Einleitung
Die steigende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie in der wissenschaftlichen Fachdiskussion für prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse - zuletzt etwa anlässlich des Entwurfs des 3. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung im Mai 2008 - hat den Blick auch auf die Mitte der Gesellschaft geschärft und verändert. Den Hintergrund dafür bilden, um nur einige Stichworte zu nennen, Prozesse wie eine über lange Zeit steigende Arbeitslosigkeit, die Deregulierung von Erwerbsarbeit, beispielsweise im Hinblick auf Arbeitsplatzsicherheit und Arbeitszeiten, oder die Krise des Sozialstaats. Immer mehr Menschen geraten in Lebensverhältnisse, die prekär oder mit einem sozialen Abstieg verbunden sind, womit es zugleich zu einer Erosion der Vorstellungen von Normalität und Sicherheit in mittleren sozialen Lagen kommt.
Nicht nur diejenigen, die bereits selbst Abstiegserfahrungen erleiden mussten oder ohne aussichtsreiche Zukunftsperspektiven von Armut betroffen sind, können als Problemgruppe identifiziert werden, sondern auch diejenigen, die zwar nicht luxuriös leben, aber immerhin noch etwas zu verlieren haben. Durch Prozesse wie den der so genannten "Subjektivierung von Arbeit" geraten die Erwerbstätigen zunehmend unter Druck, sich unter schwierigen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt bestmöglich vermarkten zu müssen. Die gewachsene Verantwortung geht jedoch nicht mit einer entscheidenden Rückgewinnung von Sicherheit einher, mit der "richtigen" Strategie den eigenen Status aufrechterhalten zu können. Nachdem Menschen in mittleren sozialen Lagen in den vergangenen Jahrzehnten von der wirtschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung profitiert haben, machen sie sich nun zunehmend Sorgen etwa darüber, ob sie ihren Lebensstandard werden halten können, ob sie arbeitslos werden und dann auch ihre Altersversorgung in Gefahr gerät oder ob sie ihren Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen können. Solche Ängste vor dem Statusverlust sind keinesfalls ohne reale Folgen, im Gegenteil: Subjektive Perspektiven stehen in komplexen Wechselwirkungen unter anderem mit tatsächlichen Mobilitätsprozessen.
Der Beitrag untersucht zunächst, was die "Mitte" der Gesellschaft kennzeichnet, bevor der Fokus ausdrücklich auf unterschiedliche Abstiegsprozesse sowie den Zusammenhang mit subjektiven Verunsicherungen und Abstiegsängsten gerichtet wird. Ein Ausblick beschäftigt sich mit Folgerungen, welche die Ungleichheitstheorie aus diesen Phänomenen ziehen könnte.
Die Mitte der Gesellschaft
Die gesellschaftliche Mitte hat sich im Sinne etwa des Berufsstatus' und Einkommens in den vergangenen Jahrzehnten ausgeweitet. Dies ging mit der Bedeutungszunahme des Dienstleistungssektors einher, der viele Arbeitsplätze in der "Mitte" geschaffen hat. In einer Studie des Ifo-Instituts mit Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) von 1984 bis 2004 wird dieser Trend bestätigt: Während diejenigen mit mindestens mittlerer beruflicher Qualifikation und einer Berufsstellung als Angestellte, Beamte oder kleinere Freiberufler und Selbständige mit nicht-manueller Tätigkeit 1984 34 Prozent der Erwerbstätigen ausmachten, waren es 2004 rund 45 Prozent. Allerdings ist ab 2002 ein leichter Rückgang des Anteils zu verzeichnen, während sich gleichzeitig der Anteil derer, die zwar eine der Mitte entsprechende Qualifikation, aber keine entsprechende berufliche Stellung oder Tätigkeit innehaben, leicht erhöht hat. Die Arbeitslosenquote in dieser so definierten Mitte liegt trotz einer geringfügigen Erhöhung in den 1990er Jahren nach wie vor nur bei rund drei Prozent. In Ostdeutschland fällt sie etwas höher aus als in Westdeutschland, ist aber gegen den regionalen Gesamttrend sogar leicht gesunken. Dies bedeutet nicht, dass Menschen in mittleren sozialen Lagen kaum arbeitslos werden, sondern dass insbesondere die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit unter dem Durchschnitt liegt. Arbeitslose aus der Mittelgruppe finden also eher wieder eine Anstellung. Dagegen liegt die Arbeitslosenquote derjenigen mit mindestens mittlerer Qualifikation, aber ohne entsprechende berufliche Stellung deutlich über dem Durchschnitt, in Westdeutschland zeitweise sogar über der Quote der Geringqualifizierten. Schließlich erzielt die gesellschaftliche Mitte insgesamt nach wie vor überdurchschnittliche Einkommen, doch gibt es Hinweise, denen zufolge der Abstand zum Durchschnitt in jüngerer Zeit abnimmt.
Die Befunde enthalten insgesamt deutliche Warnzeichen - die Autoren des Ifo-Instituts sprechen von Anzeichen für Erosionen am Rande der Mitte -; allerdings sind sie nicht als drastischer Wandel im Sinne eines dramatischen Abbaus der Mitte insgesamt zu interpretieren. Dies bestätigen auch Zahlen, die von einer gesellschaftlichen Mitte als einer Einkommensmitte sprechen.
Im dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird die "Mittelschicht" durch Haushalte definiert, die zwischen 75 Prozent und 150 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. Zwischen 2002 und 2005 nahm deren Anteil von 53 Prozent auf 50 Prozent der Haushalte ab, was teilweise konjunkturell bedingt war. Mit der Verkleinerung der Einkommensmittelschichten geht zudem eine Abnahme des Anteils an Vollzeitbeschäftigten sowie an klassischen Familienhaushalten (Paare mit Kindern) in dieser Einkommenslage einher. Zugleich hat sich die Einkommensungleichheit in diesem Zeitraum etwas erhöht (gemessen am so genannten Gini-Koeffizienten), das heißt, die Anteile der Haushalte sowohl am oberen als auch am unteren Ende der Verteilung sind gestiegen. Dementsprechend nahm auch die Einkommensarmut leicht zu, je nach Datengrundlage in unterschiedlich ausgeprägter Form. Auf der Basis einer europäischen Gesamtstatistik (EU-SILC) hat sich das Armutsrisiko (Haushalte, die weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben) erhöht, und zwar von 2004 auf 2005 um einen Prozentpunkt auf 13 Prozent. Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden ist dabei überdurchschnittlich hoch (24 Prozent), was darauf hinweist, dass nicht nur etwa geringe Qualifikation oder länger andauernde Arbeitslosigkeit vorrangig zu Armut führen, sondern auch Risiken, die Angehörige mittlerer Statusgruppen in bestimmten Lebenssituationen ebenso betreffen können wie Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen.
Hinsichtlich ökonomischer Zukunftsperspektiven vertreten beispielsweise die Autoren der Studie "Deutschland 2020" von McKinsey&Company die Auffassung, dass ein Wirtschaftswachstum von mindestens drei Prozent möglich, aber auch erforderlich sei, um die Mittelschichten, das heißt die Lebens- und Sozialstandards breiter Bevölkerungsteile, nicht zu gefährden.
Die Zahlen bieten also einerseits die Basis für die Feststellung einer noch vergleichsweise hohen Stabilität in der "Mitte" der Gesellschaft, jedenfalls auf der Abstraktionsebene der Gesamtbevölkerung. Andererseits sind Krisensymptome erkennbar, die bei der Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen durchaus ernst zu nehmen sind. Ein Deutungsspielraum bleibt also, daher sollen im Folgenden Abstiegsprozesse genauer betrachtet werden.
Absteiger und Abstiegsprozesse
Das Ausmaß sozialer Mobilität sagt etwas über die Offenheit einer Gesellschaft aus. Soziale Mobilität bedeutet dabei natürlich nicht allein den horizontalen Wechsel auf der gleichen Statusebene oder sozialen Aufstieg, sondern schließt auch die Möglichkeit des sozialen Abstiegs ein, entweder im Vergleich zur Elterngeneration oder im eigenen Lebenslauf. In Westdeutschland hat die Mobilität über die letzten 50 Jahre hinweg betrachtet leicht zugenommen, insbesondere die Aufstiegschancen sind langfristig gesehen größer geworden. Für Ostdeutschland ging die Vereinigung mit einer drastischen Mobilitätszunahme zu Beginn der 1990er Jahre einher, häufig im Sinne eines sozialen Abstiegs, später waren Annäherungen an westdeutsche Mobilitätsmuster zu beobachten. Betrachtet man die Einkommensmobilität in Deutschland in jüngerer Zeit, so ist diese seit dem Jahr 2000 leicht angestiegen. Bei einer Aufteilung der Bevölkerung in so genannte Einkommensquintile, also vom ärmsten bis zum wohlhabendsten Fünftel, zeigt sich für das mittlere Quintil: Von denjenigen, die 2001 dort zuzuordnen waren, sind rund 43 Prozent auch im Jahr 2004 hier wiederzufinden. Dies bedeutet eine Stabilitätszunahme gegenüber dem Zeitraum 1997 bis 2000 (38 Prozent), wobei diese eher auf geringere Aufstiege in höhere Einkommensschichten zurückgeht als auf eine deutliche Reduzierung der Abstiege. Immerhin: In dieser Perspektive von Mobilität ist nicht von sprunghaft ansteigender Abwärtsmobilität auszugehen (im Vergleich 2001 bis 2004 waren es 31,5 Prozent gegenüber 32,9 im Zeitraum von 1997 bis 2000, die abgestiegen sind). Weitet man die Einkommensmitte aus auf diejenigen Haushalte mit 70 bis 150 Prozent des Durchschnittseinkommens, ergeben sich ähnliche Tendenzen.
Ergebnisse anderer Studien stützen diese Befunde. Jürgen Schiener etwa konstatiert, dass Mobilitätsprozesse Ende der 1990er Jahre ebenso stark vom Ausgangsstatus abhängen wie zehn Jahre zuvor. Die Resultate von Petra Böhnke bekräftigen, dass Dauerarbeitslosigkeit und Armut nach wie vor in der Hauptsache in unteren Statuspositionen konzentriert sind. Die Gefahr, abzusteigen und dann auch dort zu verweilen, ist also nicht unabhängig davon, in welcher Schicht jemand sich zuvor befand, viel größer geworden. In der gesellschaftlichen Status-Mitte zu leben, bietet mit anderen Worten nach wie vor einen gewissen Schutz vor dauerhaftem Abstieg. Bevor ich im Folgenden argumentiere, dass diese Befunde nun keinen Anlass zur weitgehenden Entwarnung bieten, was die Situation in der Mitte der Gesellschaft betrifft, möchte ich in Bezug auf soziale Abstiege einen weiteren Aspekt betonen: Abstiege unterscheiden sich deutlich in ihren Konsequenzen für die dauerhafte Lebenssituation. Quantitative Mobilitätsraten können leicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass es etwa auch vom Start- und Zielpunkt oder von der Verbleibsdauer in unteren Statusgruppen abhängt, welche Bedeutung soziale Abstiege für die Lebenslage der Einzelnen haben. Vier heterogene Beispiele aus der Forschung zeigen erste Schlaglichter zu Abstiegsprozessen mit ihren Bedingungsfaktoren sowie objektiv und subjektiv erlebten Folgen auf, noch ohne diese systematisch in einem Modell zusammenzuführen. Damit soll nicht der Anspruch erhoben werden, ein theoretisches Modell vorzustellen, welches Abstiegsprozesse mit ihren Bedingungsfaktoren und objektiven sowie subjektiv erlebten Folgen in einen systematischen Zusammenhang stellen könnte.
Beispiel 1: Martin Schmeiser untersucht Abstiegsprozesse schweizerischer Akademikerkinder, die einen geringeren Status als ihre Eltern oder ihr Vater innehaben. In der qualitativen Studie stehen nun gerade nicht Menschen im Mittelpunkt, die einkommensarm, sondern teilweise sogar am oberen Rand der Mittelschicht angesiedelt sind. Ein Befragter ist beispielsweise der Sohn eines Arztes, der zunächst eine Handelsschule als kaufmännischer Angestellter verlässt, nach vielen Tätigkeitswechseln später das Abitur nachholt, ein Medizinstudium abbricht und sich schließlich erst auf einer Fachhochschule, dann auf einer privaten Schule zum Betriebsökonomen weiterbildet. Mit 40 Jahren ist er im mittleren Kader eines großen Unternehmens tätig. Dieser berufliche Verlauf entspricht nicht der Assozia- tion, die man im Alltag in der Regel mit sozialem Abstieg verknüpft, sie scheint wenig problematisch zu sein im Hinblick darauf, den Lebensunterhalt zu bestreiten und in gesellschaftliche Zusammenhänge integriert zu sein. Dennoch handelt es sich hier um einen intergenerationellen Abstieg, und Schmeiser betont zudem, dass die Erwartung an einen sozialen Statuserhalt im akademischen Herkunftsmilieu insgesamt sehr groß ist und für die Kindergenerationen einen entsprechend großen Druck erzeugt. Dieser Druck des Statuserhalts lässt sich heute vergleichbar und verstärkt in der Mittelschicht insgesamt wieder finden.
Beispiel 2: Matthias Pollmann-Schult befasst sich mit einer speziellen Gruppe von Erwerbstätigen, und zwar jenen, die aus eigener Initiative den Arbeitsplatz wechseln. In der Folge hat schichtübergreifend ein nennenswerter Anteil dieser Menschen (knapp ein Fünftel sowohl bei Männern als auch bei Frauen) einen Arbeitsplatz inne, der schlechter bezahlt wird als der vorige. Allerdings geht mit diesem sozialen Abstieg in Bezug auf die berufliche Position und das Einkommen sowie auf die vergleichsweise schlechten Aufstiegschancen oft eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einher. Dies betrifft beispielsweise Arbeitsbelastungen, die geringer, oder Arbeitszeiten, die günstiger werden. Bei einem Wechsel auf einen statusähnlichen Arbeitsplatz müssen dagegen häufiger verschlechterte Arbeitsbedingungen und -zeiten in Kauf genommen werden, was den Erfolg des Statuserhalts etwas relativiert. Entsprechend nimmt Pollmann-Schult seine Studie als Anlass für ein Plädoyer, nicht allein monetäre Aspekte von Erwerbsverläufen und insbesondere von sozialen Abstiegen zu betrachten. Dies gilt allgemein für Mobilitätsprozesse, aber insbesondere auch für die mittleren Lagen, in denen der Statuserhalt zumindest subjektiv oft als gefährdet beurteilt wird. Dass sich bei diesen Beispielen teilweise auch vergleichsweise weniger problematische Elemente des sozialen Abstiegs zeigen, soll diese Prozesse keineswegs verharmlosen. Denn auch für überwiegend negativ konnotierte Abstiegserfahrungen finden sich eindeutige Belege in der empirischen Forschung, von denen im Folgenden zwei illustrativ herausgegriffen werden. Beispiel 3 symbolisiert gewissermaßen die Angstvorstellung der Angehörigen der gesellschaftlichen Mitte vor der Abstiegsmobilität, wenngleich es sich hier um Abstiege aus bereits benachteiligten Ausgangspositionen handelt. Beispiel 4 schildert einen Abstieg aus der Mitte heraus.
Beispiel 3: In der viel beachteten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu politischen Milieus findet sich mit dem "Abgehängten Prekariat" (Anteil acht Prozent) ein Milieu, in dem viele Menschen - vor allem Männer, eher aus Ost- als aus Westdeutschland - bereits Abstiegserfahrungen machen mussten. Ihre schlechte Lebenssituation (unter anderem niedriges Einkommen, oft Schulden und geringer familiärer Rückhalt sowie häufig Arbeitslosigkeit) beruht also nicht allein auf der aktuellen Lage, sondern auch auf dem Abstiegsverlauf, wobei sie meist schon hinsichtlich ihrer Ausgangsposition (überwiegend einfache bis mittlere Schulbildung) im unteren Statusbereichen lagen. Zudem gehen mit diesem Verlauf pessimistische Zukunftsaussichten einher. Dass diese Abstiege nicht einfach Pech oder individuellem Versagen zugerechnet werden können - und dies in der subjektiven Einschätzung auch nicht geschieht -, zeigt sich beispielsweise daran, dass sich ein Anteil von 39 Prozent im so genannten abgehängten Prekariat als Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung empfindet. Im Durchschnitt aller Milieus sind es dagegen lediglich 14 Prozent.
Beispiel 4: Franz Schultheis und Kristina Schulz präsentieren Lebensläufe und aktuelle Lebenssituationen von Betroffenen in einer "brüchigen Arbeitswelt". Sie legen damit die deutsche Replikation einer Studie vor, die Pierre Bourdieu und seine Mitarbeiter Anfang der 1990er Jahre in Frankreich publiziert hatten, in der diese die Misere - so ein Begriff im Buchtitel - verschiedener prototypischer Fälle ausführlich darstellten, etwa von Jugendlichen in Pariser Vororten mit wenig aussichtsreicher beruflicher Zukunft. Solche Miseren, Brüche und Abstiegsverläufe lassen sich, wie Schultheis und Schulz zeigen, auch in Deutschland finden und unterstreichen die prekäre Lebenssituation vieler gesellschaftlicher Gruppen, etwa Leiharbeitnehmer- und -nehmerinnen oder Verlierer der deutschen Vereinigung. Zu den ausgewählten Fällen gehören auch solche, die in der gesellschaftlichen Mitte angesiedelt sind oder waren. Beispielsweise beschreiben die Autoren die "Sackgassenkarriere" einer 36-jährigen promovierten Literaturwissenschaftlerin, die nach einer mehrjährigen Auslandstätigkeit als Lektorin seit ihrer Rückkehr nach Deutschland vor eineinhalb Jahren noch nicht wieder beruflich Fuß fassen konnte. Trotz intensiver Bemühungen hat sie zwar einige freiberufliche Aufträge auf Honorarbasis bekommen, jedoch ist eine Festanstellung nicht in Sicht. Die hohen Investitionen in ihre eigene Bildung bzw. Ausbildung scheinen vergeblich gewesen zu sein, was nicht nur ökonomische Probleme schafft, sondern die Überzeugung der Frau, dass sich Bildungsinvestitionen lohnen werden (und so auch rechtfertigten, dass sie latente Kinderwünsche zurückgestellt hat) grundlegend erschüttert. Ob sich ihre Karriere langfristig als Sackgasse erweist, steht zum jetzigen Zeitpunkt zwar noch nicht endgültig fest, aber die immerhin schon eineinhalbjährige Arbeitssuche demonstriert die prekäre Lebenslage dieser Akademikerin.
In den Beispielen deutet sich ein wichtiger Aspekt bereits an: Bei Abstiegserfahrungen sind nicht allein materielle bzw. objektive Komponenten der Lebenslage ausschlaggebend, vielmehr kommt als wesentlicher Bestandteil die subjektive Sicht auf die eigene Situation hinzu. Diese Perspektive stellt potenziell auch dann ein sozial ernstzunehmendes Problem dar, wenn sich die Befürchtung eines möglichen Abstiegs (zunächst) nicht erfüllt.
Verunsicherung in der Gesellschaftsmitte
Da die Perspektive auf die subjektiv verunsicherte Mitte der Gesellschaft und die damit einhergehenden Folgen in der deutschsprachigen Diskussion erst in den vergangenen Jahren systematischer aufgenommen wurde, gibt es bislang kaum groß angelegte empirische Studien zu diesem Phänomen. Schlaglichtartig können allerdings wichtige Befunde hierzu herausgestellt werden: Petra Böhnke etwa belegt auf der Basis des Wohlfahrtssurveys, dass von einer Verunsicherung der Mittelschichten über ihre künftigen Lebensumstände ausgegangen werden kann. Zwar ist beispielsweise nach wie vor in den unteren Einkommensgruppen die Angst vor Arbeitslosigkeit am größten, doch hat diese Angst im Laufe der vergangenen Jahre bei den Mittelschichten am deutlichsten zugenommen. Ähnlich nahm im Laufe der 1990er Jahre die Konfliktwahrnehmung (z.B. zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen) zu, und die Absicherung durch staatliche Versorgungssysteme wird mit zunehmender Sorge beurteilt. Böhnke zieht daher als Fazit: "Auch die gesellschaftliche Mitte (...) ist nicht mehr frei von Destabilisierungstendenzen." Auch ohne Betroffenheit von sozialer Ausgrenzung bzw. Exklusion geht damit eine potenzielle Einschränkung von Lebensqualität einher: So kann etwa der Verlust an Sicherheit die Karriere- und Familienplanung belasten. Weitere Folgen auf das Handeln sind bedenkens- und erforschenswert, beispielsweise, ob sich diese Verunsicherung auf das Ausmaß und die Art (beispielsweise Radikalität) politischer Teilhabe auswirkt.
Solche Verunsicherungen finden in weiteren empirischen Untersuchungen Bestätigung. In der erwähnten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu politischen Milieus ist es bezeichnenderweise neben dem Prekariat insbesondere ein Milieu aus dem mittleren Statusdrittel, die "bedrohte Arbeitnehmermitte" (Anteil 16 Prozent), in dem eine starke Verunsicherung hinsichtlich des eigenen Lebens und der Zukunft der Kinder herrscht. Überdies hat nach repräsentativen Umfrageergebnissen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) der Anteil derjenigen in der Mittelschicht deutlich zugenommen, die sich "große Sorgen" um ihre eigene wirtschaftliche Situation machen: allein seit dem Jahr 2000 um 11 Prozentpunkte auf einen "historischen Höchststand" von mehr als 26 Prozent im Jahr 2005. Auch die konjunkturelle Erholung ließ das Ausmaß an "großen Sorgen" 2006 und 2007 nur leicht zurückgehen.
Michael Vester fügt einen weiteren Aspekt der subjektiven Perspektive hinzu, indem er milieuspezifische Überlegungen anstellt. Dazu entwirft Vester ein Gesellschaftsmodell von Milieus, die vertikal übereinander (auf einer Herrschaftsachse), aber auch horizontal nebeneinander (auf einer Achse von avantgardistischen bis autoritären Grundhaltungen) angesiedelt sind. Unterschiedliche Milieus reagieren danach unterschiedlich auf unsichere Lebenssituationen bzw. Zukunftsperspektiven. Das zeigt nochmals deutlich, dass subjektive Perspektiven durchaus in bedeutender Weise sozial mitbedingt sind. Im Einzelnen hebt Vester hervor, dass sich Milieus der respektablen Arbeitnehmermitte durch ein besonderes Pflicht- und Arbeitsethos auszeichnen. "Gerade dadurch sind sie meist weit weniger flexibel und nun gerade gefährdet (...) dieses Kapital der Ehre war in den Jahren des Wirtschaftswachstums ihr Erfolgsrezept. Heute ist es oft ein Problem."
Im oben skizzieren Beispiel der promovierten Literaturwissenschaftlerin mit Gelegenheitsjobs spiegelt sich dieses Prinzip deutlich: Das habituell verankerte Vertrauen auf den Nutzen ihres Bildungskapitals, das durch die soziale Herkunft aus einem Lehrerhaushalt unterstützt wurde, ist verknüpft mit Schwierigkeiten, etwa durch eine radikale Umorientierung auf ihre berufliche Situation zu reagieren. Sie hofft weiterhin auf den Erfolg ihrer Bewerbungen und damit einen längerfristigen Gewinn an Sicherheit, überlegt parallel, vielleicht - aber dies eher aus persönlichen Gründen, einem Freund in Frankreich - ins Ausland zurückzukehren und sich dort weiter zu bewerben. Unterprivilegierte Milieus dagegen sind - so Vester - teilweise durch seit Generationen eingeübte Strategien der flexiblen Gelegenheitsorientierung auf Unsicherheiten im Vergleich immerhin etwas besser vorbereitet. Die milieuspezifischen Handlungsstrategien, die sich aus subjektiven Perspektiven ergeben, haben somit neben anderen Einflussfaktoren eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung für den weiteren Berufsverlauf. Damit ist nicht impliziert, einer "falschen" Strategie der Akteure die Verantwortung dafür zuzuschreiben, dass sie ihren Status möglicherweise nicht aufrechterhalten bzw. verbessern konnten, gemeint ist vielmehr die Bedeutung der subjektiven Perspektiven als Analysekategorie, um ein komplexes Bild der Wechselwirkungen von Mobilitätsprozessen und Verunsicherung gewinnen zu können.
Ausblick
Prekarisierung und Verunsicherung in der Mitte der Gesellschaft stimmen nicht nur die Akteure auf dem Arbeitsmarkt oder in der Politik nachdenklich. Auch die mit der Ungleichheitstheorie befassten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die unter anderem Modelle über zentrale Ungleichheitsmerkmale in modernen Gesellschaften entwickeln, stehen vor der Aufgabe, diese Prozesse in ihre Ansätze zu integrieren. Dabei erwies es sich seit Beginn der Ungleichheitsforschung als schwierig, mehrere relevante Ungleichheitsdimensionen in ein Verhältnis zueinander zu setzen: Welche sind zum Beispiel zentral, welche eher abgeleitet oder sekundär? Ohne eine solche Verhältnisbestimmung droht die Gefahr, vielfältige Ungleichheitsphänomene lediglich deskriptiv zu beschreiben. Eine theoretische Integration dagegen fällt der Ungleichheitstheorie jedoch nach wie vor schwer, was sich zum Beispiel am Ungleichheitsmerkmal Geschlecht zeigt. Schichtmodelle etwa setzen nach wie vor eher auf den Beruf oder die Bildung als aussagekräftigste Merkmale. Milieumodelle könnten ein aussichtsreiches Potenzial bieten, im Kontext grundsätzlicher Werthaltungen und Handlungsorientierungen auch Verunsicherung und damit zusammenhängende Prozesse im Zeitverlauf zu berücksichtigen, ohne dabei Konflikt- und Machtverhältnisse auf einer vertikalen Ebene zu vernachlässigen. Bislang ist eine solche Integration allerdings noch nicht systematisch erfolgt. Ein tieferes Verständnis von Abstiegsprozessen und damit verbundenen Perspektiven stellt jedoch eine wichtige Voraussetzung dafür dar, die Bedeutung der Phänomene, die derzeit in der Mitte der Gesellschaft zu beobachten sind, angemessen einschätzen sowie politische Schlussfolgerungen daraus ziehen zu können.