Einleitung
Der Begriff "Alkoholismus" hat in seiner kurzen Geschichte ganz unterschiedliche Bedeutungen gehabt und ist bis heute ein schillernder Begriff geblieben.
Diese Geschichte beginnt 1849 mit dem schwedischen Mediziner Magnus Huss: Als "alcoholismus chronicus" hatte er analog zur Bleivergiftung organische (Nerven-)Schädigungen durch starken Alkoholmissbrauch beschrieben. Ganz anders benutzte 1878 der Berliner Gefängnisarzt Abraham Baer das Wort: Für ihn war "Alcoholismus" die Summe der Alkoholfolgeschäden. Fortan galt "Alkoholismus" - nach der Brockhaus-Enzyklopädie 1894 - als "Inbegriff" der "körperlichen, geistigen und sittlichen Schäden und Nachteile" des Missbrauchs geistiger Getränke, dessen "unheilvolle Wirkungen" sich nicht nur auf das "einzelne Individuum", sondern auf die "ganze Gesellschaft" erstrecken.
Alkoholismus als Inbegriff der Folgeschäden
Eine breite soziale Bewegung - die Temperenz- bzw. Antialkoholbewegung - hatte eine globale Thematisierung der "Alkoholfrage" in Gang gesetzt.
In Kontinentaleuropa blieben die "Abstinenten" isoliert, doch in Skandinavien und den USA - in denen bereits etliche Bundesstaaten "trocken" waren - gaben sie den Ton an; ebenso in der entstehenden Alkoholforschung. In der Zwischenkriegszeit führten dann einige Staaten eine landesweite Prohibition (USA, Finnland etc.), andere prohibitionsartige Kontrollpolitiken (Schweden, Norwegen etc.) ein. Alkoholische Getränke waren damit zwar nicht abgeschafft, aber stark verteuert worden; der Pro-Kopf-Verbrauch sank. Dazu trug ebenso der verwissenschaftlichte Diskurs über den Alkoholismus bei, der den Konsum moralisch delegitimierte. Auch in Ländern mit einem liberalen Alkoholregime fiel er auf historische Tiefststände.
Das gravierendste Argument war die "Rassenverderbnis" bzw. der "racial suicide", den dieses "Keimgift" bewirke. Allerdings galt Alkoholkonsum nicht nur als Ursache von "Erbminderwertigkeit", sondern auch als ihre Erscheinungsform. Für diese Fälle war Prohibition wenig sinnvoll; es wurden Erbgesundheitsgesetze erlassen, die sich (unter anderem) gegen "Alkoholiker" richteten: zunächst in den USA, gefolgt von der Schweiz, Dänemark, dem "Dritten Reich", den nordischen und baltischen Ländern. Die "Ausmerze" des "minderwertigen Erbguts" sollte durch Heiratsverbot, Zwangseinweisung und Zwangssterilisierung erfolgen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Kampf gegen den Alkoholismus sowohl durch die Rassenhygiene als auch durch das Fiasko der Prohibition in den USA 1933 gründlich diskreditiert. Auch in Deutschland standen die wenigen verbliebenen Aktivisten
Alkoholismus als Geisteskrankheit
In der 1966er Auflage des Brockhaus taucht das Stichwort "Alkoholismus" zwar wieder auf, aber nur als Hinweis auf sozial bedingten Missbrauch. 1975 indes, wird im Ergänzungsband eine entscheidende Revision vollzogen: "Heute gilt der Alkoholismus als Krankheit und wird als solche von den Krankenkassen (...) anerkannt."
Die Domestizierung und schließliche Pathologisierung des Trinkens ist ein Schlüsselphänomen der Moderne.
Die Idee eines inneren Trinkzwangs taucht erstmals im 17. Jahrhundert - einer Zeit rückläufigen Konsums - auf, wird jedoch verworfen: Diese Menschen hätten dann wohl einen Igel im Magen, "welcher zu stechen pflegte, wenn er nicht schwimmen könte", mokierte sich 1745 Zedlers Universal-Lexicon über diesen "Einfall" einiger "Sitten-Lehrer".
Die Fachwelt reagierte eher ablehnend, wurden doch die allermeisten, obschon an Alkoholika gewöhnt, keineswegs von jener Seelenkrankheit befallen. Diesen Erklärungsnotstand kannte das organische Modell von Huss nicht. Erst um 1900 setzte sich das Sucht-Paradigma durch, wobei freilich Symptomatologie, Nosologie und Ätiologie höchst umstritten blieben.
In den 1940/50er Jahren gelang jedoch eine Vereinheitlichung des Sucht-Paradigmas. Sie erwuchs aus der Aufhebung der Prohibition in den USA. Der Drogenansatz passte schlecht zur Legalisierung von Alkoholika. Dem trugen die 1935 gegründeten "Alcoholics Anonymous" (AA) Rechnung: Anders als die traditionellen Rettungs- bzw. Temperenzvereine machten sie nicht den Alkohol ursächlich verantwortlich, sondern eine "Allergie", die nur bei einigen Menschen auftrete. Daran anknüpfend wird dieser Körperansatz durch eine Arbeitsgruppe um den Biostatistiker
Kritik des Suchtkonzepts
Jellineks Konzept wurde durch die Weltgesundheitsorganisation, für die er zeitweise tätig war, kanonisiert und verbreitet: 1952 fand der "Alkoholismus" als eine Form der "Süchtigkeit" Eingang in die Internationale Klassifikation der Krankheiten.
Nimmt man allerdings heute die ICD zur Hand, so gibt es keine Sucht mehr: Sie wurden durch die "Alkoholabhängigkeit" ersetzt, in der derzeitigen Fassung durch ein "Abhängigkeitssyndrom".
Hieran schließt sich der schwerwiegendste Einwand an: Der Alkoholismus sei ein bloßer "Mythos", dazu angetan, zahllose Menschen, die ihr Leben im Griff haben, zu medikalisieren und stigmatisieren. Die Dekonstruktion der Sucht entstammte der Wissenssoziologie einerseits (Michel Foucault, Peter L. Berger und Thomas Luckmann etc.) und der Medizinkritik anderseits (Irving Zola, Thomas Szasz etc.). Dabei gilt das Sucht-Paradigma häufig als Prototyp einer von Experten "erfundenen Krankheit" für die dann jene Experten ihre Zuständigkeit reklamieren können - getreu dem so genannten Thomas-Theorem: "If men define situations as real they are real in their consequences."
Kritik der Kritik
Erkenntnistheoretisch ist der konstruktivistische Ansatz nicht bestreitbar. Der naheliegende Einwand, Sucht lasse sich somatisch, z.B. neurophysiologisch, abbilden, geht an der Unabdingbarkeit einer historisch variablen Deutung solcher Befunde
Dies legt eine Rückkehr zum Alkoholismusbegriff eines Magnus Huss nahe. Vielen Betroffenen verhieße sie ein Ende der "Entmündigung" und Stigmatisierung, ist doch das Krankheitsetikett das ultimative Mittel der Herabwürdigung und Ausgrenzung in einer "rationalen" Leistungsgesellschaft. Anderen wäre damit freilich nicht gedient, und zwar jenen, die einen hohen "Leidensdruck" bekunden. Die "Krankenrolle" ist nun einmal ambivalent: Sie entlastet auch von Schuldzuweisungen
Dies legt ein Festhalten am Sucht-Paradigma nahe. Die Rede von der "Erfindung" hat oft den Unterton einer Verschwörung, doch die Sucht ist tief in unserem Menschenbild verankert. Zudem wird damit kein Geheimnis verraten: Niemand anders als Jellinek betonte, eine Krankheit sei, was die Medizin als solche anerkenne. Neutraler ließe sich mit Michel Foucault und Paul K. Feyerabend von einem professionellen "Blick" sprechen, der "natürliche Interpretationen" exzessiven Trinkens aufgenommen, systematisiert, popularisiert und schließlich auf andere Bereiche übertragen hatte. Die Rede von der "Erfindung" wird auch der "Doppelnatur" der Sucht nicht gerecht: wie jedes andere Verhalten hat sie ihr Korrelat im Somatischen; die Physiologie zu ignorieren, gleicht der Behauptung, das Licht sei "in Wirklichkeit" eine Welle.
Inflation
Freilich ist die wissens- und interessensoziologische Analyse damit nicht hinfällig. Die Suchtforschung hat viel Unheil angerichtet. Dazu zählt nicht allein Historisches, wie Ausmerze und Prohibition, sondern auch Gegenwärtiges. Etikettierungprozesse können gemäß dem Thomas-Theorem als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirken. Ein vage gehaltener Abhängigkeitsbegriff ist eine Lizenz zur Produktion von Therapiebedürftigkeit. Wovon wäre ein Mensch nicht abhängig? Aus diesen Gründen sollte definitorische Zurückhaltung walten, sollte das Krankheitsbild trennscharf als "Sucht" bestimmt sein und nicht ausufernd als "Abhängigkeitssyndrom".
Doch die Tendenz geht in die umgekehrte Richtung.
Rückkehr zur Kontrollpolitik
Die Alkoholforschung, eng verbunden mit politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, spiegelt diese jeweiligen Standards und beeinflusst sie zugleich. In der Nachkriegszeit war eine interdisziplinäre, theoretisch anspruchsvolle Forschung entstanden, die auch nach den funktionalen Aspekten des Alkoholkonsums fragte. Inzwischen ist sie auf eine medizinisch-epidemiologische "Alkoholfolgeschädenforschung" reduziert.
Dieser entstammt den protestantischen "Temperenzkulturen" (Harry G. Levine),
Die Alkoholwirtschaft reagierte mit intensivierter Forschungs-, Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit. Dabei kam ihr der Zufall zu Hilfe: 1991 machte in den USA eine TV-Sendung über das geringe Infarktrisiko der weinliebenden Franzosen Furore. Das war eigentlich keine neue Erkenntnis, doch seither tobt ein epidemiologischer Datenkrieg, der an die Kontroversen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erinnert. Weithin unstrittig ist nun zwar, dass moderater Konsum die physische und wohl auch die psychische Gesundheit verbessert - aber beide Seiten definieren "moderat" höchst unterschiedlich; nicht zu reden von der grundsätzlichen Frage, wie weit "Gesundheit" hier als moralischer Kampfbegriff fungiert.
Wer sich auf dieses Forschungsfeld begibt, wird umgehend einem "Lager" zugeordnet. Nicht nur das Freund-Feind-Denken beim Streit um Grenzwerte oder die Zahl der "Alkoholtoten"
Somit können die in der Tat vernachlässigten Negativeffekte "alltäglichen" Konsums gezielter in Angriff genommen werden. Ohnehin sinkt der Verbrauch seit fast zwei Dekaden und dürfte künftig weiter sinken. Dies kann nur gut sein für die Krankenkassen. Allerdings zeigt sich hier ein Dilemma. Das Ziel einer Senkung des Pro-Kopf-Verbrauchs ist prinzipiell grenzenlos - damit ignoriert es die "lessons of history", wie der Nachfolger Jellineks, Mark Keller, mit Blick auf die Prohibition urteilte.
Nachsatz
Angesichts des "Komasaufens" fürchtet die Bundesdrogenbeauftragte, dass bei deutschen Jugendlichen eine "britische Trinkkultur" Einzug hält, und Experten wie Laien fordern, den "Zugang zum Alkohol" zu erschweren.
Paradoxerweise hat Drogenkontrollpolitik selbst ein "hohes Abhängigkeitspotential": Bleibt der Erfolg aus, wird "mehr desselben" eingefordert,
In den USA, wie in allen Temperenzkulturen, liegt der Pro-Kopf-Verbrauch deutlich niedriger als in der Bundesrepublik, die mit rund zehn Liter Reinalkohol immer noch zur Weltspitze zählt. Folgt man einer Klassifizierung der WHO, bildet Deutschland zusammen mit anderen "kerneuropäischen" Ländern aber zugleich jene Weltgegend, welche die relativ unschädlichsten Konsummuster aufweist.