Einleitung
Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom 30. Juni 2009 hat in der Öffentlichkeit eine ambivalente Einschätzung erfahren. Einerseits herrscht Erleichterung darüber, dass das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom Lissabon (dem Neuerungsausschnitt der gescheiterten Gesamtkodifikation des Verfassungsvertrags ) die gerichtliche Hürde nahm und namentlich von der Bundesregierung als grundgesetzkonform bewertet wurde. Ein anderes Ergebnis wäre freilich auch nicht stichhaltig begründbar gewesen. Denn der Reformvertrag ändert nicht grundlegend das seit mehr als einem halben Jahrhundert mit den Europäischen Gemeinschaften (EGen) entwickelte rechtsverbindliche Grundkonzept der europäischen Integration. Und das Grundgesetz enthält ein klares Bekenntnis zur gleichberechtigten Gliedschaft in einem vereinten Europa (Präambel) und zugleich den (konditionierten) Staatszielauftrag, zu dessen Verwirklichung bei der Entwicklung der Europäischen Union (EU) mitzuwirken.
Andererseits erhob sich ein anschwellender Chor der Kritik am Grundton, den Zukunftsaussagen und manchen sprachlichen Wendungen der umfänglichen Begründung. Insbesondere war von einer Blockade der Europapolitik Deutschlands und von Integrationsbremsen die Rede, ja sogar von Zweifeln an der Ernsthaftigkeit von Deutschlands europäischem "Commitment".
Nachdem der erste Pulverdampf verzogen ist, beschäftigt uns die Frage, welche Implikationen dieses Urteil für die Integration Deutschlands in Europa und damit für die Zukunft des europäischen Einigungsprozesses mental und operativ hat.
Ergebnis, Begründungsgang und zentraler Maßstab
Festzuhalten ist zuallererst als Ergebnis des Karlsruher Verfahrens, dass auch der jüngste, rechtsverbindliche europäische Integrationsschritt in Gestalt des Vertrags von Lissabon den verfassungsrechtlichen Segen des BVG erhalten hat. Die aus dem Verfassungsvertrag in den Lissabonner Vertrag übernommenen Zuwächse an Kompetenzen und Handlungslegitimation der EU sind als grundgesetzkonform bestätigt. Die verfassungsrechtliche Beanstandung des Begleitgesetzes zur Rolle von Bundestag und Bundesrat in Fragen der europäischen Integration, die im Sommer 2009 zu höchst zügiger Gesetzgebung vor der Bundestagswahl und dem irischen Referendum nötigte, betraf, wenn auch nicht ohne potentielle Wirkung auf die EU, zunächst allein die Frage der innerdeutschen Gewalten- und Kompetenzteilung in Angelegenheiten der EU.
Das BVG kommt zu dem Ergebnis der Verfassungskonformität in einem sehr aufwändigen und weit ausholenden Begründungsgang (mit zahlreichen hoch auslegungsbedürftigen Begriffsschöpfungen), der weit über den Reformvertrag hinausgeht und schon deshalb eine makropolitische Implikation hat. Er nimmt sich die Entwicklung der rechtsverbindlichen europäischen Integration von ihren Ursprüngen in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts bis zu einer hypothetischen Gründung eines europäischen Bundesstaates aus grundgesetzlicher Sicht vor. Grob gebündelt geht es bei diesem Aufwuchs europäischer Supranationalität aus der grundgesetzlichen Sicht des BVG um den Ausgleich von zwei Verfassungsanforderungen an die deutsche Europapolitik: um die Konkordanz des Integrationsauftrags mit dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip, wobei das BVG die Mitgliedstaaten im Verhältnis zur EU als die jeweiligen "demokratischen Primärraume" versteht.
Dieses Thema wird bereits in der Beantwortung der prozessualen Vorfrage des Verfahrens sichtbar, ob ein Einzelner befugt ist, das Zustimmungsgesetz zu einem Integrationsvertrag durch das BVG auf seine Konformität mit dem GG überprüfen zu lassen. Im Einklang mit dem Maastricht-Urteil des BVG von 1993 lässt das Lissabon-Urteil die Verfassungsbeschwerde desjenigen zu, der hinreichend substantiiert behauptet, durch die Zustimmung der Gesetzgebungsorgane zu einem Integrationsvertrag in seinem Wahlrecht zum Bundestag beeinträchtigt zu sein: nämlich durch eine Aushöhlung der substantiellen Kompetenzen des deutschen Parlaments. Damit beruft sich das BVG auf das grundgesetzliche Demokratieprinzip und dessen Verankerung im freien politischen Mitgestaltungsrecht des Einzelnen innerhalb des nationalen Demos, aus dessen Wurzel es sodann die weiteren Anforderungen an die Europapolitik zieht.
Systematisiert man das Urteil unter diesem Leitgesichtspunkt, so fixiert es (hierin das Maastricht-Urteil sprachlich schärfend) als demokratiebegründete Maßstäbe insbesondere, dass erstens der Kompetenzzuwachs der EU demokratisch verantwortbar sein müsse und sich deshalb nur über definierte, begrenzte und kontrolliert ausgeübte Einzelermächtigungen vollziehen dürfe; dass zweitens dem Bundestag ein hinreichend substantieller Raum politischer Gestaltung erhalten bleiben müsse und ihm daher die Sachentscheidung in Kernbereichen nicht entzogen werden dürfe; dass deshalb drittens ein Aufgehen der deutschen Staatlichkeit in einem "europäischen Bundesstaat" mit dem GG nicht vereinbar sei, sondern eine das GG ablösende neue Verfassung erfordere; und dass viertens dem Überschreiten der vom GG gezogenen Grenzen durch das Handeln der europäischen Organe notfalls vom BVG die Verbindlichkeit für Deutschland versagt werde.
Entscheidungstechnisch hat die Begründung zwei große Teile: Sie entwickelt zunächst abstrakte Maßstäbe des GG für die Integrationspolitik und misst sodann daran den Vertrag von Lissabon. Als zentraler Maßstab erwächst das auf den deutschen Demos bezogene grundgesetzliche Demokratieprinzip. Dieses wird vom Urteil bis in das Prinzip der souveränen Staatlichkeit und die Unantastbarkeit der Verfassungsidentität ausgezogen. Auf der Grundlage von Begründungsgang und zentralem Maßstab ergeben sich Implikationen für die künftige Europapolitik.
Offenheit des Grundgesetzes zur europäischen Integration
Zuerst ist festzuhalten, dass das Lissabon-Urteil die Offenheit des GG zur europäischen Integration bestätigt. Dies ist deshalb zu betonen, weil fixierte Verfassungsnormen ihre Gegenwartsverbindlichkeit durch Sprache und Atem der Rechtsprechung erhalten. Das BVG erinnert geschichtsbewusst an den Hintergrund von Präambel und Europaartikel des Grundgesetzes, nämlich den aus den Erfahrungen verheerender Kriege, gerade auch unter europäischen Völkern, gespeisten Willen zur Mitwirkung Deutschlands an internationalen Organisationen und zu einem organisierten Miteinander in Europa.
Demokratisch eingebettete Integrationsoffenheit.
Die Bestätigung der Integrationsoffenheit des GG wird vom BVG in das Demokratieprinzip eingebettet. Dieses wird - aus dem Prüfungsansatz der behaupteten Wahlrechtsbeeinträchtigung verständlich, aber eben dadurch bemerkenswert - vorweg normativ-idealtypisch konturiert. Begründungsleitender Ausgangspunkt ist das Verständnis des Wahlrechts: als Ausdruck des in der Würde des Menschen wurzelnden "Anspruchs auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt"; als unverzichtbarer Teil des "konstitutiven Prinzips personaler Freiheit"; als "Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung, auf freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt sowie auf die Einhaltung des Demokratiegebots einschließlich der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes"; als ein Recht zur Einhaltung der Grundsätze, die die so genannte Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) als "Identität der Verfassung", darunter das Demokratieprinzip, festschreibt und einer Verfassungsänderung entzieht. Das Urteil leitet aus der Ewigkeitsklausel zugleich die Garantie der souveränen Staatlichkeit Deutschlands ab. Das BVG bezeichnet als mögliche Form der Verletzung des jedem Bürger zustehenden demokratischen Teilhaberechts, "dass die Organisation der Staatsgewalt so verändert wird, dass der Wille des Volkes sich nicht mehr wirksam [im Rahmen der grundgesetzlichen Staatsprinzipien] bilden kann und die Bürger nicht mit Mehrheitswillen herrschen können", und sieht eine Verletzung des im Wahlrecht ausgedrückten Prinzips der repräsentativen Volksherrschaft, "wenn im grundgesetzlichen Organgefüge die Rechte des Bundestages wesentlich geschmälert werden und damit ein Substanzverlust demokratischer Gestaltungsmacht für dasjenige Verfassungsorgan eintritt, das unmittelbar nach den Grundsätzen freier und gleicher Wahl zustande gekommen ist".
Konditionierte europapolitische Offenheit des GG.
In diese Einrahmung fällt das Diktum des BVG, dass die grundgesetzliche Ausgestaltung des Demokratieprinzips offen für das Ziel ist, Deutschland in eine internationale und europäische Friedensordnung einzufügen. Grundsätzlich wird nicht das grundgesetzliche Demokratieprinzip von der Gestalt Europas bestimmt, sondern die Gestalt Europas wird vom Demokratieverständnis des BVG jedenfalls mitbestimmt. Dies ist, weil jegliche Hoheitsausübung mit Wirkung im Geltungsbereich des Grundgesetzes demokratisch legitimiert sein muss, die schlüssige Konsequenz aus einem Ansatz, der die Legitimationsketten jeglichen Handelns der EU nicht in einem Unionsvolk, sondern in den Völkern der teilnehmenden Staaten verankert.
Dass dies auch das konzeptionelle Grundmuster der bestehenden EU ist, zeigt sich schlaglichtartig darin, dass das Inkrafttreten aller Vereinbarungen, auf denen die EU beruht, der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten bedurfte. Der Unionsvertrag, der die Verwirklichung gemeinsamer Ziele mit bestimmten Mitteln verfolgt, ist daher vertragskategorial ein Gesellschaftsvertrag aus der Legitimationswurzel der Mitgliedstaaten. Auch die Mitglieder des Rates beziehen ihre Handlungsberechtigung nicht von einem Unionsvolk, sondern aus dem Mitgliedstaat. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments, auch wenn sie seit Lissabon vom EU-Vertrag als Vertreter der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger bezeichnet werden, erhalten ihre Legitimation aus der Wahl durch ein mitgliedstaatliches Volk, freilich unter unionsbürgerlicher Erweiterung um die in diesem Staat wohnhaften Unionsbürger mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats.
Ordnet man die zentralen Grundüberlegungen des BVG zu der von ihm bestätigten "Öffnung der staatlichen Herrschaftsordnung für das friedliche Zusammenwirken der Nationen und die europäische Integration" konzeptionell, so wird diese Offenheit in vier Elementen akzentuiert: erstens strategisch-normativ als Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas wegen der grundgesetzlich fixierten "überragenden politischen Ziele der Bundesrepublik" in Gestalt von "Friedenswahrung und (der) Überwindung des zerstörerischen europäischen Staatenantagonismus"; zweitens daraus folgend staatskonzeptionell als Ablösung "von einer selbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlichkeit" und als Bekenntnis zu einem Souveränitätsverständnis als "völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit"; drittens verfassungsoperativ als (flexible) Ermöglichung einer "neuen Gestalt politischer Herrschaft", die "nicht schematisch den innerstaatlich verfassungsstaatlichen Anforderungen (unterliegt)" und "deshalb nicht umstandslos an den konkreten Ausprägungen des Demokratieprinzips in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat gemessen werden (darf)"; viertens limitativ als eingehegt durch die "unverfügbare Verfassungsidentität", durch die der Grundsatz der demokratischen Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Teilhabe an der öffentlichen Gewalt auch durch den Friedens- und Integrationsauftrag des GG sowie dessen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit unangetastet bleibt. Die Schärfung dieses vierten Elements gibt dem Lissabon-Urteil unter dem Gesichtspunkt der künftigen Möglichkeiten deutscher Europapolitik sein Gepräge und ist näher zu betrachten.
Geschärfte Konditionen und Grenzen der Integrationsoffenheit
Ungeachtet der Bestätigung der supranationalen Offenheit des GG treten im Lissabon-Urteil stärker die (im Vergleich zum Maastricht-Urteil teils geschärften) Konditionen und Grenzen der deutschen Integrationsmitwirkung für hypothetische Situationen jenseits des Reformvertrags hervor. Sie sind allesamt in einer hoch abstrakten, auslegungsbedürftigen und teils neuen Terminologie gehalten, die das GG nicht kennt. Insbesondere geht es um vier Konditionen und Grenzen.
Demokratische Verantwortbarkeit des Kompetenzzuwachses der EU.
Erstens findet sich an der demokratieprinzipiellen Wurzel die schon vom Maastricht-Urteil hervorgehobene Erfordernis der demokratischen Verantwortbarkeit des Kompetenzzuwachses der EU. Hierzu entwickelt das Urteil inhaltliche und entscheidungsprozedurale Schärfungen. Inhaltlich erklärt es das bislang bereits EG-rechtlich geltende so genannte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu einem aus dem Demokratieprinzip folgenden verfassungsrechtlichen Prinzip. Dies ist eine Absage an Blankett- oder Selbstermächtigungen der EU. Daraus ergeben sich Folgerungen sowohl für die Handhabung bestehender unionaler Kompetenzen als auch für künftige Kompetenzzuweisungen an die EU.
Entscheidungsprozedural betont das Urteil die Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesrat und bindet das Verhalten des deutschen Regierungsvertreters im Rat oder im Europäischen Rat bei der künftigen Nutzung bestimmter Befugnisse der EU zur (vom BVG so genannten) "dynamischen Vertragsentwicklung" (namentlich zum Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip im Rat zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung) an das Votum der deutschen Gesetzgebungsorgane. Während diese innerstaatliche Stärkung des Parlamentarismus gegenüber der Bundesregierung für Fälle der vereinfachten Vertragsänderung einleuchtet, erscheint die plötzliche und pauschale Erstreckung dieses Erfordernisses auf die Nutzung der Ergänzungsbefugnis des Rates in Einzelfragen, die seit einem halben Jahrhundert besteht, überzogen.
Grenze der Verfassungsidentität.
In einem zweiten Schritt schärft das Urteil mit dem Erfordernis, die Verfassungsidentität zu achten, im Blick auf Kompetenzübertragungen an die EU eine Grenze, die auch vom verfassungsändernden Gesetzgeber nicht überwindbar ist: das Erfordernis des hinreichenden Raums politischer Gestaltung des Bundestags. Sie wird abgeleitet aus dem Gedanken, dass mit dem Wahlrecht zum Bundestag neben der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt "auch dirigierender Einfluss genommen (wird), wie diese ausgeübt wird". Dieser Gedanke zieht sich in abstrakter und variierender Terminologie judikativer Eigenschöpfung als roter Faden durch das Urteil. Benannt wird es beispielweise als "hinreichendes Maß" oder "ausreichender Raum zur politischen Gestaltung". Zugleich wird der "konkreten Verantwortung" für Sachentscheidungen höhere demokratische Dignität zugesprochen als der "abstrakten Gewährleistungsverantwortung für das hoheitliche Handeln anderer Herrschaftsverbände" (gemeint ist die EU).
Innovativ substantiiert das Urteil beispielhaft den den Mitgliedstaaten vorzubehaltenden Raum wesentlicher politischer Sachgestaltung und damit sein Verständnis des Kerns von Staatlichkeit. Das BVG rechnet dazu "unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände (...), kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis".
In Anwendung dieser Maßstäbe kommt das Urteil zum Ergebnis, dass das Wahlrecht zum Bundestag durch die Zustimmung zum Vertrag von Lissabon nicht verletzt sei, weil auch nach Inkrafttreten dieses Vertrages "das Deutsche Volk in Bund und Ländern nach wie vor über wesentliche politische Sachverhalte" bestimme und mit "der Wahl des deutschen Kontingents von Abgeordneten des Europäischen Parlaments (...) für das Wahlrecht der Bundesbürger eine ergänzende Mitwirkungsmöglichkeit im europäischen Organsystem eröffnet" sei. Allerdings steht die erste Aussage unter dem Vorbehalt einer "gebotenen" engen Interpretation der neuen Kompetenzen, zu denen das BVG einen Auslegungsrahmen für fünf Bereiche formuliert: die Strafrechtspflege, die ziviljustizielle Zusammenarbeit, die Gemeinsame Handelspolitik, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Sozialpolitik. Und mit der zweiten Aussage wird zwar nicht verkannt, dass die nach Länderkontingenten "degressiv proportionale" Zusammensetzung des Europäischen Parlaments zu Lasten der stärker bevölkerten Mitgliedstaaten nicht dem elementaren demokratischen Grundprinzip der Wahlrechtsgleichheit im Sinne der Gleichheit des Zählwerts der Stimmen entspricht und deshalb eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten bleibt. Allerdings würdigt das BVG nicht hinreichend den demokratischen Legitimationsgewinn durch die Neuformulierung der qualifizierten Mehrheit im Rat als doppelte Mehrheit (qualifizierte Mehrheit von Staaten, die eine qualifizierte Mehrheit der Bevölkerung der Union repräsentieren).
Unvereinbarkeit von "europäischem Bundesstaat" und Grundgesetz.
Eine weitere Grenze des GG setzt das Urteil in staatsorganisationeller Hinsicht. Hatte das Maastricht-Urteil nicht ausdrücklich Stellung zur Frage der Vereinbarkeit des Beitritts der Bundesrepublik zu einem europäischen Bundesstaat genommen, so wird sie vom Lissabon-Urteil ausdrücklich verneint und eine derartige Beteiligung dem Erfordernis unterstellt, das GG durch eine neue Verfassung abzulösen. Hier freilich verschwimmen die begrifflichen und politischen Konturen. Denn unklar bleibt, ob damit eine "Organisation des europäischen Staatenvereins" (ein im 19. Jahrhundert von Johann Caspar Bluntschli entwickelter Ausdruck) allein im Sinne des derzeitigen deutschen Modells mit starkem Kernstaat gemeint ist oder auch schon ein Bundesstaat mit starken Gliedstaaten einschließlich deren Befugnis zum Abschluss internationaler Verträge. Nicht betroffen ist die derzeitige föderativartige Verdichtung der EU, in der den Staaten maßgebliches Entscheidungsgewicht zukommt. In politischer Dimension ist auf die Merkwürdigkeit hingewiesen worden, dass das Urteil das von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl (anfänglich) propagierte Ziel der Vereinigten Staaten von Europa nun als inkompatibel mit dem GG ausgibt.
Kontrollanspruch des BVG.
Schließlich akzentuiert das Urteil in Fortsetzung des Maastricht-Urteils den Anspruch des BVG, einen unionalen Akt, falls er nach Ansicht des BVG die Ermächtigungsgrenzen nicht einhält und Rechtsschutz auf Unionsebene nicht erlangbar ist, für unanwendbar in Deutschland zu erklären. In sich folgerichtig wird damit auch der vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) entwickelte Vorrang des Gemeinschaftsrechts relativiert. Doch kommt gerade in dieser geschärften Aussage die Problematik des Ansatzes des BVG zum Ausdruck, als nationales Gericht über die Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift bestimmen zu wollen. Dieser Anspruch gefährdet die politisch elementar stabilisierende Verlässlichkeit der europäischen Rechtsgemeinschaft, deren Wahrung von den Mitgliedstaaten seit Gründung der EGen durch Verträge in wechselseitiger Verbindlichkeit richtigerweise dem EuGH zugewiesen ist.
Möglichkeiten deutscher Integrationspolitik
Ob die künftigen Möglichkeiten und der Manövrierraum deutscher Integrationspolitik durch das Lissabon-Urteil beeinträchtigt werden, ist angesichts der hohen Abstraktheit der vom BVG formulierten Konditionen und Grenzen eine offene Frage.
Politik der künftigen Neugestaltung der EU.
Anläufe zur Neugestaltung der EU wurden nach den Ratifizierungsproblemen mit Verfassungsvertrag und Lissabonner Vertrag noch vor Kurzem als für lange Zeit erledigt betrachtet. Sie sind aber schneller als erwartet wegen der von Griechenlands Haushaltsproblemen ausgelösten Gefahren für die Währungsunion aktuell geworden (Stichworte: Wirtschaftsunion, Europäischer Währungsfonds). Es liegt nahe, dass die Benennung der verfassungsgebotenen staatlichen Tätigkeitsbereiche durch das BVG, so abstrakt, vage und auslegungsbedürftig dies ist, die Schere im Kopf aktiviert, wenn es um neue Kompetenzen und Konzeptionen für die EU geht. Dementsprechend wird eher versucht werden, die Befugnisse der EU, wie sie sind, auszureizen anstatt Neuerungen anzustreben; jedenfalls soweit sie nicht nur punktuelle Anpassungen betreffen, welche ratifikationstechnisch etwa im Rahmen von Beitrittsverträgen (Kroatien) zu erledigen sind. Die öffentliche Erörterung von Lösungsoptionen der Griechenland-Krise wird jedenfalls von einem bemerkenswerten cantus firmus von BVG-Fürchtigkeit begleitet. Im Übrigen zeigt das Urteil eine klare Kante gegen eine Gemeinsame Verteidigung, die den grundgesetzlichen Gedanken des Parlamentsheers umginge.
Was die
Integrationspolitik innerhalb der EU
angeht, so ist zu erwarten, dass die erneute Betonung des Erfordernisses der Einhaltung des Integrationsprogramms, verbunden mit der Anrufbarkeit des BVG über die Verfassungsbeschwerde, zu aufwändigeren Abläufen in der Entscheidungsfindung führt. Dies gilt sowohl in inhaltlicher als auch in entscheidungsprozeduraler und judikativer Hinsicht. Inhaltlich werden davon politische Gestaltungsinitiativen im Bereich der neuen - nach dem BVG eng auszulegenden - Unionskompetenzen betroffen, doch wird von der Grundmelodie des Urteils möglicherweise auch die Nutzung der Altkompetenzen nicht unbeeinträchtigt bleiben (namentlich im Strafrecht).
Zu den Neukompetenzen schlägt das BVG mehrere Wegweiser für deren Nutzung ein. Dies gilt zuallererst für die Strafrechtspflege, die das BVG in seinem Kernbestand zu Recht als "besonders sensiblen" Akt der Selbstbestimmung des "demokratischen Primärraums" über das "rechtsethische Minimum" einer Gesellschaft zur Sicherung wichtiger Rechtsgüter gegen unerträgliches Sozialverhalten versteht. Daraus folgert es erstens, dass die im Rahmen des so genannten vertraglichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts eingefügten supranationalen Kompetenzen "strikt - keinesfalls extensiv" auszulegen sind, woran auch der deutsche Vertreter im Rat bzw. Europäischen Rat gebunden sei: so bei Beschlüssen zur Verwirklichung der mitgliedstaatlich gegenseitigen Anerkennung von Strafurteilen. Das Urteil fordert zweitens eine jeweils "besondere Rechtfertigung" der Zuständigkeitsnutzung. Sehr weit in die Speichen der Politik greift der Hinweis, dass eine "besondere Notwendigkeit", besonders schwere grenzüberschreitende Kriminalität gemeinsam zu bekämpfen, "nicht bereits dann vor(liegt), wenn die Organe einen entsprechenden politischen Willen gebildet haben". Straffe Zügel werden drittens der so genannten strafrechtlichen Annexzuständigkeit angelegt, also einer Kompetenz zur wirksamen Durchsetzung anderer Sachkompetenzen der EU. Wegen ihrer Uferlosigkeit hält sie das Urteil "an sich" als unvereinbar mit dem GG und lässt sie nur passieren, weil sie eng auslegbar sei. Es benennt als Messkriterien die Unerlässlichkeit der Normangleichung sowie die "nachweisbare" Feststellung eines "tatsächlich" bestehenden "gravierenden Vollzugsdefizits" und dessen Beseitigbarkeit "allein durch eine Strafandrohung". Es erstreckt dieses Verständnis auch auf die bislang bereits vom EuGH angenommene Annexkompetenz (also eine Altkompetenz). Insgesamt wird damit eine potentielle Bruchstelle für einen künftigen Unionsakt in der Bundesrepublik markiert.
Gleichermaßen wird die Ermächtigung der EU zum Erlass von Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer transnationaler Kriminalität eingegrenzt und die Lissabonner Ermächtigung der EU zur Ausweitung "je nach Entwicklung der Kriminalität" als "dynamische Blankettermächtigung" gewertet. Das BVG bindet den Regierungsvertreter auch hier an das Votum der deutschen Gesetzgebungsorgane und mahnt europäische Ambitionen zur Selbstbescheidung. Ein orakelhafter Wegweiser zeigt auf das Erfordernis, dass auch europäische Akte den Anforderungen des strafrechtlichen Schuldprinzips zu genügen haben, und zeigt den deutschen Gesetzgebungsorganen ihre Pflicht auch für Fälle auf, in denen der Vertrag eine nationale Notbremse bereithält oder den Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip in die qualifizierte Mehrheit ermöglicht. Insgesamt wird die Union jedwedes Handeln in diesem Bereich höchst sorgfältig begründen müssen. Auch in der ziviljustitiellen Zusammenarbeit stellt das Urteil bestimmte Bereiche für die künftige Auslegung unionsfest: die Organisation des Gerichtswesens sowie die Personal- und Finanzausstattung, die grundgesetzliche Garantie effektiven Rechtsschutzes einschließlich des rechtsstaatlichen Justizgewährungsanspruchs gegen sekundärrechtliche Verwässerungen mittels nicht-justizieller Vorverfahren sowie das materielle Familienrecht.
Warnlampen umgeben die Lissabonner Ausdehnung der unionalen Kompetenzen in der Gemeinsamen Handelspolitik an zwei Stellen: Mitgliedschaft in der WTO (Welthandelsorganisation) und ausländische Direktinvestitionen. Das Urteil postuliert, dass der Reformvertrag trotz der ausschließlichen Zuständigkeit der EU für die Außenhandelspolitik die Mitgliedstaaten nicht zur Aufgabe ihres Mitgliedsstatus in der WTO zwingen kann (wegen der Ungewissheit über den Inhalt künftiger multilateraler Handelsrunden), verbindet dies allerdings mit dem politisch allgemein raunenden Satz, dass "die Vorstellung eines allmählichen Zurücktretens der Mitgliedstaaten in den auswärtigen Beziehungen zugunsten einer immer deutlicher staatsanalog auftretenden Europäischen Union (...) keineswegs einem voraussehbaren und durch den Vertrag von Lissabon unumkehrbar gemachten Trend im Sinne einer jedenfalls faktisch notwendigen Bundesstaatsbildung (entspreche)". Hinsichtlich der Befugniserweiterung der Handelspolitik auf die (für Deutschland bedeutsamen) ausländischen Direktinvestitionen präferiert das Urteil eine Beschränkung auf solche, die dem Kontrollerwerb eines Unternehmens dienen. Den rechtlichen Bestand von Altabkommen der Mitgliedstaaten sieht es als "nicht gefährdet", bewegt sich hier aber auf einer unionsrechtlich nicht sicheren Argumentationslinie.
Gegenüber der neuen Unionskompetenz zur Gemeinsamen Sicherheitspolitik bringt das Urteil den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräfte zur Geltung, den es von der Reform aber aus mehreren Gründen zu Recht als nicht berührt ansieht. Denn erstens trifft die Mitgliedstaaten keine Pflicht, nationale Streitkräfte für Einsätze der EU bereitzustellen. Zweitens haben die Mitgliedstaaten im Rahmen der neuen, wechselseitigen kollektiven Beistandspflicht einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Art des Beistands. Drittens gewährleistet das Einstimmigkeitsprinzip im Rat die Aufrechterhaltung des nationalen Parlamentsvorbehalts. Und viertens erfordert auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik Einstimmigkeit und darüber hinaus eine Ratifikation im Einklang mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten. Schließlich sieht das BVG für die Sozialpolitik keine grundgesetzrelevante Einschränkung durch die Reform, merkt allerdings an, dass dies der Fall wäre, wenn den Mitgliedstaaten die Handlungsmöglichkeiten genommen wären, "für soziale Sicherungssysteme und andere Maßnahmen der Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik konzeptionelle Entscheidungen in ihren demokratischen Primärräumen zu treffen".
Entscheidungsprozedural sind, soweit das Votum des deutschen Vertreters im Rat und Europäischen Rat an ein Gesetz von Bundestag und Bundesrat gebunden wird, Erschwernisse zeitlicher und politischer Art für eine Maßnahme auf deutscher und europäischer Ebene nicht auszuschließen. Letztendlich kann Integrationspolitik durch das BVG erschwert werden: durch die nicht vorhersehbare Handhabung der Zulässigkeitsschwelle für Verfassungsbeschwerden ("hinreichende Substantiierung" einer Beeinträchtigung) gegen Maßnahmen der EU (hier könnte dem BVG eine unangenehme Herausforderung erwachsen); durch die Verfahrensdauer und durch die schwer vorhersehbare Begründetheitsprüfung einzelner Maßnahmen anhand der hoch abstrakten Maßstäbe durch das BVG. Hier wird es darauf ankommen, dass BVG und EuGH ihre Rollen klug wahrnehmen. Dies bedeutet, dass das BVG, soweit vor ihm wegen einer unionalen Maßnahme direkt oder implizit die Tragkraft unionaler Kompetenzen bestritten wird, diese Frage pflichtgemäß dem EuGH vorlegt. Es bedeutet auch, dass der EuGH seinerseits Bedenken des BVG hinreichend würdigt und seine Rechtsprechung offenhält, um gegebenenfalls zwingende mitgliedstaatliche Verfassungserfordernisse anzuerkennen, etwa den grundgesetzlichen Schutz der Menschenwürde gegenüber virtuellen Lasertötungsspielen aus Großbritannien.
Andererseits kann (und will) das Lissabon-Urteil naturgemäß nicht den
Handlungsprimat der Politik
überwinden. Es bleibt Aufgabe der deutschen Integrationspolitik, die für die Stellung Deutschlands in Europa und in der Welt elementar bedeutsame EU funktionsfähig und legitimiert zu halten. Sie wird dabei das Lissabon-Urteil zu beachten haben, muss sich dadurch aber nicht zu furchtsamer Zurückhaltung drängen lassen. Denn die Vorgaben des Urteils zu hypothetischen künftigen Entscheidungssituationen sind allesamt höchst abstrakt und auslegungsbedürftig. Es ist Aufgabe und Möglichkeit der Politik, integrationspolitisch Sinnfälliges zu entwickeln und notfalls das BVG davon zu überzeugen. Das Lissabon-Urteil ändert nichts daran, dass es letztlich auf die Klugheit aller Beteiligten ankommt.