Einleitung
Die Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist deutsch." Dieser Satz steht nicht in der Verfassung. Er ist nirgendwo festgeschrieben. Hingegen findet sich im Grundgesetz (Art. 3) einzig die Aussage "Niemand darf wegen (...) seiner Sprache (...) benachteiligt oder bevorzugt werden." Sprachenrechte sind zum Teil in Abkommen zu anerkannten autochthonen (alteingesessenen) Minderheiten geregelt, etwa in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955.
Die Bundesrepublik Deutschland ist allerdings in mehrfacher Hinsicht mit dem Problem der Mehrsprachigkeit konfrontiert. Das führt zu großen Unsicherheiten über das Verhältnis des Deutschen als Mehrheitssprache gegenüber Menschen mit anderer Muttersprache. Auch wenn es keine gesicherten Zahlen gibt - rund neun Prozent der Bevölkerung haben einen ausländischen Pass -, so ist der Anteil derjenigen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, beträchtlich. Der Großteil davon geht auf die Einwanderung seit der Anwerbung sogenannter Gastarbeiter seit Mitte der 1950er Jahre zurück. Mit etwa zwei Millionen Muttersprachlern ist Türkisch dabei am stärksten vertreten.
Anders- und Mehrsprachigkeit ist in einem Land, dem die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin einen "monolingualen Habitus"
Streitfall Zweisprachigkeit
Die sprachenpolitische Debatte um Einwanderung dreht sich größtenteils um den Stellenwert von bestimmten Sprachigkeitskonstellationen für und wider den Integrationsprozess: Das Verhältnis von mitgebrachten Sprachen bzw. Herkunftssprachen zur Mehrheitssprache Deutsch ist ein leidenschaftlich und höchst kontrovers diskutiertes Thema, gar ein "Streitfall".
Ich möchte im Folgenden vor allem soziolinguistische Aspekte der Mehrsprachigkeitsproblematik in den Blick nehmen. Zur Debatte um die Rolle der Mehrsprachigkeit ließe sich zunächst die weniger instrumentelle oder effektivitätsorientierte Frage stellen, über welches scheinbar so besondere Gut eigentlich gestritten wird. Denn mit Blick auf die Sprachigkeitszustände weltweit ist Mehrsprachigkeit zunächst einmal der Normalfall.
Die Welt ist mehrsprachig
Ab wann gilt ein Individuum, eine Gesellschaft als zwei- oder mehrsprachig? Die Wissenschaft ist sich hier nicht einig, auch wenn anerkannt ist, dass die meisten Menschen zwei- und mehrsprachig sind (allerdings mit unterschiedlichen Schätzungen über den genauen Anteil, der zwischen 60 und 75 Prozent liegen dürfte). Es gibt dazu keine klaren Aussagen, weil erstens nicht klar ist, wie viele Sprachen in der Welt überhaupt existieren; zweitens können Sprachen nicht einfach gezählt werden; drittens ist unklar, wo die Grenze zwischen Ein-, Zwei- und Mehrsprachigkeit liegt.
Ob man eine Sprache als selbstständig zählt oder einer anderen Sprache als Dialekt zuordnet, ist letztendlich willkürlich. Der meist mühselige Prozess der Standardisierung von Sprachen hat sich in historischen Prozessen herauskristallisiert. In Europa hat sich ein Verständnis von Sprache entwickelt, das zumeist identisch mit Nationalsprache ist.
Es gibt individuelle und gesellschaftliche Zwei- und Mehrsprachigkeit; mehrsprachige Individuen leben nicht unbedingt in einer mehrsprachigen Gesellschaft; letztere besagt noch nicht, dass die Gesellschaftsmitglieder zwei- oder mehrsprachig sind.
Soziolinguistik der Mehrsprachigkeit
Ein soziolinguistisches Interesse an gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit gilt unter anderem der Frage, welche Sprache als Nationalsprache dienen soll oder welche Sprachen institutionell gefördert werden sollen. In Gesellschaften mit vielen allochthonen (zugewanderten) Sprachgruppen bedeutet dies die Wahl zwischen zu fördernder Mehrsprachigkeit oder deren Aufgabe zu Gunsten der Mehrheitssprache. Die Soziolinguistik erforscht die gesellschaftlichen und interaktiven Funktionen von Mehrsprachigkeit, was sich in der folgenden Frage zusammenfassen ließe: "Wer spricht wann wem gegenüber welche Sprache und zu welchem Zweck?"
Der dänische Soziolinguist Jens Normann JØrgensen
Eine Erweiterung sieht JØrgensen in der integrierten Bilingualismusnorm: "Menschen, die zwei Sprachen beherrschen, werden ihre ganze linguistische Kompetenz in zwei verschiedenen Sprachen zum jeweils gegebenen Zeitpunkt auf die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Gesprächs ausrichten, und dabei auch die linguistischen Fertigkeiten der Gesprächspartner berücksichtigen."
In dieser Konzeptualisierung umfasst Mehrsprachigkeit ein weites Spektrum von Kompetenzen oder besser: Sprachigkeitskonstellationen. Festschreibungen, wie eine nützliche oder effektive Mehrsprachigkeit auszusehen hat, sind demnach künstlich. Ein Teil der soziolinguistischen Mehrsprachigkeitsforschung arbeitet im Rahmen der Kommunikationsethnografie oder der Interaktionalen Soziolinguistik.
Zwei Stichwörter sind hier besonders hervorzuheben: real life situations, also eine Empirie situierter Sprachverwendung, und negotiation, das interaktive Aushandeln von Bedeutungen. Diese Aushandlungsprozesse finden auf allen Ebenen der komplexen Interaktionsstruktur statt; sie sind zumeist unausgesprochen und schaffen die jeweils bedeutsamen Handlungskontexte, auf die sich die Akteure ja irgendwie abstimmen müssen, um sich zu verstehen. Die Verwendung von verschiedenen Sprachen und auch Sprachvarietäten sind Teil dieses Aushandlungsprozesses: "Jedes Mal, wenn wir etwas in der einen Sprache sagen, das wir vielleicht auch in einer anderen hätten sagen können, stellen wir eine Verbindung her zu Menschen, zu Situationen, zu Machtkonstellationen aus unserer eigenen Geschichte vergangener Interaktionen. Gleichzeitig drücken wir dieser Geschichte und den beteiligten Menschen und Sprachen unseren eigenen Stempel auf. Es ist die Sprachwahl, mit der wir Grenzen der ethnischen Zugehörigkeit und persönlicher Beziehungen aufrecht erhalten oder ändern; es ist die Sprachwahl, mit der wir uns und die Anderen im Rahmen politisch-ökonomischer und historischer Kontexte konstruieren und definieren."
Lebensweltliche Mehrsprachigkeit
Je mehr gelebte kommunikative Welten mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit in den Blick einbezogen werden, umso mehr verlieren starre Begrifflichkeiten und variablenabhängige Kausalzusammenhänge ihre Bedeutung, und es treten differenzierte, interaktionsbezogene Untersuchungsergebnisse an ihre Stelle. Als "funktional" kann diese Art von Mehrsprachigkeit also dann bezeichnet werden, wenn sie aufgaben- und kompetenzspezifisch und nicht als von außen vorgeschrieben, also "präskriptiv" eingesetzt wird.
Ich will im Folgenden eine Sequenz eines Sprechers aus einem mehrsprachigen (deutsch-türkischen) Gespräch vorstellen,
Indim, Sema'yi ari yom baki yom. Bi bakti m Matthias'i diyor: "Hey, kannsch du mi' mitnehmen?" Is'n Freund von mir, mit dem ich früher inner Klasse war. "He, kannschte mi' mitnehmen?", diyo, "I hab niemand", diyo, "sonst muss ich mit'm Bus oder mit der U-Bahn (...)."
Diese Sequenz ist ein kleiner Ausschnitt aus einem über halbstündigen Gespräch, in dem alle beteiligten Sprecher zwischen Sprachen und zwischen Varietäten hin und her wechseln. In der kleinen Beispielsequenz zeigt der Sprecher, wie er zwei Sprachen und unterschiedliche Varietäten (Schwäbisch, Hochdeutsch; türkische Umgangssprache) einsetzt, um seine kommunikativen Intentionen differenziert und gleichzeitig verschiedene Zugehörigkeiten auszudrücken. Hier handelt es sich im Sinne von JØrgensen um eine Spielart der integrierten Bilingualismusnorm.
Polylinguale Sprachbasteleien
Sprache hat viele Funktionen, auch expressiv-performative und poetische. In meinen Untersuchungen von polylingualen Jugendlichen bin ich auch immer wieder auf spontane - mitunter dichterische - Sprachbasteleien gestoßen. Dabei wird das Potenzial aller zur Verfügung stehenden Sprachen und Varietäten genutzt - JØrgensens Polylingualismusnorm. Dazu gehören neben Stilisierungen, Verdrehungen und Verulkungen anderer Sprachen und Varietäten (z.B. Imitationen von "Gastarbeiterdeutsch", amerikanischem Akzent u.a.), Zitate aus den Medien, vor allem aber auch das Ausschöpfen von Mehrdeutigkeiten bei Sprachähnlichkeiten von Deutsch und Türkisch und witzige deutsch-türkische Kombinationen, wie im folgenden Beispiel:
Wolfgang adi Wolfgang
Wolfgang Wolf'un oğlu Molf
Wolfgang Wolf'un oğlu Molfgang
Wolfgang Wolf'un oğlu in Wolfsburg
Adam drei mal Wolf oldu Doppelwolf
Ama Wolfsburg'da oynuyor
Wolfgang oynuyor ama wo wo
Ich nenne diese Spiele und andere Performances "virtuos", weil in ihnen nicht nur die poetische Funktion im Vordergrund steht, denn das teilen sie zweifelsohne mit der Spontanpoesie und den Wortspielereien anderer Kinder und Jugendlicher. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass diese Sprachspielereien all die ihnen zur Verfügung stehenden kommunikativen Elemente souverän als Ressource ihrer Polylingualität nutzen. Die Sprachspieler zeigen dabei ein hohes normatives Bewusstsein für Sprache und Varietäten, sowie Wissen über Wortbildungsprozesse.
Weiterhin könnte man aus den Daten über polylinguale Jugendliche Rückschlüsse auf die Sprachaneignungsgeschichte dieser Jugendlichen außerhalb des Schulunterrichts ziehen und stieße auf ein bislang wenig beachtetes Kompetenzprofil: Die Fähigkeit, Sprachen bei jeder Gelegenheit zu lernen, auf der Straße, aus den Medien, in alltäglichen Kommunikationssituationen - und vielleicht selbst noch in der Schule.
Fazit
Mehrsprachigkeit in Deutschland ist wie ein Flickenteppich mit vielen Löchern. Die Löcher sind dabei die Zonen der Einsprachigkeit. Mehrsprachigkeit ist aber auch ein politischer Affront, persönlich wie institutionell; sie fordert ihre Anerkennung und ihre Normalisierung. Sie kann nicht allein auf ihren Integrations- oder Mobilitätsnutzen reduziert werden, also nicht rein instrumentell definiert werden. Eine solche Sichtweise würde eine einseitige Bringschuld unterstellen und ein reines Nutzenkalkül beinhalten, das die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für ihre Akteure übersieht, da es Fragen der Identität als auch sprachökologische Fragen ethnolinguistischer Vitalität ignoriert.
Doch zunächst einmal gilt es, eine nicht-essentialistische Sicht auf Sprache und auf Mehrsprachigkeit bzw. die vielen Arten der Mehrsprachigkeit zu ermöglichen. Der österreichische Linguist und Mehrsprachigkeitsexperte Mario Wandruszka hat bereits vor über dreißig Jahren folgende Erkenntnis formuliert: "Für den Menschen gibt es weder eine vollkommene Beherrschung seiner Sprache noch eine völlig homogene Sprachgemeinschaft. Es gibt nie und nirgends ein perfektes, homogenes Monosystem, immer und überall nur unvollkommene heterogene Polysysteme. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache ist nicht das der vollkommenen Einsprachigkeit, sondern im Gegenteil das der unvollkommenen Mehrsprachigkeit und der mehrsprachigen Unvollkommenheit."
Eingangs habe ich aus dem Grundgesetz zitiert: "Niemand darf wegen (...) seiner Sprache (...) benachteiligt oder bevorzugt werden." Wenn wir nun auf den "Streitfall" Zweisprachigkeit schauen, können wir mit Blick auf die nunmehr kritische und differenzierte Sichtweise von Mehrsprachigkeiten - hier würde ich gerne den Plural benutzen - wohl kaum Deutsch als einzigen anerkennungswürdigen Dreh- und Angelpunkt für die Förderung von Integration und Mobilität innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft betrachten. Auch wenn dies vielleicht im Sinne der deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung, der Bildungsinstitutionen und eines Großteils des Arbeitsmarktes wäre, so entspräche es weder einem grundgesetzlich festgeschriebenen politischen Ethos noch der Anerkennung von Rechten jenseits eines vordergründigen Nutzenkalküls.
Zudem bleibt ein Aspekt bislang völlig unterbewertet: Potenziale von Mehrsprachigkeit sind bislang immer nur in einem direkten Abbildungsverhältnis zu seinen unmittelbaren Verwendungszwecken betrachtet worden, aber so wie es nach Erkenntnissen der Neurobiologie einen Zusammenhang zwischen dem Erklettern von Bäumen und dem Verstehen von mathematischen Aufgaben gibt, so könnten auch polylinguale Kompetenzen ganz andere Potenziale beinhalten. Anerkennung von vielsprachigen Realitäten, wie immer unvollkommen, kann den Weg für neue, bislang ungedachte Zusammenhänge eröffnen.