfeverein gegründet.

  32. Vgl. Giselher Spitzer, Doping in der DDR. Ein historischer Überblick zu einer konspirativen Praxis, Genese, Verantwortung, Gefahren, Köln 1998.

  33. So erklärte der Potsdamer Schwimmer Jörg Hoffmann, der sich nach sieben Jahren zum Dopingkonsum bekannte: "Wer bisher darüber geredet hat, der wurde sofort als Verräter gebrandmarkt." Berliner Zeitung vom 16. 10. 1997. Der Mikrobiologe und Anti-Doping-Aktivist Werner Franke benannte "Scham" sowie "Furcht vor dem Zorn alter Sportkameraden" als wesentliche Faktoren eines Schweigens der Geschädigten. Einigung mit Jenapharm, in: Berliner Zeitung vom 18. 12. 2006.

  34. Vgl. Heribert Schwan, Tod dem Verräter! Der lange Arm der Stasi und der Fall Lutz Eigendorf, München 2000.

  35. Edel war als Inoffizieller Mitarbeiter für das MfS tätig. Vgl. BStU, MfS 9381/70.

  36. Hierzu werden im Rahmen der vom DOSB in Auftrag gegebenen Studie über die "Rolle des NOK der DDR" demnächst neue Forschungsergebnisse von der Autorin vorgelegt.

Dr. phil., geb. 1967; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam, Arbeitsbereich Zeitgeschichte des Sports, Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam.
E-Mail: E-Mail Link: jbraun@uni-potsdam.de