Einleitung
70 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen ist der Zweite Weltkrieg aus dem kommunikativen Gedächtnis der Zeitgenossen herausgerückt und mehr und mehr in das gegen widerläufige Individualerinnerungen weitgehend geschützte Vergangenheitsverständnis der Gesellschaft übergegangen, das wir mit Aleida und Jan Assmann als kulturelles Gedächtnis bezeichnen. Im Jahr 2009 steht das Gedenken an den weltzerstörenden Kriegsausbruch in der öffentlichen Aufmerksamkeit deutlich hinter der Würdigung des 20. Jahrestags von Mauerfall und revolutionärer Wende in der DDR zurück, mit denen 1989 die vierzigjährige Nachkriegszeit der territorialen Teilung Deutschlands endete.
Anders als in Russland, Großbritannien oder Frankreich, wo die Erinnerung an die Niederringung des NS-Reiches mit den jährlichen Gedenkfeiern zum 8. Mai und zur alliierten Landung in der Normandie eine feste und ritualisierte Tradition ausgebildet hat, ist der Platz des Zweiten Weltkriegs im deutschen Gedächtnis bis heute nicht eindeutig fassbar. So erklärt es sich, dass im Vorfeld des 70. Jahrestags einerseits längst ausgemusterte Narrative einer kriegsgeschichtlichen Entlastungserinnerung in den öffentlichen Diskurs zurückkehren können, wie "Der Spiegel" jüngst mit einer Titelgeschichte zur alliierten und auf den Versailler Vertrag zurückgehenden Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg veranschaulichte. Auf der anderen Seite beschwert die Bürde einer lastenden Weltkriegserinnerung noch die Schaffung eines "Ehrenkreuzes der Bundeswehr für Tapferkeit", das im Juli 2009 im Rahmen des Afghanistan-Einsatzes zum ersten Mal verliehen wurde: "Für viele Bundeswehrangehörige geht es um eine Anerkennung ihres gefährlicher gewordenen Jobs - andere fühlen sich unangenehm an unheilvolle Wehrmachtszeiten und den Schrecken der Nazidiktatur erinnert." Der Schatten einer unsicheren Erinnerung schlägt sich gleichermaßen noch heute in der öffentlichen Unentschlossenheit nieder, die mutmaßlich bis zu 20000 von der NS-Justiz hingerichteten "Kriegsverräter" als rehabilitationswürdige Opfergruppe anzuerkennen, und er zeigt sich in der Unentschlossenheit, ob im Afghanistan-Einsatz umgekommene Bundeswehrsoldaten als "getötet´" oder "gefallen" anzusehen sind.
Zur Uneinheitlichkeit der historischen Verortung des Krieges trägt bei, dass er als Gedächtnisort auf denkbar unterschiedliche Weise in Anspruch genommen wurde. Die Erinnerungstradition der Nachkriegszeit war lange Zeit generationell in Zeitgenossen und Nachwelt gespalten und in unterschiedlichste Erzählgemeinschaften fragmentiert, wie sie nach 1945 etwa die bombengeschädigte Zivilbevölkerung in den vier Besatzungszonen bildeten oder die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten, die Displaced Persons im "Altreich" und die Holocaust-Überlebenden der Tötungsfabriken im Osten, die verschiedenen Gruppen des antifaschistischen Widerstands und die "Stalingradkämpfer". Unterschiedliche Blickwinkel eröffneten zudem die verschiedenen historischen Koordinatensysteme von nationaler Niederlage und politischem Neuanfang, in die sich die Geschichte des Weltkriegs einpassen und auf die Kristallisationspunkte von Kapitulation oder Befreiung ausrichten ließ.
Schließlich war die Erinnerung an den furchtbarsten Krieg der Geschichte in Deutschland über vierzig Jahre lang auch immer entlang der Blocklinien des Kalten Krieges gespalten: Einer antifaschistischen Heldenerzählung im Osten stand eine postkatastrophische Opfererzählung im Westen gegenüber: In der parteioffiziellen Deutung des SED-Regimes begann der Krieg bereits mit der Machtübernahme durch den kriegslüsternen Faschismus und das hinter ihm stehende Monopolkapital und endete mit der Befreiung vom Mai 1945; in der westdeutschen Deutungslinie setzte er mit der Kriegserklärung vom 1. September 1939 ein, reichte aber mit der Erfahrung und Bewältigung von militärischem Zusammenbruch, Flucht und Vertreibung weit über 1945 hinaus.
In der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR galt eine Offizialkultur der Heroisierung, die in der ersten Zeit sogar darauf drängte, Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und Homosexuelle als "Nur-Opfer" und "Nicht-Kämpfer" aus der Kategorie Opfer des Faschismus (OdF) auszugrenzen. Zu ihr sollten nach einer sächsischen Richtlinie vom September 1945 allein "Kämpfer gegen den Faschismus" zu zählen sein, die in der Zeit ihrer NS-Haft und danach "kämpferische Einstellung" bewiesen hätten. Eine so enge Auslegung des "Kämpferideals" wurde zwar rasch zugunsten einer Integrationspolitik wieder aufgegeben, die auch rassisch Verfolgte als OdF anerkannte; sie setzte sich aber in einer Hierarchisierung der Opfergruppen fort, die den Kämpferstatus für die Gruppe der "politischen Überzeugungstäter" reservierte. Schon 1948 waren die Schicksale von Verfolgten außerhalb des kommunistischen Widerstandes und besonders der Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik im Rundfunk der SBZ kein Thema mehr, während das Leiden der Zivilbevölkerung etwa in der Zerstörung Dresdens vorwiegend als politisches Argument im Kalten Krieg Verwendung fand: "Die Ruinen unserer Städte und die Leichen, die unter ihnen begraben sind, verdanken wir Amerika und England. Das, was unser Volk (...) an Lebens- und Aufbaukräften behalten hat, verdanken wir der Sowjetunion." Stattdessen stieg der im KZ ermordete KPD-Führer Ernst Thälmann, der in den ersten Nachkriegsjahren nur eine Randrolle in der kommunistischen Erinnerungspolitik spielte, zur beispielgebenden Ikone eines parteisakralen Heldenkultes auf. Entsprechend nahm die ab 1956 zum "Mahnmal für die Opfer des Faschismus" umgewidmete Neue Wache Unter den Linden in Berlin gleichrangig nebeneinander zwei symbolische Gräber auf: das des unbekannten Widerstandskämpfers und das des unbekannten Soldaten.
Die leitenden Topoi der westdeutschen Erinnerung kreisten im öffentlichen Diskurs der ersten beiden Jahrzehnte mit der Ausnahme Stalingrads weniger als nach dem Ersten Weltkrieg um die militärischen Kriegshandlungen selbst - deren Thematisierung weitgehend auf die Heftchenwelt der Landserromane und die militärische Memoirenliteratur beschränkt blieb - als vielmehr um deren Auswirkungen. Im Vordergrund standen das Grauen des Bombenkriegs und die Zerstörung der Städte, die Umstände von Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten und das Schicksal der Soldaten in der Kriegsgefangenschaft. Öffentliche Aufmerksamkeit wurde daneben, wenngleich zögernd und heftig umkämpft, dem militärischen und dem christlichen Widerstand gegen das NS-Regime zuteil, während dessen Terrormaschinerie und die in den Holocaust mündende Verfolgung von Juden und anderen als "fremdrassig" aus der Volksgemeinschaft Ausgegrenzten lange Zeit nur einen randständigen Platz in der öffentlichen Erinnerung fanden. Die antifaschistische Geschichtserzählung der DDR wiederum rückte den Überfall auf die Sowjetunion und deren vom kommunistischen Untergrundwiderstand in Deutschland unterstützten Befreiungskampf in das Zentrum der öffentlichen Thematisierung.
Spiegelbildlich standen auch die Tabus und Blindstellen der beiden Kriegsgedächtnisse zueinander: Im Westen blieben die von der Wehrmacht gedeckten und mit ihrer Beteiligung durchgeführten Massenmorde hinter der Front im Osten und die Auslöschung der intellektuellen Eliten in Polen und Russland über Jahrzehnte hinweg praktisch ausgeblendet, ebenso das Verbrechen an den über drei Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft umgekommenen sowjetischen Soldaten, aber auch der kommunistische Widerstand gegen Hitlers Herrschaft und die Beteiligung der deutschen Gesellschaft am nationalsozialistischen Zivilisationsbruch. In der DDR hingegen wurden bis in die 1980er Jahre der mörderische Antisemitismus des "Dritten Reichs" und der Elitenwiderstand gegen das Regime ebenso ausgespart oder marginalisiert wie der westalliierte Anteil am Sieg über Hitler und die barbarischen Begleitumstände der sowjetischen Eroberung des deutschen Ostens und Berlins. Als der DDR-Historiker Günter Paulus 1965 davon zu sprechen wagte, dass die "Freiheit (...) nicht als freundlich blickende Göttin mit einem Palmenzweig in der Hand (...) zu uns Deutschen" kam, sondern "in Panzern über unsere Straßen" rollte und "mit dem Gewehrkolben an die Türen" pochte, traf seine Schrift über die "12 Jahre des Tausendjährigen Reiches" auf den Widerstand parteiamtlicher Zensoren: Wenn es "heißt, daß die Freiheit zu den Deutschen ,in Gestalt von Millionen fremder Soldaten in (...) verschlissenen erdbraunen Uniformen gekommen sei, so scheint uns das weder historisch richtig formuliert noch politisch vertretbar zu sein".
In der Folge war und ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland stärker als andere Aspekte der Zeitgeschichte von Umschreibungen und Deutungskämpfen geprägt, in denen sich die tiefgreifenden Verschiebungen des sozialen Gedächtnisses in oft ebenso überraschender Weise bemerkbar machen wie die Distanz des öffentlichen Geschichtsdiskurses von der fachwissenschaftlichen Erkenntnisbildung. Es ist Aufgabe der Weltkriegsforschung, dagegen anzugehen und gegen das Schweigebedürfnis alter Eliten, aber auch die Suggestionskraft der Zeitzeugenerinnerung oder den medialen Aufmerksamkeitswert der fachlichen Außenseiterthese an den Erkenntnisstand der zeithistorischen Fachwissenschaft zu erinnern. Zugleich aber sollte die zeithistorische Aufklärung über die Erinnerung der Wirklichkeit nicht die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Erinnerung vernachlässigen. Während noch vor zwanzig Jahren eine Forschungsbilanz zum Zweiten Weltkrieg die Bedeutung einer Rezeptionsgeschichte hinter der Realgeschichte gar nicht zu erkennen vermochte, hat seither der Erinnerungsboom längst die öffentlichen Modi der Vergangenheitsverständigung selbst zum Thema gemacht und die Frage in den Mittelpunkt gestellt, welchen übergreifenden Verarbeitungsmustern das deutsche und europäische Weltkriegsgedächtnis seit 1945 gefolgt ist.
Opferzentrierte Kriegserinnerung
Die offensichtlichste Konstante der Nachkriegsauseinandersetzung mit dem Krieg und den Folgen stellt für die Bundesrepublik ihr postheroischer Grundzug dar. Der verlorene Weltkrieg diente als Brücke einer jahrhundertgeschichtlichen Verschiebung des Geschichtsbewusstseins, die in erstaunlichem Maße das Opfergedenken an die Stelle der Heldenverehrung gesetzt hat und sich frappant von überkommenen monarchischen wie republikanischen Traditionen der Kriegserinnerung unterscheidet. Nicht nur das wilhelminische, sondern auch das Weimarer Heldengedenken würdigte in erster Linie den Heros und nicht das Opfer: "Den Gefallenen zum ehrenden Gedächtnis, den Lebenden zur ernsten Mahnung und den kommenden Geschlechtern zu Nacheiferung". So lautete Paul von Hindenburgs Hammerspruch bei der Grundsteinlegung des Tannenberg-Denkmals 1924, während die eine Welle öffentlicher Empörung auslösende Äußerung, dass das geeignete "Kriegerdenkmal der deutschen Soldaten nicht eine leicht bekleidete Jungfrau mit der Siegespalme in der Hand, sondern eine große Kohlrübe" sei, den bekannten Statistiker und Publizisten Emil Julius Gumbel bereits 1932 die akademische Lehrbefugnis kostete und ins Exil trieb. Den Heldenkult der NS-Zeit beschwor ein Soldatenbild, das nicht auf die besondere Auszeichnung, sondern auf die kollektive Opferbereitschaft abstellte: "Niemals kann ein Volk untergehen, solange es Männer sein eigen nennt, die jederzeit bereit sind zu sterben, damit ihr Volk lebe."
Die westdeutsche Kriegserinnerung nach der Zäsur von 1945 hingegen kreiste um das Opfer. Sie ließ die Deutschen "als passiv Duldende, als Leidende und Opfer einer skrupellosen, zutiefst bösartigen Führung erscheinen", die je nach eigenem Schicksal zu Opfern der vordringenden Roten Armee im Osten und ihrer Vertreibungspolitik wurden, zu Opfern der "Operation Gomorrha" in Hamburg und der Auslöschung Dresdens, aber auch zu Opfern ihrer eigenen Verführung durch einen teuflischen Messias und der immer terroristischer agierenden Repression seiner Schergen. Allein der Widerstand gegen das NS-Regime bot nach 1945 Anknüpfungspunkte einer zaghaften Heroisierung, die allerdings vielfach durch die Akzentuierung des erlittenen Verfolgungsschicksals viktimistisch getönt blieb. Dies gilt selbst für die Ehrung der Hitler-Attentäter im Berliner Bendlerblock, in dem der Auflehnungsversuch Claus Schenk Graf von Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer am Abend des 20. Juli 1944 zusammenbrach. Ihrer mutigen Tat gedenkt seit 1953 eine von einem früheren NS-Bildhauer geschaffene Bronzestatue eines gefesselten Jünglings, die der Heroisierungskraft des Aufstellungsortes im Ehrenhof des Bendlerblocks, in dem Stauffenberg den Tod fand, schon durch die Motivwahl entgegenzuwirken sucht und darin durch Edwin Redslobs Sockeltext "Ihr trugt die Schande nicht, Ihr wehrtet Euch" noch weiter bestärkt wird. Damit nicht genug, wurde die Statue 1980 buchstäblich vom Sockel geholt und so beziehungslos neu platziert, dass sie heute im Kontext der sachlich statt heroisierend gehaltenen Ausstellung "vor allem als Zeitdokument gesehen und kritisch analysiert" werden kann.
Nur scheinbar ergab sich die opferzentrierte Ausrichtung der Kriegserinnerung in der Bundesrepublik unmittelbar aus dem mit dem Krieg verbundenen Sterben und Leiden selbst; tatsächlich aber setzte der Aufstieg des Opfers in der Kriegserinnerung schon vor 1945 ein. Eine spezifische Amalgamierung von Held und Opfer ist dem nationalen Bild des Krieges spätestens seit dem Ersten Weltkrieg eingeschrieben. Sie zeigt sich im Mythos des tragischen Märtyrer-Helden, den in der deutschen Kriegserinnerung der Langemarck-Mythos um den Opfertod deutscher Studentenkompanien auf den flandrischen Schlachtfeldern im Herbst 1914 und ebenso das Aufkommen der Dolchstoßlegende über das von der Heimat verratene Heldenheer 1919 ausbildeten. In der semantischen Doppelbedeutung des Begriffs "Opfer" verschwimmt der Unterschied zwischen dem freiwilligen Selbstopfer des sacrificium und dem ohnmächtigen Erdulden der victima. Das heldische Opferbild der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg kreiste allein um das aktive Märtyreropfer im Sinne des sacrificium, während sich der Wandel des Opferbildes vom sacrifice zum victime in der Opferperspektive erst in der Untergangsphase des "Dritten Reichs" vollzog.
Die semantische Verschiebung vom heroischen zum leidenden Opfer lässt sich wie in einem Brennspiegel an einem einzigen Vorgang ablesen: der Rezeption der Schlacht von Stalingrad und des Untergangs der 6. Armee im Winter 1942 auf 1943. Bereits vor der fachhistoriographischen Erschließung wurde Stalingrad zum Thema der populären Literatur, die in Illustriertenreportagen ebenso wie im Rechtfertigungs- und Memoirenschrifttum breite Leserresonanz erzeugte, dokumentarischen wie dramatischen und später auch filmischen Niederschlag fand. Die Erklärung ist darin zu suchen, dass "Stalingrad" einen erinnerungskulturellen Paradigmenwechsel markiert und den narrativen Wechsel vom heroischen zum viktimistischen Opferbild einleitete: In der Erinnerung an den Untergang der 6. Armee lösten sich die Deutschen von der mimetischen Vergegenwärtigung der Vergangenheit als heroischer Selbstbehauptung und reorganisierten ihr Geschichtsbild als Opfererzählung, in deren Zentrum immer gebieterischer das erduldete Leiden stand. Während die NS-Führung mit der Leonidas-Rede Hermann Görings die Deutschen am Radio auf das Untergangsnarrativ des tragischen Helden einzuschwören suchte, sah schon der zur Kapitulation gezwungene Verantwortliche, General Friedrich Paulus, sich selbst als passives Heldenopfer. Für die deutsche Bevölkerung schließlich wurde Stalingrad rasch zum Schreckenssymbol des Verführungs- und Führungsopfers, das bruchlos in die Selbstviktimisierung der Nachkriegszeit hinüberreichte.
"Stalingrad" steht somit für ein Transitionsphänomen, das den Heldendiskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Opferdiskurs der zweiten Hälfte überführte. Mit dem als Katastrophe erfahrenen Untergang des "Dritten Reiches" löste sich das Leidensopfer vom Heldenopfer und konnte sich die Nachkriegszeit als "Gemeinschaft von Opfern" konstituieren, wenngleich das Genre der Soldatenerinnerungen das Erzählmuster eines sakrifizierenden Opfertodes noch bis in die 1950er Jahre hinein pflegte und auch das staatliche Gedenken sich noch betont "des dargebrachten und des erlittenen Opfers" zugleich annahm.
Entlastungsnarrativ
Auf die schon im Zweiten Weltkrieg ausgebildete Memorialfigur der Selbstviktimisierung konnte nach 1945 die entlastende Erinnerung der "Kollektivunschuld" (Edgar Wolfrum) aufbauen, in der die eigene Täterschaft hinter der Selbstwahrnehmung als Opfer brauner Verführung, "anglo-amerikanischer" Bombardierung und sowjetischer Siegerwillkür zurücktrat. Das Ende des Weltkriegs wurde in den westlichen Zonen und in der Bundesrepublik von einer überwältigenden Mehrheit als "düsterer Tag der tiefsten Erniedrigung" wahrgenommen und zu dem 1950 eingerichteten jährlichen Volkstrauertag besonders mit religiöser Sinngebung gefüllt, die den Rahmen des Gedenkens an ein "beispiellos grausames Dahinsterben von Millionen Menschen" abgab.
Als Bauformen des Erinnerns dienten in der Nachkriegsgesellschaft neben der entkonkretisierenden und tabuisierenden Ausblendung und der Selbstrechtfertigung die Argumentationsfiguren der Schuldaufrechnung und des Werterelativismus. Sie lieferten etwa die Lebensbeschreibungen aus der Feder Heinz Guderians oder Erich Mansteins und Ernst von Salomons Millionenerfolg "Der Fragebogen", in dem der Autor den moralischen Überlegenheitsanspruch der amerikanischen Sieger am Beispiel seiner eigenen Internierungserfahrung in erzählerischer Eingängigkeit konterkarierte. Als weit wichtigere Denkfigur der Entlastungserinnerung aber erwies sich die trostspendende Kontrastierung von Vernichtung und Wiederaufbau, die die lokale Kriegserinnerung noch bis zur Wahrnehmung der städtischen Weihnachtsbeleuchtung prägte: "Wo man in jener Nacht, und noch Monate später, sich mühsam einen Weg durch die Trümmer bahnte, strahlen jetzt wieder bunte Lichterketten, gehen frohe Menschen ihrer Arbeit nach."
Ende der 1950er Jahre geriet dieser historische Entlastungsdiskurs zunehmend unter Legitimationsdruck. Er wurde im Gefolge der NS-Prozesse von Ulm und Frankfurt/Main und des politisch-kulturellen Generationswechsels der 1960er Jahre unter dem Schlagwort der "unbewältigten Vergangenheit" allmählich durch eine Kriegserinnerung abgelöst, die dem bisherigen "Beschweigen" den Willen zur ernsthaften Auseinandersetzung mit der beschämenden Vergangenheit entgegensetzte und mit der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie "Holocaust" Ende 1979 Deutungshoheit zu erlangen begann. Seine volle gedenkpolitische Anerkennung erfuhr der Bewältigungsdiskurs 1985, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Befreiungsnarrativ zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in das historische Selbstverständnis der Bundesrepublik aufnahm. Damit hatte die historisch-politische Kultur der Bundesrepublik einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel vollzogen, wie "Der Spiegel" 1995 in seiner Ausgabe zum 50. Jahrestag der Niederlage verkündete, die auf dem Titelblatt die "Bewältigte Vergangenheit" proklamierte und mit der Titelgeschichte "Besiegt, besetzt, befreit" unterlegte. Wie sehr der neue gesellschaftliche Grundkonsens auf die Anerkennung der eigenen historischen Schuld gegründet war, bewies ein Jahr später Bundespräsident Roman Herzog, als er den Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zum offiziellen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärte. Die Integrationskraft des postnationalen Befreiungsnarrativs erwies sich als so durchschlagend, dass sie umgekehrt schon bald zur Sorge Anlass gab, die Erinnerung an den Holocaust könnte zur "produktive(n) Ressource deutscher Identitätsbildung ex negativo" werden.
Neuer Opferdiskurs
Dieser seit Mitte der 1980er Jahre weithin geltende Erinnerungskonsens wurde in den vergangenen Jahren auf überraschende und vielfach geradezu verstörende Weise in Frage gestellt, nachdem gerade erst mit der Zerstörung der Legende von der sauberen Wehrmacht die letzte Bastion einer "unbewältigten Vergangenheit" geschleift zu sein schien. Unterstützt durch die mediale Karriere des Zeitzeugen, hat sich das Opfernarrativ aus den Schranken einer aufklärerischen Vergangenheitsbewältigung gelöst und ist von den Opfern der Deutschen zu den Deutschen als Opfern zurückgekehrt. Wie durchgreifend diese abermalige Fokusveränderung wirkt, zeigt sich an so unterschiedlichen literarischen Erzeugnissen und Initiativen wie Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang", Jörg Friedrichs Bombenkriegsanklage "Der Brand" oder dem neu verlegten und mittlerweile verfilmten Anonyma-Buch. Gleiches vollzieht sich auf politischer Ebene mit Erika Steinbachs Initiative für ein "Zentrum gegen Vertreibungen" und schon vorher mit der Renaissance des Vertreibungsthemas überhaupt, die "Der Spiegel" 2002 als Rückkehr zur historischen Normalität interpretierte. Wie sehr die Viktimisierung sogar das Zentrum des nationalsozialistischen Verbrechens erreicht hat, machte der Publikumserfolg von Oliver Hirschbiegels und Bernd Eichingers Film "Der Untergang" (2004) deutlich, der mit einem Tabu der filmischen Hitler-Darstellung brach und den Diktator selbst als Opfer präsentierte - seiner Illusionen und seines Wahns, aber auch des gewandelten Kriegsglücks und des politischen Verrats wie der menschlichen Vereinsamung.
Wie lässt sich die neuerliche Zuwendung zur Geschichte der Bombenopfer, der Flüchtlinge und Vertriebenen und der Kriegskindergeneration interpretieren? Entspringt sie einer längst überwunden geglaubten Mentalität der Schuldaufrechnung: die Deutschen - ein Volk von Opfern? Aus der Perspektive eines aufklärerischen Bewältigungsgedächtnisses lässt sich der erinnerungskulturelle "Gezeitenwechsel" seit den 1990er Jahren nur zu leicht als geschichtspolitische Schuldentsorgung deuten, und tatsächlich ist der neue deutsche Opferdiskurs nicht frei von Misstönen einer relativierenden Unbefangenheit, welche die Singularität des Holocaust hinter einer dekontextualisierten und ubiquitären Nutzung der Chiffre "Auschwitz" oder der gedenkpolitischen Gleichsetzung von "erster und zweiter deutscher Diktatur" zurücktreten lässt. Gegen eine Dominanz dieser relativierenden Erinnerung mit dem verlockenden "Charme des Opferstatus" spricht allerdings, dass der abermalige Wandel der Opferperspektive sich mit dem Selbstverständnis verbindet, die Erinnerungsfigur der Schuldaufrechnung nicht etwa zu erneuern, sondern überhaupt erst außer Kraft zu setzen. Die erinnerungskulturelle Neuausrichtung richtet sich gegen den "Wiederholungszwang der halbierten Erinnerung", der in seiner aufklärerischen Bewältigungsabsicht die Verdrängungsleistung des historischen Entlastungsdiskurses fortgeführt und lediglich von der einen missliebigen Leiderfahrung auf eine andere übertragen habe. Gerade weil die im Wandel begriffene Kriegserinnerung fest in dem seit den 1980er Jahren erreichten Deutungskonsens über den verbrecherischen Charakter des NS-Systems gegründet ist, vermag sie die "Traumatisierung von weiten Teilen der deutschen Gesellschaft" in den Blick zu nehmen, ohne "zu alten Verdrängungsstrategien zurückzukehren" oder gar die NS-Verbrechen zu relativieren.
Dementsprechend stark legitimiert sich die neue Sicht aus einer vermeintlichen oder wirklichen Tabuisierung des erlittenen Kriegsschicksals im deutschen Bewältigungsgedächtnis, dessen gedenkpolitische Schweigegebote auf die Fortwirkung einer anhaltenden Traumatisierung durch die verstörenden Schockerlebnisse in den Luftschutzkellern, auf den Flüchtlingstrecks und in der "Kriegskindschaft" schließen ließen.
Vieles spricht daher dafür, den neuen Opferdiskurs als Ausdruck eines abermaligen Paradigmenwandels der zeithistorischen Besinnung zu interpretieren. Getragen von einer Pluralisierung ihrer Erzählmuster im Zeichen des cultural turn und von der historischen Vergewisserungssehnsucht der Erinnerungskultur mit ihrem geradezu unbändigen "Bedürfnis nach gegenwärtiger Verortung qua Erinnerung", löst sich die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer seit den 1960er Jahren erarbeiteten Gefechtsstellung der Bewältigung durch Anklage. Stattdessen ist sie im Begriff, eine Kriegserinnerung herauszubilden, die sich an der für die gegenwärtige Diktaturaufarbeitung geltenden Inklusionsformel orientiert und von einem entpolitisierten Opferbegriff ausgeht.
Das inklusive Aufarbeitungsgedächtnis der Gegenwart hat den Akzent von der lernenden Aufklärung zur heilenden Anerkennung verrückt, und in ihrem Zentrum rangiert die Kompensation historischen Unrechts durch Opferanerkennung und Täteridentifizierung höher als die Unterscheidung zwischen dem Tod in der Gaskammer und dem Tod im Feuersturm oder zwischen einem deutschen Schreibtischtäter und einem englischen Bombergeneral.