Einleitung
Im Gegensatz zur Frankreich-Feindschaft des offiziellen Deutschland sah sich Bertolt Brecht in der Tradition der Aufklärung. Er wollte eine intellektuelle Kunst, die sich mit den Bedrängnissen der Zeit auseinander setzte. Für seine Generation, die während des Ersten Weltkriegs herangewachsen war, waren das die Fragen nach den Ursachen von Kriegen und unheilvollen sozialen Spaltungen.
Brechts Denkmaxime war der Zweifel. Trotz der Nähe, die er gelegentlich zu den Mächtigen hatte, suchte und vertrat er eigenständige Positionen. Für Brecht war die Autonomie des spezialisierten Denkens - zu dem für ihn die Kunst zählte - die Voraussetzung radikaler Demokratie. In der Weimarer Republik profilierte er sich rasch als "Bürgerschreck", weil seine frühen Stücke keine festen Charakterbilder, sondern die Abhängigkeit des Einzelnen von den gesellschaftlichen Verhältnissen und Zwängen zeigten. In Mann ist Mann wird ein Kunde, der einen Fisch kaufen will, unterwegs zu einem Soldaten gemacht. Zunächst war es noch kein ästhetischer Kniff, dass es Lösungen im Stück nicht gab: Der Autor wusste selber keine.
In der Hauspostille, seiner ersten Gedichtsammlung, stehen die Menschen einsam in der Welt, einander feindlich gesinnt. Aus einer von 1926/27 stammenden Notiz spricht Skepsis gegen die sozialdemokratischen Versprechungen der Zeit: Zwar sei "die kapitalistische Klasse in Europa verbraucht", aber "das Glück in kleine Stücke zerschneiden" sei auch keine Lösung: "Wenn Proletarier in "frischgestrichenen Einheitshütten hocken zwischen Grammophonen und Hackfleischbüchsen", sei das kein Glück, "denn es fehlt die Chance und das Risiko (...), das Größte und Sittlichste, was es gibt."
Frühe Politisierung
Brechts Politisierung verstärkte sich, nachdem er am 1. Mai 1927 von der Wohnung des befreundeten Soziologen Fritz Sternberg aus beobachtet hatte, wie die Berliner Polizei in eine verbotene Arbeiterdemonstration schoss und einige Menschen tötete. Der KPD beizutreten kam für ihn nicht in Frage. Aber er sah in ihr die Kraft, welche die Vereinzelung und politische Ohnmacht der Unterschichten beenden könnte. Wenige Wochen nach dem Erfolg mit der Dreigroschenoper bat Brecht den KPD-kritischen, aber der Partei angehörenden Autor Bernhard von Brentano um eine "kleine Sammlung von Literatur (...), aus der man als Intellektueller die Grundzüge der materialistischen Dialektik studieren" könne.
Bei der Lektüre von Lenin und Marx bemerkte er bei sich selbst Widerstände, fühlte sich aber philosophisch angezogen, weil hier die Gegensätze der Realität zumindest richtig benannt seien. "Mehr, als den Standpunkt einzunehmen, dass hier die fruchtbaren Gegensätze liegen, ist meiner Meinung nach der Kunst dieser (...) Übergangszeit nicht gestattet." Brechts Einstieg in den Marxismus erfolgte nicht auf der Basis der damals zirkulierenden Heilsvisionen, sondern auf hegelianischer Grundlage. Er favorisierte nicht Fortschritt durch Identifikation mit Idealen, sondern durch bewusste Teilnahme am Kräftespiel von Widersprüchen, auch wenn sie sich als unauflösbar erwiesen und Kompromisse erforderten. Deshalb schloss er sich nicht dem Bund proletarischer Schriftsteller an, bemühten sich die Mitglieder dieser Organisation doch darum, "die Ansichten der Proletarier zu treffen". Dagegen sollten seiner Auffassung nach auch sozialistisch orientierte Künstler "unbekümmert (...) machen, was ihnen Spaß macht". Aber nur diejenigen würden "gute Arbeit liefern", die die "Spannungen" der Epoche im Hinterkopf hätten.
Als dramatisch empfand Brecht, dass immer neue technische Möglichkeiten der Kommunikation entstanden, die Mündigkeit und demokratischen Austausch zwischen den Bürgern hätten fördern können. Er befürchtete aber, dass sich z.B. das Radio zum Instrument seichter Unterhaltung und schleichender Manipulation entwickeln könnte. 1927 forderte er, dass es "an die wirklichen Ereignisse näher herankommen" müsse: etwa mit der Übertragung von Reichstagssitzungen, Prozessen, Disputationen zwischen Fachleuten oder Interviews. Die "phantastischen Summen, die das Radio an öffentlichen Geldern" einnehme, erforderten auch öffentlich Rechenschaft.
Die Intellektuellen, von denen Brecht sich politisch schulen ließ, hielten die Sowjetunion wegen des Mangels an Demokratie nicht für richtungweisend für Deutschland. Diesen Makel lasteten sie aber weniger dem System als der Unterentwicklung des Landes an. Brecht setzte fortan immer zu große Hoffnungen auf eine emanzipatorische Entwicklung, die durch die Nationalisierung von Produktionsanlagen und Ressourcen ausgelöst werden könne.
1929 errangen die Nationalsozialisten in Thüringen einen großen Wahlerfolg. Die Weimarer Demokratie schien im Begriff, sich selber abzuschaffen. Mit Walter Benjamin konzipierte Brecht zwischen Herbst 1930 und Frühjahr 1931 die Zeitschrift "Krise und Kritik". Hier sollte die Rolle der Intellektuellen in den kommenden Auseinandersetzungen definiert werden. Fachleute sollten die Krise der Demokratie aus wissenschaftlicher, kultureller und künstlerischer Sicht analysieren. Die Zeitschrift sollte keinen populistischen Standpunkt des Proletariats verfechten, sondern allein den der Intelligenz. Unter den angesprochenen Autoren waren Hanns Eisler, Kurt Weill, Georg Lukàcs, Karl Korsch, Herbert Marcuse, Erwin Piscator, Fritz Sternberg, Theodor W. Adorno, Karl August Wittfogel und Siegfried Kracauer. Alfred Kurella
Schon Anfang der dreißiger Jahre hatten Brecht und Benjamin den Fortschrittsbegriff der Sozialdemokraten und die eschatologische Siegesgewissheit der Kommunisten abgelehnt. Sie sahen, dass Katastrophen und furchtbare Rückschritte möglich waren, und zweifelten an der "unendlichen Perfektibilität der Menschheit". Das Zeitschriftenprojekt scheiterte letztlich an der Verschärfung der politischen Situation.
Demokratie und Faschismus
1933 suchte Brecht zunächst nach Exilmöglichkeiten in Frankreich. Er folgte aber bald seiner Frau Helene Weigel, die eine Einladung ihrer Freundin und Mentorin Karin Michaelis
Bei der Premiere von Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (1936) im kleinen Theater Riddersalen applaudierte zwar die linke und linksbürgerliche Szene, aber danach kam es zu massiven antisemitischen Demonstrationen dänischer Nazis vor dem Theater und zu Ausfällen der rechtsextremen Presse gegen den "Juden" bzw. "Semigranten" Brecht. Die acht Tage später im Königlichen Theater stattfindende Premiere von Die sieben Todsünden der Kleinbürger wurde nach nur zwei Aufführungen abgesetzt. Der berühmte Choreograph Harald Lander bestätigte, dass auf den dänischen Gesandten in Berlin Druck ausgeübt worden war.
Für Brecht war klar, dass es keine professionellen Aufführungen seiner Stücke an dänischen Bühnen mehr geben würde. Vergeblich versuchte er, das 1937 mit seiner Geliebten Ruth Berlau verfasste Kriminallustspiel Alle wissen alles unter Pseudonym zur Aufführung zu bringen. Auf den ersten Blick geht es in dem Stück um Klatsch und Verrat unter Nachbarn. Das Stück hat aber eine zweite, kryptische Ebene. Ich konnte zeigen, dass Brecht hier das diabolische Zusammenspiel der Spitzelsysteme von Deutschland und der Sowjetunion anvisierte.
Brecht beschränkte seine Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit der Sowjetunion auf die Literatur. Neben Johannes R. Becher und dem in die USA emigrierten Lion Feuchtwanger war er Mitherausgeber von "Das Wort", einer in Moskau edierten Zeitschrift, in der deutschsprachige Exilautoren publizierten. Feuchtwanger hatte als Beobachter an einem der Moskauer Schauprozesse öffentlich erklärt, dass er das Verfahren für echt halte. Brecht war skeptischer: "Wenn man von mir verlangt, dass ich etwas Beweisbares glaube (ohne den Beweis), so ist das, wie wenn man von mir verlangt, dass ich etwas Unbeweisbares glaube: ich tue es nicht."
Dass die westlichen Demokratien Hitler und Mussolini nicht daran hinderten, massive militärische Mittel für Franco einzusetzen, der gegen die gewählte spanische Koalitionsregierung geputscht hatte, war für Brecht ein Zeichen, dass sie sich ähnlich wie die Weimarer Republik dem Faschismus nicht konsequent entgegenstellten. Auf den Internationalen Schriftstellerkongressen zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935 und 1937 vertrat er die viele schockierende These, dass Kapitalismus in Faschismus umschlagen könne. Im Gegensatz zu anderen Autoren hielt er es für falsch, aktiv am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Stattdessen schlug er - ähnlich dem Impuls zur Zeitschrift "Krise und Kritik" - die Gründung einer Diderot-Gesellschaft vor, in der sich Intellektuelle zu einem internationalen Netzwerk zusammenschließen und eine neue, der modernen Aufklärung verpflichtete Enzyklopädie herausgeben sollten.
Wenn Dänemark in den Sog eines Anpassungsprozesses an den übermächtigen Nachbarn geriet, lag das auch am regen Kulturaustausch. 1938 wurden die Hamletfestspiele in Helsing?r von auch in Dänemark beliebten deutschen Stars bestritten. Der Bürgermeister von Helsing?r empfing den in weißer Paradeuniform erschienenen Reichsfeldmarschall Hermann Göring, der die Schauspieler Gustaf Gründgens, Marianne Hoppe und Heinrich George begleitete, wie einen Staatsgast. Obwohl Görings Privatjacht Brechts Wohnsitz auf der Insel Fünen passiert hatte, erregte sich dieser in seinem Journal über etwas anderes: In den Moskauer Zeitschriften "Das Wort" und "Internationale Literatur" wurde ein Konzept von "Sozialistischem Realismus" verfochten, in dem er namentlich als dekadenter "Formalist" gebrandmarkt wurde und in dem es keinen Raum mehr für eine emanzipatorisch orientierte Ästhetik gab.
Auch aus Briefen Walter Benjamins geht hervor, dass Brecht 1938 die sowjetische Kulturpolitik "als katastrophal für alles" erkannt hatte, "wofür wir uns seit 20 Jahren einsetzen".
Weil er eine baldige Besetzung Dänemarks befürchtete,
Obwohl die Sowjetunion nun doch wie eine imperialistische Großmacht agierte, hoffte er weiterhin, dass sie sich gegen Hitler behaupten würde. Die rasche Kapitulation Frankreichs schockierte ihn. Für die verzwickte Lage der skandinavischen Länder, die sich zwischen einem Bündnis mit der Sowjetunion oder mit Hitler entscheiden mussten, machte er die Appeasementpolitik Großbritanniens verantwortlich.
Als Brecht 1941 auf seiner Reise in die USA in Moskau Michail Apletin traf, den für Verbindungen mit dem Ausland zuständigen Vertreter des Schriftstellerverbandes, schlug dieser ihm eine bezahlte Zusammenarbeit für das KGB in den USA vor. Brecht lehnte ab, betonte jedoch, sich niemals antisowjetisch betätigen zu wollen.
Dass Brecht, der nach Stalins Maßstab Trotzkist war, 1941 unbehelligt durch das Land des Gulag in die USA reisen konnte, hatte er wohl seiner Freundschaft zu Feuchtwanger zu verdanken. Stalin wollte sich zweifellos die Loyalität dieses weltberühmten Autors erhalten. Da Brecht seit Jahren weder prestigeträchtige Aufführungen noch Publikationen im Westen hatte, sah der Kreml in ihm noch keinen ähnlich einflussreichen Intellektuellen.
"Unamerikanische Tätigkeit"
In den USA war Brecht fast unbekannt, er fühlte sich wie "Lenin im Prater"
Brecht trat zwar wie Orson Welles und Charles Chaplin für die rasche Errichtung einer zweiten Front in Westeuropa ein, doch trotzdem wühlten ihn die Parallelen zwischen Hitler und Stalin auf: "In gewisser Hinsicht treten die Ähnlichkeiten der beiden großen Bewegungen Faschismus und Bolschewismus, welche den planwirtschaftlichen Tendenzen entsprechend die neuen autoritären Staatsgebilde geschaffen haben, mehr hervor als ihre Unähnlichkeiten."
Dass Brecht besonders die mit dem New Deal in den USA entstandene Form der Demokratie aber keineswegs mit Weimar gleichsetzte und nicht pauschal verwarf, geht aus dem Rat hervor, den er Ruth Berlau gab, als sie am 9. Mai 1942 auf einem internationalen Frauenkongress gegen den Faschismus sprach: "Sag in der Rede, dass Demokratie nicht etwas ist, was man hat oder nicht hat, sondern etwas, um das man ständig kämpfen muss, wenn man es hat. Der Kampf gegen den Faschismus wird gewonnen durch Demokratie, viel Demokratie, mehr Demokratie, breiteste Demokratie. Erzähl, wie sehr geschwächt der Kampf Frankreichs gegen die Invaders wurde durch die Aufgabe der Demokratie."
Mit der sich seit 1944 entwickelnden Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Charles Laughton an Leben des Galileo Galilei gelang Brecht in den USA ein einziges erfolgreiches Projekt. Das Stück weist auf die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft hin. Nach dem Atombombenabwurf auf Hiroschima und Nagasaki traf es auf Publikumsinteresse und kam 1947 mit großem Erfolg zur Aufführung.
Nach dem Krieg brachten sich die Großmächte rasch für die vorhersehbare Weltkonkurrenz auch auf kulturellem Gebiet in Stellung. Da die Sowjetunion keinen sozialistischen Separatstaat, sondern die Neutralisierung ganz Deutschlands anvisierte, konzipierte sie für die Besiegten eine andere Kulturpolitik als die, die in der Sowjetunion selbst herrschte. Davon und von seiner nach außen loyalen Haltung sollte Brecht profitieren. Aus einem Brief an Michail Apletin geht hervor, dass er im Sommer 1945 bereits ein allgemeines Angebot auf berufliche Hilfe erhalten hatte.
Angesichts seines permanenten Misserfolgs in den amerikanischen Filmstudios ist es merkwürdig, dass Brecht 1947 vom "Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit" des amerikanischen Repräsentantenhauses vernommen wurde; Brecht galt jedoch als geistiges Einfallstor des Kommunismus in Hollywood. Während des Exils in den USA war er jahrelang bespitzelt worden. Ruth Berlau, die ihn zum Shoreham-Hotel in Washington begleitete, wo Brecht sich mit 18 weiteren Regisseuren und Drehbuchautoren auf die Befragung vorbereitete, berichtete, dass "vielleicht zwei von ihnen wussten, wer das war". Mit Hilfe der Anwälte wurde festgelegt, dass Brecht als Einziger die Frage nach der Parteizugehörigkeit beantworten sollte, da unklar war, ob er als Ausländer Aussagen verweigern konnte. Dass er die Frage wahrheitsgemäß negativ beantwortete, empörte vor allem kommunistische deutsche Emigranten,
Zurück nach Europa
Unmittelbar nach seiner Vernehmung reiste Brecht in die Schweiz. Dort erhielt er einen Brief des sowjetischen Kulturoffiziers Alexander Dymschitz, der ihm in der SBZ Unterstützung anbot.
Dass Brecht unter Sozialismus etwas anderes verstand als die Elite der künftigen DDR, stellte sich schon im Herbst 1948 heraus, als er als Gast am Deutschen Theater in Berlin Mutter Courage und ihre Kinder inszenierte. Wegen eines Aufbauliedes geriet er in Konflikt mit dem Leiter der Freien Deutschen Jugend, Erich Honecker. Dieser fürchtete, dass die Zeile "Und kein Führer führt uns aus dem Salat" Assoziationen zwischen Hitler und der neuen Führung wecken würde. Da Brecht einen Selbstverwaltungssozialismus ohne eine alles erdrückende "führende" Bürokratie verfolgte, änderte er nichts.
Doch die kulturpolitische Landschaft in der SBZ war noch nicht ganz erstarrt. Abgesehen vom Publikumserfolg unterstützten andere Kritiker Brecht, etwa der junge Wolfgang Harich. Garant dieser relativen Offenheit war weiterhin die Besatzungsmacht, die noch bis 1952 eine Neutralisierung ganz Deutschlands anstrebte. Von allen Künstlern verstand es Brecht am besten, die unterschiedlichen Interessenlagen auszunutzen. 1952, anlässlich einer Umfrage über das beste Buch des vergangenen Jahres, nannte er Maos Aufsatz "Über den Widerspruch". Im Gegensatz zu Stalin hatte Mao die Lehre Hegels von den unversöhnlichen Widersprüchen nicht aus seinem Denksystem eliminiert.
Noch 1949 hatte Brecht das Berliner Ensemble (BE) gegründet und war in die entstehende DDR übergesiedelt. Das BE gastierte im Juni 1950 erfolgreich in Braunschweig, Hannover und Wuppertal, einen Monat später in Düsseldorf. Ein Teil der Westpresse rief zum Brecht-Boykott auf, der aber nie ganz durchgesetzt wurde. Von vielen Deutschen wurde sein Theater als weitgehend autonomer Experimentierraum gesellschaftlicher Phantasie wahrgenommen. Da Brecht Peter Suhrkamp zu seinem Hauptverleger machte, konnte er die Verbreitung seines Werks in ganz Deutschland sichern. Beim Aufbau-Verlag konnten die Bücher frühestens zwei Jahre später erscheinen. Es gehört zu den großen Verdiensten Helene Weigels, dass sie nach Brechts Tod trotz des Drucks der DDR-Führung auf der unzensierten Edition auch der politisch brisanten Texte bestand.
1953 zum Präsidenten des gesamtdeutschen PEN gewählt, startete Brecht Initiativen gegen die atomare Aufrüstung. 1956 rief er in einem viel beachteten Brief an den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Eugen Gerstenmaier, für einen Volksentscheid in beiden Teilen Deutschlands gegen die Wiederbewaffnung auf.
Dass in der Dynamik des Kalten Krieges auch im Westen die "völlige Freiheit" der Kunst keineswegs gesichert war, zeigten die vielen Diskriminierungen, die Künstler erlitten, wenn sie auch im Osten auftreten wollten. Energisch trat Brecht gegen die Staatliche Kunstkommission der DDR auf, die Kunst sowohl nach inhaltlichen als auch nach formalen Kriterien zensierte, wenn sie gegen den Sozialistischen Realismus verstieß. Laut Brecht müsse dieser "viele Spielarten haben oder ein Stil bleiben und bald durch Monotonie eingehen".
Erbost, dass das "Neue Deutschland" nach dem 17. Juni 1953 nur den Teil seines Briefs an Walter Ulbricht abdruckte, der als Ergebenheitsadresse missverstanden werden konnte, entschloss er sich, sich an die westliche Presse zu wenden. Er beauftragte seine Mitarbeiterin Käthe Rülicke, dem schwedischen Journalisten Erwin Leiser eine Erklärung zu übergeben, in der er klar machte, dass er die Unzufriedenheit der Arbeiter als berechtigt ansehe und die Demonstrierenden "nicht mit den Provokateuren [aus dem Westen] auf eine Stufe gestellt" werden dürften.
Eine Folge des 17. Juni war die Auflösung der Staatlichen Kunstkommission und die Errichtung eines Kulturministeriums, an dessen Spitze Johannes R. Becher stand. Trotz seiner einst zwiespältigen Rolle beim Moskauer "Wort" hatte Brecht ihm dort am ehesten vertraut und hoffte, mit seiner Hilfe zensurfreie Zonen durchzusetzen. Wieder trat er für eine Reform des Rundfunks ein. Es gelang ihm, in langwierigen Kämpfen eine Sendereihe zu etablieren, die 1955 vollkommen autonom von der Deutschen Akademie der Künste geplant und produziert werden konnte.
Zweifelsohne hatte er sich die Autorität zur Durchsetzung dieses lange umkämpften Projekts durch die Annahme des Stalin-Friedenspreises im Dezember 1954 verschafft. Anerkannt wurde damit weniger sein Werk, das in der Sowjetunion nur rudimentär übersetzt und gedruckt worden war,
Obwohl Brecht wesentliche Mängel und Verbrechen des Sowjetsystems seit langem kannte, erschütterten ihn die Enthüllungen Nikita Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU zutiefst. Rülicke beschaffte die in der DDR nicht publizierte Rede aus Polen und diskutierte sie mit Brecht im Krankenhaus.
Plötzlich waren viele Dinge, die auch gut Informierten kaum bekannt waren, parteioffiziell bestätigt. Letzte Gedichte, in denen Stalin als der "verdiente Mörder des Volkes" bezeichnet wurde, zeigen, dass Brecht begriffen hatte: Auch die "Nationalisierung" der Produktionsmittel in der stalinistischen Form hatte immense Menschenrechtsverbrechen hervorgebracht. Die Emanzipation der Produzenten war Utopie geblieben.