I. Wenn die Mitte nicht mehr rechts von links ist
Im Frühjahr 2001 wartete Franz Müntefering mit ziemlich wunderlichen Einsichten auf. "Mitte ist da, wo die linke Volkspartei SPD ist", schrieb er seinerzeit in einem Thesenpapier: "Die linke Volkspartei SPD, das ist die Mitte."
Gut begreiflich an diesen Sätzen war immerhin das strategische Kalkül des sozialdemokratischen Generalsekretärs, die Unionsparteien als politische Phänomene ganz am rechten Rand des deutschen Parteiensystems zu verorten. Fast schon mutwillig dagegen wirkte Münteferings Bereitschaft, zu diesem Zweck alle gängigen Regeln von Logik und Semantik hintanzustellen. Denn wie könnte wohl etwas die Mitte markieren, was doch zugleich links sein soll? Was wäre überhaupt noch links, wenn links bereits in der Mitte läge? Behauptete Müntefering hier nicht geradezu die begriffliche Identität der Kategorien "Zentrum" und "Peripherie"? Wie sollte das möglich sein?
Erwartungsgemäß empört reagierten die Unionsparteien. "Die Mitte ist rechts von links" - mit diesem knappen, formal unbestreitbar zutreffenden Satz hat die CDU-Vorsitzende Angela Merkel inzwischen versucht, die von Franz Müntefering und der SPD angerichtete Unordnung wieder aus der Welt zu schaffen. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Man könnte die ganze, im Grunde bereits seit dem erfolgreichen Neue-Mitte-Wahlkampf der SPD 1998 andauernde Kontroverse um die Zentralposition im Parteiengefüge als ziemlich inhaltsleeres Gezänk abtun, ließe sie nicht interessante Rückschlüsse auf die Bedeutungswandlungen und -verschiebungen zu, denen die politischen Richtungsbegriffe heute unterliegen. Wo dergleichen Ungewissheit hinsichtlich grundlegender politischer Ordnungsbegriffe wie "links" und "rechts" möglich geworden ist, da bestehen über deren Substanz und Gehalt offenbar keine allgemein geteilten Vorstellungen mehr. Zumal von einem Konsens darüber, mit welchen inhaltlichen Positionen und übergeordneten Prinzipien diese traditionsreichen Zuschreibungen jeweils verbunden sein könnten, kann anscheinend nicht mehr im Ernst die Rede sein, wenn historisch so unterschiedliche Parteien wie SPD und CDU meinen, denselben Platz in der "Mitte" reklamieren zu sollen.
Doch das ist nur die eine Seite des Problems. Denn schon Franz Münteferings etwas verwegen anmutender Versuch, die SPD gleichzeitig links und in der Mitte zu positionieren, lässt andererseits darauf schließen, dass die "politische Gesäßgeografie des 19. Jahrhunderts" (Heiner Geißler) als politisches Orientierungsraster noch längst nicht ausgedient hat. Tatsächlich kann die SPD bei aller Fixierung auf weltanschaulich ungebundene Wechselwähler nicht riskieren, fortan ausschließlich als Partei der Mitte zu gelten und ganz auf das hergebrachte Attribut "links" zu verzichten. Die Kerngruppen unter ihren Mitgliedern und Anhängern würden das nicht dulden, selbst wenn auch sie zuweilen nur noch unklare Vorstellungen darüber haben mögen, was unter linker Politik heute inhaltlich zu verstehen sei.
Die Verwirrung betrifft nicht nur die SPD. Zur politischen Linken zählen die Deutschen neben der Sozialdemokratie so disparate Parteien wie die PDS und die Grünen.
Bleiben die Grünen. "Wir haben als Partei der Ökologie linke Traditionen aufgenommen, wertkonservative und auch solche des Rechtsstaatsliberalismus", heißt es in der Präambel ihres neuen Grundsatzprogramms. "Die Frauenbewegung, die Friedensbewegung und die Bürgerrechtsbewegung in der damaligen DDR haben das Profil unserer Partei mit geprägt."
In der politischen Vorstellungswelt der Deutschen ist die politische Ordnungskategorie "links" noch immer lebhaft präsent - bloß was mit ihr gemeint sein könnte, darüber gehen die Vorstellungen weit auseinander. Zugleich links und Mitte sein will die SPD; für die einzige echte Linkspartei hält sich die PDS; und ihre linken Wurzeln kappen oder doch wenigstens vergessen möchten, wie es scheint, am liebsten die Grünen. Doch wie auch immer, die drei traditionell als links geltenden Parteien der deutschen Politik kommen an dem alten, von vielen für überkommen gehaltenen Begriff noch immer nicht vorbei. Was immer ihre Vertreter sagen oder tun, man rechnet sie unverdrossen einer "Linken" zu, über deren Eigenschaften weithin jedoch gar keine klaren Auffassungen mehr bestehen. Klar zutage liegt damit einstweilen nur, dass mit dem Begriff "links" heute anderes bezeichnet wird als zu früheren Zeiten. Mit einer alten politischen Landkarte müssen sich sowohl die Parteien wie die Bürger in ungewohntem Gelände zurechtfinden.
II. Kein Abschied vom geerbten Kompass
Whats left? Was bedeutet unter diesen Bedingungen also noch "links"? Was bleibt übrig von der Linken? So lauteten schon in den frühen Jahren nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime die Fragen nach der Zukunft jener Parteien, die sich traditionell der linken Hälfte des Parteienspektrums in Deutschland zugerechnet hatten. Ob es angesichts des vollständigen moralischen und materiellen Scheiterns des real existierenden Sozialismus überhaupt noch eine Perspektive für Parteien geben könne, die historisch aus denselben Quellen schöpften wie die untergegangenen Regime - in Deutschland wurde diese Frage in den neunziger Jahren keineswegs bloß bezogen auf die unmittelbare Nachfolgeorganisation der vormaligen Staatspartei SED gestellt. Erwartet wurde vielfach auch, dass der Zusammenbruch des Staatssozialismus auf verwickelten Wegen selbst dessen noch so entfernte weltanschauliche Verwandtschaft in Mitleidenschaft ziehen werde. "Der Sozialismus, der ... lange daran gewöhnt war, sich selbst zur Avantgarde zu zählen, ist plötzlich etwas Archaisches geworden und wird nun selbst der einst verachteten Vergangenheit zugerechnet", schrieb Anthony Giddens Mitte der neunziger Jahre.
Denn alles, was links war oder doch öffentlich als links wahrgenommen wurde, geriet nun erst einmal tief in die Krise. Unter Führung von Oskar Lafontaine steckte die SPD bei der Wahl zum ersten gesamtdeutschen Bundestag im Dezember 1990 mit nur 33,5 Prozent der Stimmen eine verheerende Niederlage ein. Die westdeutschen Grünen, erst drei Jahre zuvor mit 8,3 Prozent auf dem Höhepunkt ihres Erfolges angelangt, schafften es nicht wieder in den Bundestag, und kaum noch jemand hielt ihr gänzliches Ende für ausgeschlossen.
Das also war die Lage. Die PDS sah einer trüben Zukunft als außerparlamentarisches Konventikel einer handvoll Unbelehrbarer entgegen; mit den Grünen ging es zu Ende; und ob die Sozialdemokratie den Untergang der sozialistischen Utopie langfristig überdauern könne, galt mindestens als ungewiss. Kurz, zu Beginn der neunziger Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts sah es nicht gut aus für die Parteien der deutschen Linken. Doch dann kam alles anders. Zumindest in wahlpolitischer Hinsicht hat sich bislang keine einzige der Weissagungen vom unweigerlich bevorstehenden Niedergang der politischen Linken bewahrheitet. Im Gegenteil: Seit ihrem bemerkenswerten Wahlsieg von 1998 stellen die Sozialdemokraten gemeinsam mit den Grünen die Bundesregierung. Zugleich ist die PDS, als starke Regionalpartei der ostdeutschen Länder mittlerweile tief verwurzelt, zur bundespolitischen Größe mit weiterer Wachstumsperspektive im gesamtdeutschen Parteiensystem geworden. Vor dem Hintergrund der Erwartungen der frühen Jahre mutet das überraschend an. Fast scheint es, als wären alle Überlegungen zur geistigen, moralischen und programmatischen Misere der Linken seit und wegen der Revolution von 1989 ganz voreilig und intellektuell verstiegen gewesen: Als ob sich die Wähler in ihrer Mehrheit je nennenswert um die Tauglichkeit der programmatischen Grundorientierungen kümmern würden, auf welche sich die Parteien jeweils bezogen! Und tun sie das nicht, worin eigentlich sollte sich dann die Lage nach dem vermeintlich so fundamentalen Gezeitenwechsel des Jahres 1989 von den Verhältnissen zuvor unterscheiden?
Jedenfalls waren grundsätzliche Zweifel daran, dass die herkömmliche Differenzierung zwischen "rechts" und "links" in der Politik überhaupt noch sinnvoll sei, in den frühen neunziger Jahren weit verbreitet.
Was für die Selbstwahrnehmung der Parteien gilt, das gilt erst recht für deren Außenwahrnehmung durch die Bürger.
Offensichtlich werden aber Zuordnungen dieses Musters der gewachsenen Komplexität der politischen Konfliktdimensionen kaum gerecht. "Links - Rechts ist als Orientierungsschema nicht überholt, für die Gesamtheit heute wichtiger Positionen aber nicht komplex genug", bemängelt etwa Joachim Raschke.
Auf ihren guten alten Links-Rechts-Kompass, ohne den im Übrigen ja auch die Rede von der "Mitte" ganz sinnlos wäre, wollen die Bürger also nicht gern verzichten. Ein Kompass schafft Orientierung, auf die man umso weniger verzichten mag, je unübersichtlicher einem die Landschaft erscheint. "Der Nutzen des Links-Rechts-Schemas liegt darin, dass es die vielfältigen Konfliktkonstellationen in der politischen Arena auf einen einfachen Dualismus verkürzt, der die politische Einschätzung und Selbsteinschätzung des Wählers auch ohne größere Sachkenntnis möglich macht", schreibt der Politikwissenschaftler Frank Decker.
III. Von Gleichheit, Fortschritt, Zuversicht
Nur wenig in der Politik verändert sich so schwerfällig wie die Vorstellungen, die sich die Bürger von den Profilen der Parteien machen. Die Vorurteile und nicht hinterfragten Annahmen über die mutmaßlichen programmatischen Profile der Parteien sitzen viel tiefer, als professionelle Politikbeobachter üblicherweise vermuten. Die "Partei der Wirtschaft" und die "Partei der sozialen Gerechtigkeit", die "Partei des Bürgertums" und die "Partei der kleinen Leute" - all diese zählebigen Zuschreibungen existieren selbst dort weiter, wo sich die tatsächlichen sozialen und politischen Gegebenheiten längst verändert haben, die mit ihnen beschrieben werden sollen.
Wer die Frage beantworten will, kommt ohne irgendeinen Maßstab nicht aus. Aber welche überdauernden Kriterien für linke Politik in einem substanziellen Sinne lassen sich eigentlich benennen, mit deren Hilfe diese Frage überhaupt beantwortet werden könnte? Das Problem lässt sich prinzipiell angehen oder konkret. Für Norberto Bobbio besteht, sehr grundsätzlich, das wichtigste und beständige Unterscheidungsmerkmal zwischen der Rechten und der Linken in deren unterschiedlicher Haltung zum Ideal der Gleichheit: "Das Thema, das in allen Variationen wiederkehrt, ist das des Gegensatzes zwischen horizontaler oder egalitärer Vision der Gesellschaft und vertikaler oder nichtegalitärer Vision", schreibt Bobbio.
Als zeitlos hilfreich erweist sich daneben das typisierende Begriffspaar des britischen Philosophen Michael Oakeshott, der zwischen den Prinzipien einer "Politik der Zuversicht" und einer "Politik der Skepsis" unterscheidet. Dabei kennzeichnet die Kategorie "Politik der Zuversicht" jene Grundhaltung, für die "die Tätigkeit des Regierens im Dienste der Vervollkommnung des Menschen" steht, während mit "Politik der Skepsis" die genau entgegengesetzte grundsätzliche Disposition beschrieben wird, diese Möglichkeit rundweg zu bestreiten.
IV. Ohne Debatten verwelken die Parteien
Wichtige Hinweise auf den Zustand von Grundwerten und Prinzipien der Parteien geben weniger die fertig formulierten Manifeste als die Debatten, die zuvor über diese Dokumente geführt worden sind. Über politische Ziele und Prinzipien zu diskutieren und dabei aus einer Vielfalt widersprüchlicher Vorstellungen einen kollektiv geteilten politischen Willen zu machen - nicht zuletzt dieser kommunikative Mechanismus der Integration ist es, mit dem Parteien ihren Fortbestand selbst über lange Zeiträume hinweg sicherstellen. Hören sie auf, sich über den Sinn und die Zwecke ihres Tuns zu verständigen, verwelken Parteien irgendwann.
In den Parteiführungen ist man sich dieses Zusammenhangs bewusst - jedenfalls im Prinzip. Deshalb sind derzeit alle drei präsumtiven Linksparteien mehr oder weniger intensiv mit dem Versuch beschäftigt, ihrer politischen Alltagsarbeit neue programmatische Überbauten zu verschaffen. Die Grünen haben ihr neues Grundsatzprogramm im März 2002 beschlossen, die neuen Manifeste von SPD und PDS sind derzeit noch in Vorbereitung. Dabei ist innerhalb der PDS seit Anfang 1999 kontrovers und vielstimmig über das neu zu beschließende Parteimanifest gestritten worden.
Programmatisch gemeinte Texte produzieren alle Parteien in der Tat auch in Wahljahren - gerade in Wahljahren sogar. Doch anders als bei der Beschäftigung mit Grundsatzprogrammen steht bei der Formulierung von Wahlprogrammen der kurzfristige Effekt im Vordergrund. Wo Grundsatzprogramme vorwiegend dem Zweck dienen, im Prozess ihrer Entstehung ins Innere der Partei hinein Integration und Orientierung zu stiften, sollen Wahlprogramme so viel Publikum wie möglich über die jeweiligen Kerntruppen der Parteien hinaus beeindrucken.
Nicht nur zwischen dem Bild, das sich Wähler von Parteien machen, und deren tatsächlichen inhaltlichen Positionierungen sind also beträchtliche Diskrepanzen möglich. Auch zwischen den politischen Präferenzen harter Kerne von Parteimitgliedern und dem wahlprogrammatischen Angebot strategisch kalkulierender Parteieliten können sich erhebliche Lücken auftun. Dieser Hinweis auf die eingeschränkte Aussagekraft und Reichweite programmatischer Festlegungen wird umso notwendiger, je weniger Parteien noch als originäre politische Aktionsausschüsse klar konturierter gesellschaftlicher Interessen oder dynamischer sozialer Bewegungen gelten können.
V. Ankunft in der betulichen Mitte
Unter den - in welchen Abstufungen auch immer - als links geltenden Parteien in Deutschland ist zweifellos die PDS diejenige, die den Vorwurf der programmatischen Verwaschenheit am wenigsten verdient. Weniger als SPD und Grüne setzen die Postkommunisten in diesem Wahljahr auf ideologisch ungebundene Wechselwähler. Eher im Gegenteil: Ihren festen Wählerstamm in Ostdeutschland hofft die PDS mittlerweile verstärkt um enttäuschte Linke aus dem Umfeld von SPD und Grünen zu ergänzen. Entsprechend geradeheraus und - für jeden Kenner sofort erkennbar - in enger Anlehnung an die geistigen Väter des Sozialismus beschreibt die Partei die eigene gesellschaftliche Rolle und Funktion in der Präambel ihres Wahlprogramms: "Deutschland braucht diese PDS, die gegen die Vorherrschaft des Großkapitals in Staat und Gesellschaft ankämpft, die Engagement der Menschen will und die natürlichen Lebensgrundlagen verteidigt. Ihr gesellschaftliches Ziel ist demokratischer Sozialismus - eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung der Einzelnen zur Bedingung der freien Entwicklung aller wird."
Weitaus weniger apodiktisch, ja geradezu defensiv und wolkig hingegen fällt heute der Versuch der Grünen aus, ihren gesellschaftlichen Ort zu benennen. Was sie waren, sind sie offensichtlich nicht mehr - und wollen sie auch nicht mehr sein. Aber was sind sie dann? "Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss", heißt es wenig selbstgewiss im neuen Grundsatzprogramm der Partei. "Inzwischen sind wir nicht mehr die Anti-Parteien-Partei, sondern die Alternative im Parteiensystem. Die entscheidende Veränderung war, dass wir uns zu einer Reformpartei entwickeln wollten und mussten, um erfolgreich zu bleiben. Unsere Visionen und Ziele wollen wir heute durch eine langfristig angelegte Reformstrategie erreichen."
Aber es ist eben ein Problem, mit dem sich keineswegs allein die Grünen herumschlagen. Wer in der Mitte ankommen will, der darf programmatisch und habituell kaum Ecken und Kanten haben. Doch wer keine Ecken und Kanten mehr hat, der büßt andererseits seine Konturen ein und macht sich verwechselbar - das ist das Dilemma. Zur Partei der Mitte zu werden, ohne dabei zugleich die spezifisch eigene programmatische und kulturelle Textur vollends einzubüßen - eben darin besteht deshalb die Gratwanderung, bei der auch die Sozialdemokraten nur mit größter Mühe und unter semantischen Verrenkungen nach dem Muster Müntefering gerade noch das Gleichgewicht halten. Immerhin den Versuch einer besonderen sozialdemokratischen Deutung der Mitte, "die ja zuallererst eine soziale Kategorie ist", hat letzthin Gerhard Schröder unternommen. Aus "ärmlichen Verhältnissen" stammend, sei er wie viele andere Angehörige seiner Generation und der nachfolgenden Jahrgänge zur SPD gekommen, weil diese neue Lebenschancen versprochen habe: "Für unsere Partei sollte die Mitte der Gesellschaft nicht länger durch Herkunft bestimmt sein, sondern durch Leistung und Gemeinsinn. Da sind wir angekommen. ... Die heutige Mitte hat ihren Weg in die soziale und politische Verantwortung nicht durch Anpassung an ein Juste-Milieu gemacht, sondern durch Aufbegehren gegen Autoritäten."
Diese Deutung besitzt einige Plausibilität. Das generationelle Zentrum der (west)deutschen Gesellschaft bilden heute die Geburtsjahrgänge 1950 bis 1970. In dieser Alterskohorte haben die beiden heutigen Regierungsparteien bei allen Wahlen seit den achtziger Jahren konstant hohe Mehrheiten erzielt. Der Politikwissenschaftler Franz Walter hat diese Jahrgänge die "sozial-liberale Kohorte" genannt, denn sie sind tief geprägt vom Zeitgeist und den Konflikten der siebziger und achtziger Jahre, von der "Willy-Wahl" 1972 bis zu den Aufmärschen von Mutlangen und Brokdorf.
Gemeinsam ist den gesellschaftlichen Selbstverortungen der Grünen, des sozialdemokratischen Bundeskanzlers und der sozial-liberalen Alterskohorte das Motiv der "Ankunft". Aufgebrochen an den sozialen oder kulturellen Rändern der westdeutschen Republik repräsentieren sie heute die politisch und ökonomisch erfolgreichen Kerngruppen des Landes, was sie zugleich sehr grundsätzlich von den in diesem Sinne Zukurzgekommenen der ostdeutschen PDS unterscheidet.
Die Mitte der Gesellschaft ist ein Ort, den diejenigen, die sich ihr zurechnen, üblicherweise nicht gerne wieder verlassen möchten. Die Mitte will am liebsten so bleiben, wie sie ist. Das macht sie vergleichsweise berechenbar, zugleich allerdings auch unbeweglich, statisch, immer ein bisschen phlegmatisch, kaum noch zu begeistern für irgendwelche "Innovationen", "Aufbrüche" oder "Visionen". "Der deutsche Volksstamm hat es gern gemächlich" - so hat Wilhelm Hennis das fortbestehende Dilemma bereits vor einigen Jahren auf den Punkt gebracht. "Erregte, aufgeregte Zeiten: den Dreißigjährigen Krieg, die entsetzlichen Kriege dieses Jahrhunderts, die damit verbundene Mobilisierung, Unruhe, den enormen Verlust an allen Sicherheiten und Traditionen haben wir in unguter Erinnerung."
VI. So wie es ist, geht es nicht weiter
What's left? Das Streben nach mehr gesellschaftlicher Gleichheit, angereichert um die Zuversicht, dieses größere Maß an sozialer Egalität mit den Mitteln freiheitlicher, demokratischer Politik tatsächlich verwirklichen zu können? So ungefähr ließe sich der Gehalt der Kategorie "links" in äußerster Verknappung vermutlich auch heute noch zusammenfassen. Dass für eine so verstandene linke Politik kein Anlass mehr bestünde, werden angesichts der unbestreitbaren Probleme von Globalisierung, von flexiblem und digitalem Kapitalismus im Ernst nur die wenigsten behaupten. Dramatische Umbrüche der sozialen Voraussetzungen demokratischer Politik sind längst in vollem Gange. "Es herrscht ein starkes, tief verwurzeltes und weit verbreitetes Gefühl, dass es so nicht weitergeht", schreibt der große liberale Soziologe Ralf Dahrendorf.
Es leuchtet auf Anhieb ein, weshalb diese historisch beispiellose Konstellation gerade Parteien mit traditionell linkem Selbstverständnis ins Mark treffen muss. Als historische Schrittmacher von Gleichheit und Fortschritt, für die sie noch immer gehalten werden, sind sie bei Strafe ihres Abstiegs darauf verwiesen, weiterhin glaubwürdige "Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Zukunft"
Gleichzeitig aber belegen Wahlergebnisse überall in Europa nur zu deutlich, dass linke Tradition und Programmatik derzeit keine wirklich überzeugenden Antworten auf die Phänomene neuer Ungleichheit, Exklusion und Entfremdung im globalisierten Kapitalismus bieten. In diesem Dilemma behilft man sich im Wahljahr 2002 mit Bordmitteln und dem technokratischen Jargon der Neuen Mitte. Wo die PDS so großspurig wie steril "die Regierenden" mit ihrer "Politik der sozialen Kälte"
"Globalisierung ist eine Herausforderung für uns", haben die Grünen im Übrigen in ihr neues Grundsatzprogramm geschrieben. So ähnlich liest man es überall, denn "die Globalisierung gestalten" wollen schließlich sämtliche Parteien. Aber niemand vermag so richtig zu sagen, was so ein Satz bedeuten soll, und viel spricht dafür, dass es nicht zuletzt genau diese beliebigen Leerformeln sind, die das Vertrauen der Menschen in die Gestaltungskraft demokratischer Politik so gründlich untergraben.