Historisches Erbe weiter prägend
Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist vielfach schon vergessen, dass Russland - wie alle ehemaligen "Ostblockstaaten" - nicht jungfräulich in die Transformationsphase ging, sondern ein historisches Erbe mit sich schleppte, das nachwirkt. Das sozialistische Planwirtschaftssystem hatte abgewirtschaftet. Es war zunehmend unfähig, die Produktionsfaktoren effizient zu kombinieren. Wirtschaftlich konnten die Staaten des "Sozialistischen Weltwirtschaftssystems" mit den westlichen Staaten nicht mehr mithalten. Das wesentliche Fundament des politischen und militärischen Systems zeigte gefährliche Risse, der Lebensstandard der Bevölkerung blieb zurück und die Produktionsbasis veraltete zusehends. Anstrengungen, das sozialistische System durch den Einbau kapitalistischer Elemente zu sanieren, brachten nicht den erhofften Erfolg. Der Zerfall auch des politischen Systems und der Übergang zu einem marktwirtschaftlichen System in einem längeren Transformationsprozess waren die Folge.
Die Transformationserfolge werden also zumindest von zwei Faktoren beeinflusst, und zwar von den angetroffenen wirtschaftlichen Strukturen sowie der eingeschlagenen Transformationspolitik und deren konsequenter Durchsetzung. Während Erstere vorwiegend die Tiefe der Transformationskrise bestimmten, sind Letztere vor allem für deren Länge verantwortlich. Vergleiche von Transformationserfolgen zwischen den verschiedensten Ländern müssen daher beide Komponenten betrachten, wenn sie aussagekräftig sein sollen.
In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion waren die strukturellen Verwerfungen am stärksten, da sie fast drei Generationen Sowjetwirtschaft hinter sich hatten (nur im Baltikum war die Zeit kürzer). Folge des sowjetischen Entwicklungsmodells waren eine "Überindustrialisierung" bei Dominanz der Schwerindustrie, d.h. der Energiewirtschaft, der Roh- und Grundstoffindustrie sowie der ersten Verarbeitungsstufen. Vergleichsweise wenig entwickelt waren die Konsumgüterindustrie und der Dienstleistungssektor. Ideologisch gefärbte wirtschaftspolitische Ziele und die systembedingte ineffiziente Verwendung von Energie, Rohstoffen und Vormaterialien auf allen Verarbei-tungsstufen waren dafür verantwortlich. Die aufgrund des geschützten Marktes geringe Konkurrenzfähigkeit sowjetischer verarbeiteter Produkte auf den Weltmärkten sowie die administrativ geplante Arbeitsteilung im "Sozialistischen Weltwirtschaftssystem" (COMECON/RGW) verstärkten diese strukturelle Deformation.
Neben den strukturellen Fehlallokationen kam es auch zu einer räumlichen Fehlallokation. Niedrige, administrativ festgelegte Frachtraten und die enorme Quersubventionierung von Produktionsprozessen durch staatlich fixierte Preise und "Plan-Verlustbetriebe" erlaubten die Erschließung und Gewinnung von Rohstoffen sowie die Standortwahl für industrielle Anlagen nahezu ohne Rücksicht auf die betrieblichen Kosten. Die Transportkosten waren kein die Raumstruktur bestimmender Faktor. Dieser Allokationsprozess führte daher zu erheblichen gesamtwirtschaftlichen Verlusten.
Beim Übergang zu einer Marktwirtschaft, bei der dieser zentrale Umverteilungsmechanismus abgebaut werden muss, war daher ein sektoraler sowie regionaler Strukturwandel erheblichen Umfangs bei gleichzeitiger Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Effizienz zu erwarten. Es wäre allerdings ein Wunschdenken, wenn davon ausgegangen würde, dass dieser Prozess ohne erhebliche soziale Kosten in Form von Freisetzungen beim Sach- und Humankapital und wesentlichen Verschiebungen in den Verteilungsprozessen in der Volkswirtschaft ablaufen könnte.
Die energie- und rohstoffwirtschaftlich geprägte Struktur ändert sich nur langsam
Nur geringe strukturelle Anpassung während der Transformationskrise
Gesamtwirtschaftlich ergab sich in den letzten Jahren eine Anpassung an marktwirtschaftliche Muster. Gemessen an der Bruttowertschöpfung in laufenden Preisen sank der Anteil der Industrie von 39,2 Prozent in 1993 auf 30 Prozent in 2001, derjenige der Landwirtschaft von 8,5 Prozent auf 7 Prozent, während die Anteile des Bauwesens von 7,4 auf 8 Prozent und der Dienstleistungen von 44,9 auf 55 Prozent anstiegen.
Die Schwerindustrielastigkeit der russischen Industrie hat sich bis 1998 noch dramatisch verstärkt. Der Produktionsanteil der Energie- und Brennstoffwirtschaft, Metallurgie sowie chemischen und petrochemischen Industrie stieg von 1993 bis 1998 um elf Prozentpunkte auf 53,6 Prozent. Verlierer war die Verarbeitende Industrie (Maschinenbau, die Holz-, Baumaterial- und Leichtindustrie sowie die Nahrungsmittelindustrie). Ihr Anteil sank um 11,4 Prozentpunkte auf 42,4 Prozent, wobei der Maschinenbau und die Leichtindustrie in besonderem Maße davon betroffen waren. Nur die Nahrungsmittelindustrie konnte ihre Position leicht verbessern.
Da gleichzeitig die russische Industrie bis 1998 auf nur noch 46 Prozent ihres Ausgangsvolumens von 1990 schrumpfte, verzeichneten aber auch alle schwerindustriellen Zweige einen - wenn auch zumeist geringeren - Produktionsrückgang. Dramatisch waren, wie die Anteilsverluste bereits vermuten lassen, die Produktionseinbrüche vor allem bei der Leichtindustrie und dem Maschinenbau, die 1998 nur noch 12 bzw. 37 Prozent des ehemaligen Produktionsvolumens erreichten.
Verantwortlich dafür waren vor allem externe Schocks wie der Zusammenbruch der stark protektionistischen Wirtschaftsräume des RGW und derSowjetunion sowie die Liberalisierung der Importe, welche die Schwächen der russischen Wirtschaft gnadenlos offen legten. Die zunehmende Überbewertung des Rubels verminderte die Konkurrenzfähigkeit der russischen Verarbeitenden Industrie sowohl im Export als auch auf dem Binnenmarkt bis 1998 weiter. Dagegen blieben die Märkte für Energie und Rohstoffe weitgehend erhalten. Die Preisbildung erfolgt für diese Produkte auf den internationalen Märkten; die russischen Anbieter konnten sich aufgrund der vorhandenen Infrastruktur (Rohrleitungen) hier ihre Marktanteile sichern.
Verstärkt wurde der Struktureffekt durch den dramatischen Einbruch der Realeinkommen, Gewinneinbrüche und die Probleme des Staatshaushalts (Defizite, Nichtauszahlung von Löhnen und Renten). Die Folge waren erhebliche Nachfrageausfälle sowohl beim privaten Konsum als auch bei den Investitionen.
Zudem sind statistische Verzerrungen zu berücksichtigen. Viele Beobachter gehen davon aus, dass die gesamtwirtschaftliche Leistung nicht so stark gesunken ist, wie dies in den offiziellen Zahlen zum Ausdruck kommt. Vor allem wird zu Recht davon ausgegangen, dass in den verarbeitenden Bereichen und bei den Konsumgütern ein überproportional hoher Anteil der Produktion in die Schattenwirtschaft abgewandert ist, wodurch die statistisch erfasste Produktionsstruktur zugunsten der Schwerindustrie verzerrt ist.
Für die starke Verzögerung der strukturellen Anpassung sind vor allem spezielle russische Transformationsphänomene verantwortlich:
- Die unechte bzw. lange Zeit unterbliebene Privatisierung.
- Der indirekt vielfach fortbestehende staatliche Einfluss auf die Produktionsentscheidungen der Betriebe.
- Die weiterhin administrativ extrem niedrig gehaltenen Energiepreise. Sie erlaubten eine betriebswirtschaftlich konkurrenzfähige Produktion von energieintensiven Produkten, wie z.B. Metallen, die damit auch ihren Markt im Ausland halten und sogar erweitern konnten. Damit setzte sich aber auch die Verschwendung von Energie zu Lasten der Energiebetriebe und des Staates sowie der Umwelt fort, und die gesamtwirtschaftliche Produktivität nahm nicht in dem gewünschten Maße zu.
- Die lange Zeit fortgesetzten offenen und später versteckten Subventionen für die schwerindustriellen Betriebe verstärkten diesen Effekt. Es handelt sich bei ihnen zumeist um gigantische Werke, von denen ganze Städte und Regionen abhängig sind und deren Entflechtung bzw. Konkurs vielfach mit politischen Mitteln verhindert wird.
- Demgegenüber gerieten die Zweige der Verarbeitenden Industrie in die oben aufgezeigte Zange abnehmender Nachfrage auf den Binnen- wie Außenmärkten und verstärkter Importkonkurrenz, wobei westliche Produkte zudem von einem Imagevorteil profitierten.
- Dies wurde durch die zunehmende Einkommensdifferenzierung noch verstärkt. Einer kleinen, aber zunehmend kaufkräftigen Gruppe steht die Masse der Bevölkerung gegenüber, deren Einkommen äußerst niedrig sind. Die Nahrungsmittelindustrie konnte daher trotz erheblicher Importe ihre Position insbesondere im Niedrigpreissegment weitgehend halten.
- Der überproportionale Einbruch der Investitionen (und des militärischen Bedarfs) in Russland (das Investitionsniveau betrug 1998 gerade noch 17 Prozent des Standes von 1990
Russland ist es bis 1998 also nicht gelungen, eine wesentliche Veränderung seiner Produktionsstruktur insbesondere im industriellen Bereich zu erreichen. Die Dominanz der Schwerindustrie ist weiterhin erdrückend, wenn auch seit der Rubelkrise 1998 eine leichte Verbesserung erkennbar ist. Einerseits haben die hohen Exporte an Energieträgern und Metallen Russland bei der Herstellung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts und der Lösung des Schuldenproblems enorm geholfen. Andererseits wird ein längerfristiges, relativ hohes Wachstum ohne Umstrukturierung und wesentliche Steigerung des Anteils der Verarbeitenden Industrie bei erheblicher Zunahme ihrer Konkurrenzfähigkeit nicht möglich sein.
Rubelabwertung stärkte die heimische Wirtschaft
Erst die dramatische Rubelabwertung vom August 1998 verschaffte der verarbeitenden Industrie wieder die nötige Luft zum Wachsen. Die Transformationskrise wurde endgültig überwunden. Die Wirtschaft hatte auf einen Wachstumspfad zurückgefunden, und der Anteil der Schwerindustrie sank wieder auf 50,5 Prozent, die verarbeitenden Bereiche, insbesondere der Maschinenbau, erholten sich auf 45,5 Prozent.
Entscheidend war die mit der Rubelkrise eingetretene massive nominelle und reale Abwertung des Rubels.
Die in der Folge einsetzende zunehmende Beschäftigung und die wieder beträchtlich steigenden Reallöhne unterstützten die Binnennachfrage weiter. Ähnliches gilt für die 1999 anspringende Investitionskonjunktur, die allerdings in letzter Zeit ernst zu nehmende Schwächen zeigt. Mit der günstigeren Entwicklung der Landwirtschaft und der durch die Währungskrise ausgelösten vermehrten Produktion ausländischer Anbieter vor Ort wurde vor allem die Nahrungsmittelindustrie gestärkt. In den Anteilswerten kommt dies aufgrund der insgesamt wieder wachsenden Industrieproduktion allerdings noch nicht so deutlich zum Ausdruck. Dagegen ist für die Leichtindustrie der Markt weitgehend weggebrochen; sie hat sich zwar ebenfalls erholt, konnte aber weniger stark von der Abwertung profitieren. Die höheren Bedürfnisse werden von westlichen Luxusfirmen über Importe bedient, das Niedrigpreissegment in hohem Maße durch Billigimporte aus Ländern wie der Türkei und China.
Mit der Energiepreissteigerung verbundene Einkommenstransfers stärken die russische Wirtschaft
Viele Beobachter sahen in den gestiegenen Weltenergiepreisen den dominierenden Faktor für die verbesserte Situation der russischen Wirtschaft nach 1998. Die Preissteigerungen führten zweifellos zu hohen sog. Windfall-Profiten, die der Staat über Exportzölle und Steuern sowie Devisenumtauschzwang zur Stabilisierung des Landes einsetzte: Das Staatshaushaltsdefizit wich einem Überschuss, die Handelsbilanz wurde hochgradig aktiv, Devisenreserven konnten in beträchtlichem Umfang aufgebaut werden. Direkt hatten sie aber keine Auswirkung auf das Wachstum. Die realen Exporte sanken. Ein Teil des Geldes ist auch nicht kaufkraftwirksam geworden, da es in die Bedienung von Auslandsschulden floss bzw. über die Kapitalflucht das Land wieder verließ. Der Rest hat allerdings nachfragestimulierend gewirkt, indem die Firmen mehr investieren konnten und der Staat in der Lage war, die rückständigen Löhne und Renten zu bezahlen.
Den meisten verantwortlichen russischen Politikern wird zunehmend klar, dass ohne eine weitere konsequente Transformation die notwendigen strukturellen Veränderungen nicht erreichbar sein werden. Vieles ist in den letzten Jahren bereits in Gang gesetzt worden. Abgesehen von einer wieder deutlich zu steigernden Investitionsrate sind vor allem in fünf Bereichen weitere Fortschritte notwendig.
Erstens: Die durch die Rubelabwertung gewonnene Wettbewerbsposition darf nicht durch eine weitere reale Aufwertung wieder geschwächt werden.
Zweitens: Der Marktzugang für kleine Unternehmen muss weiter erheblich entbürokratisiert werden. Diese Betriebe sind ein wesentliches Element für die Verbesserung der Produktionsstruktur.
Drittens: Das Bankwesen muss so weit umstrukturiert und gestärkt werden, dass es bereit und in der Lage ist, Kredite an die kleineren und mittlerenBetriebe zu akzeptablen Bedingungen zu gewähren.
Viertens: Der Marktzugang für ausländische Investoren im Bereich der Verarbeitenden Industrie muss weiter erleichtert werden. Dafür muss sich das gesamte Investitionsklima verbessern.
Fünftens: Es müssen die Energiepreise zumindest für den gewerblichen Sektor den internationalen Preisen angepasst werden. Die extrem niedrigen internen Energiepreise fördern die Energieverschwendung und damit die energieintensiven rohstoffwirtschaftlichen Zweige. Die Angleichung der Energiepreise ist zudem eine zentrale Forderung für die Aufnahme Russlands in die WTO und im Annäherungsprozess an die EU.
Regionale Strukturen
Marktwirtschaftliche Bedingungen und eine marktgerechtere Bewertung der Güter und Dienstleistungen, die mit der Transformation und der Preisfreigabe in vielen Bereichen einsetzte, können nicht ohne erhebliche Konsequenzen für die Regionalstruktur der Produktionsstandorte bleiben. Zu erwarten ist, dass die ferner gelegenen Regionen stärkere Produktionseinbußen erleiden als die zentralen Regionen, da sich ihre Produktion aufgrund der gestiegenen Transportkosten zu den Hauptverbrauchsgebieten und an die Grenze für den Export sowie wegen des Wegfalls sonstiger Subventionen in den meisten Fällen im Verhältnis zu den zentralen Standorten verteuert.
Die in Tabelle 3 zusammengestellten absoluten und Pro-Kopf-Anteile für das Bruttoregionalprodukt bestätigen diese Tendenz.
Angesichts des hohen Anteils der Roh- und Grundstoffindustrie an der wirtschaftlichen Leistung, der strukturellen Veränderung zugunsten der Dienstleistungen, der massiven Preisverschiebung und des Abbaus der zentralen Umverteilung der Ressourcen innerhalb der Volkswirtschaft erfolgt auch eine deutliche regionale Umstrukturierung der russischen Wirtschaft. Die Veränderung der Regionalstruktur während der Transformation lässt sich bisher jedoch nur in Ansätzen nachvollziehen. Vergleichbare Zahlen liegen erst seit 1994 vor. Wie die Wirtschaftsentwicklung zeigte, war zu diesem Zeitpunkt bereits ein erheblicher Teil der transformatorischen Anpassung erfolgt. Die Entwicklung von 1994 bis 1997 kann aber als Indikator für die vorherrschende Tendenz herangezogen werden. Zudem liegen bisher regionale Strukturdaten auch nur bis 1999 vor, so dass sich die regionale Verschiebung, die seit dem Übergang zu einem Wachstumspfad eingetreten ist, nur ansatzweise erkennen lässt.
Sowohl in der Abgrenzung von vor 1999 als auch in der Abgrenzung der Regionen ab 1999, die weniger aussagekräftig ist, wird deutlich, dass die wirtschaftliche Dynamik sich auf die zentralen und nordwestlichen Gebiete der Föderation verlagert. Nur noch die Rohstoffgebiete in Sibirien und dem Fernen Osten können ihre Position mit leichten Verlusten halten. Die übrigen Gebiete hatten alle bedeutende Verluste hinzunehmen. Die weiterhin dominierende Rolle der Rohstoffgewinnung und insbesondere der Förderung von Kohlewasserstoffen, Bunt- und Edelmetallen sowie Diamanten spiegelt sich in diesen Werten wider. Diese Bereiche hatten sich zunächst, wie oben gezeigt, in der ersten Transformationsphase relativ günstig entwickelt. Nur in den zentralen und teilweise in den nordwestlichen Gebieten konnte der Ausfall großer Teile der verarbeitenden industriellen und der landwirtschaftlichen Produktion durch die Entwicklung des Dienstleistungssektors und eine günstigere Position der Verarbeitenden Industrie ausgeglichen werden.
Diese Entwicklung setzte sich offensichtlich auch nach 1999 fort. Während der Zentrale, Nordwestliche und Südliche Föderale Bezirk in diesen Jahren überdurchschnittliche Zuwachsraten erreichten, fiel insbesondere der Fernöstliche Bezirk deutlich zurück (vgl. Tab. 4 und 5).
Die regionale Industriestruktur stützt die These vom dominierenden Einfluss der Rohstoff- und Energiewirtschaft auf die strukturelle und damit auch regionale Wirtschaftsentwicklung zu Beginn des Transformationsprozesses. Besonders deutlich wird dies für Westsibirien und die Wolgaregion. Dort haben nur die Gebiete, in denen Erdöl und Erdgas gefördert werden, ihre Anteile am BIP erhöhen können. Im Wolgagebiet sind dies die Republik Tatarstan und das Astrachaner Oblast', in Westsibirien das Tjumener Oblast' sowie die Erdölverarbeitungsstandorte im Tomsker und Omsker Oblast'. Dabei geben die Jahre 1998 und 1999 die Entwicklung eher noch zu moderat wieder, weil die Energiepreise auf dem Weltmarkt einen Tiefpunkt erreicht hatten.
Betrachtet man die Zuwachsraten der industriellen Entwicklung insgesamt anhand der offiziellen Statistik, die nur die Groß- und Mittelbetriebe umfasst, so wird der zu erwartende Bedeutungsverlust der peripheren Gebiete im Verhältnis zu den Zentren allerdings noch nicht in dem zu erwartenden Umfang bestätigt.
Erst seit 1998 bewegt sich die regionale Entwicklung in die erwartete Richtung. Zum einen ist dies auf die oben angeführte starke Stellung der Basisindustrien in der Anfangsphase der Transformation zurückzuführen, zum anderen ist die tatsächliche Entwicklung bei diesen Industriedaten erheblich zu Lasten der Kernregionen verzerrt. In der russischen Industrie spielt sich während der Transformation nicht nur eine branchenmäßige Umstrukturierung ab, sondern auch eine dramatische Veränderung der Größenstrukturen. Dies zeigt sich deutlich daran, dass von 1995 bis 1998 die Produktion der Mittel- und Großbetriebe um 15 Prozent zurückging, die aller Betriebe aber nur um 7 Prozent. Die Produktion der Kleinbetriebe, deren Anteil an der Gesamtproduktion 1998 21,4 Prozent erreichte, ist im gleichen Zeitraum demnach um etwa 42 Prozent gestiegen.
Es wird also bereits in Ansätzen eine deutliche Neubewertung des russischen Wirtschaftsraums erkennbar. Die peripheren Räume (insbesondere die nördlichen Gebiete Ostsibiriens und des Fernen Ostens) verlieren an Wirtschaftskraft im Verhältnis zu den zentralen Gebieten, zu denen aufgrund der verkehrstechnischen Anbindung auch der nordwestliche, zur Ostsee hin orientierte Raum zählt. Mit dem seit 1998 vorhandenen Wachstum der russischen Wirtschaft verstärkte sich diese Entwicklung noch.
Investitionsprozess verstärkt Energie- und Rohstofflastigkeit
Mit der Transformation setzte ein radikaler Investitionseinbruch ein. Die realen Gesamtinvestitionen in den Kapitalstock sanken gegenüber 1990 auf einen Tiefstand von 31 Prozent 1998 und erholten sich bis 2001 wieder auf 41 Prozent.
Strukturell zeigen auch die Investitionen die bereits bei der Produktion zu beobachtende Verschiebung (vgl. Tab. 6).
Während der ersten Transformationsphase hatten sowohl die Industrie - und dort auch die rohstoffgewinnenden Zweige - als auch die Landwirtschaft erhebliche überproportionale Investitionsrückgänge zu verkraften. Ihr Anteil an den Gesamtinvestitionen nahm stark ab. Zunahmen verzeichneten in dieser Phase vor allem das Bau-, Transport- und Nachrichtenwesen. Neben den strukturellen Verschiebungen ist für diese Entwicklung in erheblichem Umfang auch der noch nicht funktionierende Kapitalmarkt verantwortlich. Nur die Bereiche, die ausreichend Gewinne erzielten, vom Staat bevorzugt mit Investitionsmitteln versorgt wurden oder denen überproportional viel ausländisches Kapital zufloss, konnten sich relativ gut halten. Die zunehmend privatisierten verarbeitenden Industriebereiche, die vor allem auf die Selbstfinanzierung angewiesen waren, hatten dagegen wenig Chancen, bei der sinkenden Wirtschaftsleistung ihre Investitionen auszudehnen.
Mit dem einsetzenden Wachstum änderte sich dies. Die florierenden Zweige der Energie- und Rohstoffwirtschaft investierten überproportional, was insbesondere für den Bereich der Gewinnung von Erdöl und Edgas und die Buntmetallurgie zutrifft. Ihr Anteil an den Gesamtinvestitionen ist bis 2001 erheblich angestiegen. Deutlich gewonnen hat weiter das Transportwesen, wo das Rohrleitungsnetz für den Transport von Erdöl und Edgas eine bedeutende Rolle spielt.
Diese sektorale Verschiebung der Investitionen schlug sich auch entsprechend der Verteilung dieser Branchen in der Regionalstruktur der Investitionen nieder (vgl. Tab. 7).
Auch die Anteile der Großregionen an den Zuführungen zum Kapitalstock, die seit 1992 insgesamt dramatisch abgenommen haben, bestätigen die grundsätzliche Tendenz zur regionalen Umstrukturierung. Mit Ausnahme der Zentralregion haben nur die Gebiete mit Erdöl- und Gasgewinnung ihren Anteil beim Zufluss in den Kapitalstock steigern können. Dies zeigt, dass sich die Investitionen verstärkt in die zentralen Gebiete Russlands bis hin in die Nordwestregion verlagern. Dagegen verlieren die peripheren Räume, selbst wenn sie über Rohstoffe - außer Kohlenwasserstoffe - verfügen, immer mehr an Bedeutung.
Die sich verändernde regionale Struktur wird insbesondere auch an der Wanderungsbewegung der Bevölkerung deutlich. Während der natürliche Bevölkerungszuwachs in den peripheren Gebieten immer noch höher ist als in den zentralen Gebieten, verlieren diese durch Wanderungsbewegungen seit 1990 so viele Personen, dass sich die Tendenz bei der Bevölkerungszunahme in den letzten Jahren umkehrte.
Außenhandelsstruktur weiterhin unbefriedigend
Trotz vieler Versuche dies zu ändern, ist Russlands Exportstruktur weiterhin extrem energie- und rohstofflastig. Preis- und wettbewerbsbedingt hat sich dies in den letzten Jahren noch verstärkt. Daran wird sich auch kurzfristig wenig ändern. Trotzdem kann Russland aufgrund seiner starken industriellen Basis nicht zu den Entwicklungsländern gezählt werden, für die derart einseitige Exportstrukturen üblich sind. Mit der Transformation waren zwei für die Handelsbilanz entscheidende Entwicklungen verbunden. Zum einen wurde mit der beträchtlichen Handelsliberalisierung der Binnenmarkt der verstärkten ausländischen, insbesondere auch der westlichen Konkurrenz ausgesetzt. Zum anderen gingen aufgrund des Wegfalls des präferierten Handels mit den ehemaligen Mitgliedern des RGW und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken "leichte" Märkte verloren. Die Preise und damit auch der Wechselkurs nahmen zunehmend Einfluss auf die Gestaltung der Handelsströme.
Bei den russischen Exporten (vgl. Tab. 8) dominieren weiterhin die Bergbauprodukte und Produkte der ersten Verarbeitungsstufe, wobei Erdöl und Erdgas die wichtigsten Exportgüter sind. Ihr Anteil an den Gesamtexporten ist zwar leicht von 45 Prozent 1994 auf 43 Prozent 1998 gesunken, im Wesentlichen beruhte dieser Rückgang aber auf dem Verfall der Energiepreise 1998.
Russland gelang es nicht, sich verstärkt in die intraindustrielle Arbeitsteilung einzubringen. Die Importstruktur weicht stark von der Exportstruktur ab. Maschinen und Ausrüstungen, Nahrungsmittel und Chemische Produkte stellen die Hauptmasse der Importe, wobei sich auch diese Struktur nur langsam verändert. Nach 1998 hat die russische Industrie wieder an Konkurrenzfähigkeit auf dem eigenen Markt gewonnen, sodass die Import-anteile von Nahrungsmitteln und Maschinen sowie Ausrüstungen leicht abgenommen haben.
Trotz jahrzehntelanger Klage, dass Russland nicht länger das Rohstoffanhängsel Europas und des Westens bleiben dürfe, und trotz der Ankündigung entsprechender wirtschaftspolitischer Maßnahmen hat sich an der Außenhandelsstruktur bisher kaum etwas geändert. Die Leistungsfähigkeit der russischen Industrie hat sich nicht so stark erhöht, dass verarbeitete Produkte einen wesentlichen Teil des Außenhandels übernehmen könnten. Verstärkte Exporterfolge werden in diesem Bereich in letzter Zeit fast ausschließlich bei Rüstungsgütern gemeldet. Diese konnten den Rückgang des Anteils der Maschinen und Ausrüstungen jedoch nicht verhindern. Allerdings ist festzuhalten, dass auch die Erfolge des Brennstoffsektors fast ausschließlich auf Preiseffekte zurückzuführen sind und die Anteile der anderen Bereiche dadurch rechnerisch sinken.
Die positive Seite der wertmäßigen Steigerung der Brennstoff- und Metallexporte war, dass Russland einen enormen Handelsbilanzüberschuss von 60 Mrd. US-Dollar in 2000 und etwa 50 Mrd. in 2001 und 2002 erzielen konnte. Die Leistungsbilanzüberschüsse stiegen trotz der hohen Belastung durch die Bedienung der Auslandsschulden, und es konnten Währungsreserven von 52 Mrd. US-Dollar bis Ende Februar 2003 aufgebaut werden.
Auf der Importseite zeigten dagegen die Abwertungseffekte deutliche Wirkung. Die Importe sind von 1997 auf 1999 um etwa 45 Prozent gesunken. Insbesondere die Einfuhren von verarbeiteten und landwirtschaftlichen Produkten gingen stark zurück. Dies betraf vor allem Weißzucker, Fleischkonserven und Alkoholika.
Die Regierung muss den Umstrukturierungsprozess fördern
Die Branchen-, Regional- und auch die Außenhandelsstruktur zeigen die weiterhin hohe Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von den Energie- und Rohstoffvorkommen sowie der Schwerindustrie, ferner den noch vorhandenen gewaltigen Umstrukturierungsbedarf. Wie gezeigt wurde, hat sich bei der Branchen- und Außenhandelsstruktur bisher wenig verändert. Während aber die Branchenstruktur sich aufgrund des wachsenden Dienstleistungssektors und steigender Nachfrage nach Konsumgütern wohl bald zu Lasten der schwerindustriellen Bereiche weiter verändern wird, stellt die Exportstruktur weiterhin eine Achillesferse dar. Gerade die letzten Jahre haben den dominierenden Einfluss der Energiepreise sowohl auf die Handelsbilanz als auch auf das Staatsbudget vor Augen geführt.
Aufgabe der russischen Wirtschaftspolitik ist es daher, den angelaufenen strukturellen Wandlungsprozess zu forcieren und gleichzeitig abzusichern. Beim regionalen Umstrukturierungsprozess, der bereits im Gange ist, wird es vor allem darauf ankommen, dass in den Zuwanderungsgebieten die Infrastruktur rasch aufgebaut wird, damit die wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht beeinträchtigt werden. Die Kosten für Arbeitsplätze und die Infrastruktur sind in den zentralen Gebieten geringer als in den peripheren, nordöstlichen Räumen. Daher kann davon ausgegangen werden, dass diese Aufgabe hier kostengünstiger zu bewältigen ist, als wenn die Wanderung unterbunden und die peripheren Räume in der bisherigen Form präferiert würden. Industrielle Standorte in den peripheren Räumen sollten nur erhalten und ausgebaut werden, wenn sie sich auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen rechnen. Dabei wird der Staat allerdings auch darauf zu achten haben, dass in den peripheren Räumen die autochthone Bevölkerung, wenn sie dies will, sozial abgesichert weiterleben kann, da sie durch die sowjetische Regional- und Industrialisierungspolitik ihrer traditionellen Lebensweise weitgehend entfremdet wurde.
Angesichts der Kapitalknappheit und des reichlich vorhandenen, kostengünstigen Humankapitals muss die russische Regierung endlich die Bedingungen dafür schaffen, dass die Verarbeitende Industrie gestärkt und wettbewerbsfähig wird. Dabei darf keine exzessive Industriepolitik im Sinne der Förderung bestimmter Branchen betrieben werden, was schon aus finanziellen Gründen nicht durchzuhalten wäre. Dies gilt auch für die Förderung der Rüstungsindustrie.
Entscheidend für die Herausbildung einer optimalen Wirtschafts- und Außenhandelsstruktur ist, dass eine Wirtschaftspolitik betrieben wird, die das Wachstum insgesamt anregt und den Strukturwandel fördert sowie investives ausländisches Kapital ins Land bringt. Entsprechende Maßnahmen wären u.a.:
- Eine aktive Wettbewerbspolitik zu betreiben. Der Marktzugang und der Marktaustritt müssen liberalisiert und konsequent durchgesetzt werden. Die bisher ausufernden administrativen Hindernisse sind wesentlich zu verringern und die vielfach damit verbundene Korruption energisch zu bekämpfen. Monopolistische Strukturen sind aufzubrechen, offene und versteckte Erhaltungssubventionen auf ein Minimum zu begrenzen bzw. ganz zu beseitigen.
- Den Prozess der Verrechtlichung der Wirtschaft voranzutreiben. Dabei kommt der Durchsetzung sowie der Stabilisierung der Rechtsorgane eine zentrale Bedeutung zu. Die Marktwirtschaft ist eine Vertragswirtschaft mit klaren Eigentumsrechten. Werden diese nicht geschützt, kann sie keine optimale Koordination der Wirtschaftssubjekte gewährleisten.
- Die schnelle und konsequente Monetarisierung der Wirtschaft gewährleisten. Bartergeschäfte (Tauschgeschäfte) und Zwangskredite bis hin zur Nichtzahlung von Leistungen müssen völlig zurückgedrängt werden, wenn strukturelle Fehlentwicklungen vermieden werden sollen.
- Ein transparentes, einheitliches Steuersystem ohne individuelle Steuersätze zu etablieren. Die Steuersätze sind zu verringern und die gewinnunabhängige Besteuerung ist zu vermindern. Die seit Juli 2000 verabschiedeten Schritte der Steuerreform bringen eine wesentliche Verbesserung der Besteuerung und damit Anreize auch für ausländische Investoren; sie müssen daher weiterentwickelt werden, wofür offensichtlich auch der politische Wille vorhanden ist.
- Eine von fiskal- oder kreditpolitischen Zielen unabhängige Wechselkurspolitik durchzusetzen.
- Die föderalen Strukturen zu erhalten und zu stärken, wobei allerdings eine klare Aufgabenverteilung erreicht werden muss. Die Erhaltung eines einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraumes muss gesichert bleiben.
- Die wachstumsschädigende Korruption muss zurückgedrängt werden, um strukturelle Verbesserungen zu ereichen und das Wachstum zu beschleunigen
Mit einer solchen Politik würden die Voraussetzungen geschaffen, dass sich der Strukturwandel in der russischen Wirtschaft beschleunigt und sich ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöht. In der Folge würde dann auch die Grundlage geschaffen, dass die Rohstoff- und Schwerindustrielastigkeit des Außenhandels überwunden werden kann.
Die russische Führung hat dies offensichtlich erkannt. Bereits das Wirtschaftsprogramm für das Jahr 2000, das unter Leitung des neuen Ministers für wirtschaftliche Entwicklung und Handel, German Gref, ausgearbeitet wurde, zeigt in diese Richtung.
Neben den rein wirtschaftlichen Maßnahmen kommt den politischen Verhältnissen eine zentrale Rolle für den Umstrukturierungsprozess zu. Mit der Kampagne gegen den Einfluss der Oligarchen sowie der Zusage, keine Wiederverstaatlichung anzustreben, wurde bereits zu Beginn der Ära Putin das Vertrauen in die Entwicklung stabilerer politischer Verhältnisse gestärkt
Negative Folgen, die möglicherweise abgefedert werden müssen, sind in der industriellen Rückentwicklung peripherer, besonders nordöstlicher Gebiete und in den enormen Umstrukturierungsproblemen der bisherigen schwerindustriellen Zentren mit den zu erwartenden Arbeitslosenproblemen zu sehen. Diese müssen aber als Chance betrachtet und sollten auf keinen Fall behindert werden. Nur dann kann Russland auf einen stetigen, steilen Wachstumspfad einschwenken, mit dem auch die mit der Umstrukturierung einhergehenden sozialen Probleme leichter bewältigt werden können.