Einleitung
Seit einigen Jahren werden wieder einmal Anstrengungen unternommen, die deutsche Universität zu reformieren. Den Bemühungen sind Diskussionen über Sinn und Zweck von Wissenschaft und entsprechende Beschlüsse auf nationaler und transnationaler Ebene vorausgegangen. Dem muss sich auch die Soziologie stellen,
Angesichts der Reformvorhaben und der bereits durchgeführten Reformen hat es zwar Kritik an politischen Entscheidungen - wie sie etwa in den Stellungnahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zum Ausdruck kommt -, aber kaum Protest gegeben. Dieser ist selbst in den Universitäten gering geblieben. Von einer Formierung zum Widerstand kann schon gar nicht die Rede sein, auch wenn in jüngerer Zeit die Stimmen derer lauter geworden sind, welche die Möglichkeit von Wissenschaft durch die Reformen in Frage gestellt sehen.
Wissenschaft durch Kritik
Zum Kern von Wissenschaft gehört Kritik, die keine Tabus kennt. Sie ist der Lebensquell einer jeden Wissenschaft. Es gilt, Schlussfolgerungen transparent zu machen sowie plausible Argumente auf ihre Geltungsbasis hin zu überprüfen. Kritik erfordert und ermöglicht, Distanz zu praktischen Urteilen und Vorlieben zu nehmen, zu lieb gewonnenen Thesen.
Kritik ist kein Privileg der Soziologie oder der Geisteswissenschaften,
Wie ist es um diese unerlässliche Kritik bestellt? Sie sollte nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch auf Tagungen möglich sein. Das Zeitregime solcher Veranstaltungen ist jedoch sehr rigide. Lassen schon Vorträge von zwanzig Minuten kaum Spielraum, ein Problem angemessen darzulegen, so verhindern Diskussionszeiten von zehn, gar nur fünf Minuten eine Auseinandersetzung mit einer Forschungsfrage vollends. Dabei könnte kollegiale Kritik sich zum Wohle des Fortschritts der Wissenschaft entfalten. Sie macht es zudem auch dem interessierten Laien möglich, sich am wissenschaftlichen Streit zu beteiligen, wodurch er wie selbstverständlich auf die Logik des Arguments verpflichtet wird. Wenn die Kollegialität lebendig ist, bedarf es zur Einhaltung wissenschaftlicher Regeln auch keiner aufwendigen Kontrollen und Evaluationen.
Wird auf Tagungen diese Kultur der Kritik nicht mehr gepflegt, geraten sie in Gefahr, sich in Instrumente einer "Karrierepolitik" zu verwandeln: zur Plattform für Auftritte, um bekannt zu werden.
Unabdingbar gehört zur Kritik auch die Aufgeschlossenheit für Vermutungen, die Bereitschaft dazu, müßig dem Erkunden des Unbekannten nachzugehen. Dort, wo ein Argument erst im Entstehen begriffen ist, muss es mäeutisch, "geburtshelferisch" also, gefördert werden. Erst so erhält es die Chance, sich zu einem tragfähigen Argument zu entwickeln, das dann wieder in der Kritik bestehen muss.
Forschung und Lehre
Wenn Argumentation und Kritik die Kernbestandteile der Logik von Wissenschaft im Allgemeinen sind, wie ist es dann vor diesem Hintergrund um die organisatorischen Ausformungen von Wissenschaft in den deutschen Universitäten bestellt?
Die Verfasstheit der Soziologie an der Universität bemisst sich wesentlich daran, ob Forschung und Lehre miteinander in ständigem Austausch stehen.
Soll mittels einer Methode ein Gegenstand analysiert werden, muss sie sich nach diesem richten, dessen Struktur folgen. Diese Rückbindung an den Gegenstand erlaubt ein Urteil darüber, ob eine Methode angemessen ist. Methoden können schon aus diesem Grunde nicht unabhängig von dem gelehrt werden, was sie analysieren sollen. Ihre Verbindung zur Forschung muss in der Lehre deutlich werden, da sonst auf die Vermittlung von Ergebnissen reduziert wird.
Es hat sich ein Verständnis von Methoden ausgebreitet, das diese als Werkzeuge begreift; das Streben nach einer Anwendungsorientierung der Soziologie mag hierzu seinen Beitrag ebenso geleistet haben wie der Hang zum Pluralismus in der Wissenschaft. Die Soziologie begreift sich immer weniger als Wissenschaft. Stattdessen versucht sie durch Verweis auf ihren Nutzen zu zeigen, dass sie zu Recht alimentiert wird. Wissenschaft als Wissenschaft wird aber unabhängig davon betrieben, ob sie einen unmittelbar verwertbaren Zweck hat. Alimentiert wird sie, damit sie von den Anforderungen der Praxis unabhängig ist und diese Freiheit zur Gewinnung von Erkenntnis nutzen kann. Je radikaler sie das tut, desto mehr wird die Gemeinschaft von ihr haben, und zwar in Gestalt von Erkenntnissen, die rezipiert werden können. Dies kann und muss Studenten dadurch erfahrbar gemacht werden, dass sie schon in der Lehre an der Forschung teilhaben, dass sie lebendig und nachhaltig zum Mit- und Nach-Denken bewegt werden.
Die Soziologie ist zuallererst ein wissenschaftliches Studium, das diejenigen Studenten anziehen und fördern muss, die diesem Zweck zu folgen bereit sind. Es bedarf jener Studenten, die sich gern auf etwas Unbekanntes einlassen, dessen Ausgang sie naturgemäß nicht überschauen können. Dementsprechend gilt es, auch in den Lehrveranstaltungen Neugierde und Offenheit für Unbekanntes zu fördern. Sie müssen die Erfahrung ermöglichen, ein Handlungsproblem zu rekonstruieren und an ihm die Erklärungskraft einer Theorie zu ermessen. Aneignung von Theorien muss mehr sein als ein Auswendiglernen von Konzepten und Sprachspielen. Dies ist nur möglich, wenn das Handlungsproblem, das sie aufschließen wollen, unvoreingenommen expliziert wird.
Studium als Krise, Lehre als ihre Ermöglichung
Das Studium einer Wissenschaft ist grundlegend krisenhaft, da die Bereitschaft zur Infragestellung bewährter Überzeugungen erworben werden muss. Die Routinen der Praxis, selbstverständliche Deutungen der Welt auf Distanz zu bringen und ihre Strukturlogik zu rekonstruieren, ist mühselig. Am Ende des Studiums müssen die Studenten als Soziologen in der Lage sein, diese Haltung wie selbstverständlich einzunehmen, wenn es um die aufschließende Erkenntnis von Sozialgebilden geht. Das Studium der Soziologie besteht nicht in der "Wissensvermittlung" oder dem Aneignen eines "Stoffs", der schon fertig vorliegt. Weil die Überzeugungen, die einen Wissenschaftler in der Praxis leiten, auf Distanz gebracht werden müssen, stellt es sich eher als eine dauerhafte Krise dar. Was als bekannt gilt, ist damit noch nicht erkannt, wie Hegel es formulierte, im Erkennen aber besteht der Zweck der Wissenschaft. Dafür - um das Erkennen einzuüben - ist die Haltung, in der das geschieht, entscheidend, nicht der Gegenstand, an dem dies geschieht.
Diese Erfahrung zu vermitteln, Erklärungsprobleme lebendig zur Anschauung zu bringen, vermag nur jemand, der selbst forscht. Forschungserfahrung erlaubt es, Erklärungsprobleme als solche zu erkennen und zu entfalten, nur sie erlaubt es, den Stellenwert von innerdisziplinären Diskussionen einzuschätzen, aufschlussreiche von abwegigen zu unterscheiden. Gerade die das Studium konstituierende Offenheit ist also eingebunden in eine Asymmetrie, auf welcher der Lehrende beharren muss. Angesichts der Bestrebungen, Evaluationen von Lehrveranstaltungen durch Studenten durchzuführen und das Gelingen einer Veranstaltung an ihr Urteil zu binden, muss auf diese Voraussetzungen von Forschung und Lehre hingewiesen werden. Denn da sich demgemäß eine Evaluation der Lehre durch die Studenten nun nicht auf die Inhalte beziehen kann, bleibt nur die Präsentation als solche zur Bewertung übrig.
Dem fügt sich die Tendenz, die Präsentation, die vermittelnde Technik von der Sache abzulösen, was einer Verselbständigung der Routine gegenüber der notwendigen Krise im Studium gleichkommt: Die Präsentation tritt an die Stelle der Sache. Ein kollegialer kritischer Erfahrungsaustausch der Lehrenden in den Abteilungen und Instituten der Universitäten könnte demgegenüber eine sinnvolle "Evaluation" darstellen, welche die Lehre im ausgeführten Sinne fördert.
Da die Lebendigkeit der Lehre von der Forschungserfahrung des Dozenten abhängt, wird eine Teilhabe an Forschung seit einiger Zeit in so genannten Lehrforschungsprojekten angestrebt. Die Bezeichnung verweist schon auf Schwierigkeiten, wird doch ein Lehrforschungsprojekt im Rahmen einer Lehrveranstaltung durchgeführt. Dies erfordert, die Forschungsfrage so zuzuschneiden, dass sie im Laufe von ein bis zwei Semestern auch bearbeitet werden kann. Es ist jedoch in keiner Weise abzusehen, wann eine Forschungsfrage soweit bearbeitet ist, dass tragfähige Erkenntnisse vorliegen werden. Vor diesem Problem stehen auch alle Forschungsprojekte, die zeitlich befristet gefördert werden: die Drittmittelprojekte.
Studienabbruch - Versagen oder Erfolg?
Ein gewichtiges Ziel der Universitätsreform wird u.a. darin gesehen, die Zahl der Studienabbrecher zu verringern. Dass eine große Zahl von Studenten sich nicht aus Neugierde und Erkundungsgeist für einen Studienplatz bewirbt, ist kein Geheimnis.
Die Bachelor-Abschlüsse sollen dieser Entwicklung entgegenwirken. Denjenigen, die ihr Studium abbrechen, weil sie erkannt haben, dass es für sie nicht das Richtige ist, wird damit allerdings nahe gelegt, doch weiterzumachen: bis zum Bachelor. Wenn Studienabbrüche primär als Problem und Ergebnis schlechter universitärer Studienorganisation gesehen werden, hat das vor allem damit zu tun, dass Erfolge einer Universität heute in Absolventenzahlen gemessen werden.
Scheitern - und das bedeutet ein Studienabbruch - ist immer auch desillusionierend und damit befreiend. In den Reformbemühungen hingegen schlägt sich Angst vor allem Scheitern nieder: Was nicht zertifiziert ist, gilt nichts. Als verbürge ein Zertifikat irgendeinen beruflichen Erfolg insbesondere in Zeiten, in denen der Arbeitsmarkt unsicherer ist als jemals zuvor. Diese engstirnige, ängstliche Vorstellung von Sicherheit, deren Kehrseite immer auch Kontrolle ist, hat beträchtliche Folgen für die Universität. Der Bachelor soll, grotesk genug, sowohl berufsvorbereitend als auch generalistisch sein. Dass das ein Widerspruch in sich ist, ist schon manchen aufgefallen, hat aber keine Konsequenzen gezeitigt.
Darüber hinaus schwächen die Bachelor-Studiengänge die Disziplinen, da diese zu Einzellieferanten für Studiengänge herabgestuft und disziplininterne Auseinandersetzungen um Sinn und Unsinn des Bachelors unterlaufen werden. Soziologieabteilungen, die Nebenfachangebote für andere Studiengänge unterhalten, sind heute schon in ihrer Eigenständigkeit geschwächt. Das Existenzrecht der Nebenfachsoziologie ist nicht selten umstritten, und wie verteidigt sie sich? Mit dem verzweifelten und ohnmächtigen Hinweis auf die Unerlässlichkeit soziologischen Wissens in anderen Wissenschaften - um sich ihnen zugleich anzupassen.
Soziologie und Öffentlichkeit
Wir haben bislang dargelegt, was eine Wissenschaft und damit auch die Soziologie zu einer starken wissenschaftlichen Disziplin an der Universität macht, dass Lehre von unvoreingenommener Forschung lebt und welche Missstände teils schon anzutreffen sind, teils durch Reformen verschärft werden. Damit sollte nicht suggeriert werden, die Soziologie trage für diese Lage keine Verantwortung, und auch nicht, dass sie sich vor allem durch Hilfe von außen erneuern könne. Die Selbstverwaltung der Wissenschaft muss sich auf die Wissenschaft von innen heraus gründen, denn nur Forscher können beurteilen, welches die unerlässlichen Bedingungen für eine florierende Forschungslandschaft sind. Das macht es erforderlich, auf einen anderen Aspekt des Forschens einzugehen: die mit ihm notwendig verbundene Abstinenz von Praxis und in der Folge das Verhältnis von Soziologie und Öffentlichkeit.
Unter Soziologen wird immer wieder aufs Neue diskutiert, wie die Soziologie mehr Resonanz in und mehr Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit erhalten könne. Zufrieden wird darüber berichtet, welche Resonanz sie entgegen manchen Vorurteilen erhält, woraus geschlossen wird, sie sei für das Laienpublikum attraktiver geworden. Doch ist es die Aufgabe der Wissenschaft, sich attraktiv zu machen?
Wissenschaft wird von der Gesellschaft alimentiert, damit sie sich dem Erkenntnisfortschritt widmet. Dies geschieht, damit sie sich von der Praxis zurückziehen kann und auf eine Verwertung nicht angewiesen ist: Sie erhält dadurch einen Schutzraum, der sie von Fragen der Anwendung und Nutzung befreit. So betrachtet, ist der so genannte Elfenbeinturm - die ausschließlich "um ihrer selbst willen betriebene Wissenschaft" - eine Notwendigkeit. Das bedeutet keineswegs, dass Wissenschaftler sich Expertisen verweigern sollten. Doch wo sie als Experten Stellung nehmen, haben sie sich einer Antwort auf die Frage, wie die Welt sein soll, zu verweigern, denn diese ist politischer Natur. Dazu können sie als Bürger oder Bürgerinnen Stellung nehmen und als Intellektuelle in der Öffentlichkeit kämpfen. Als Wissenschaftler müssen sie sich einer solchen Stellungnahme enthalten, denn aus der Erkenntnis des Allgemeinen lässt sich kein Besonderes, keine Notwendigkeit ableiten.
Die Kehrseite der Zurückhaltung der Wissenschaftler, praktische Urteile zu fällen, ist ein radikales Engagement als Bürger oder Bürgerin, für das der soziologische Fachverstand hilfreich sein kann, aber nicht notwendig ist. Allzu häufig lässt sich etwa in Fernsehsendungen erfahren, wie Experten diese Grenze überschreiten und auf Basis ihrer Expertise z.B. politischen Parteien raten, welche Themen sie aufgreifen sollten, wie sie agieren müssten, um die Bürger für sich zu gewinnen.
An solchen Grenzüberschreitungen hat es auch in der Soziologie nicht gemangelt. Den an die Soziologie gerichteten Forderungen und den an sie angelegten Maßstäben ist man nicht souverän entgegengetreten. Mittlerweile wird es als Erfolg gefeiert, durch das Aufgreifen öffentlicher Themen für Kongresse und Tagungen Medienresonanz zu erreichen. Als seien diese Debatten per se ein Ausweis der Sachhaltigkeit und vor allem: des state of the art. Die Soziologie wird langfristig nur dann stark sein, wenn sie sich einerseits radikal dem Forschen widmet und sich nicht anmaßt, über die Richtigkeit praktischer Entscheidungen zu befinden. Andererseits kann sie an Stärke gewinnen, wo Expertisen angefragt werden, wenn sie sich in den Dienst der Praxis stellt, ohne sie zu bevormunden. Dann wäre sie auch in der Lage, die Freiheit der Forschung und deren Eigenlogik zu verteidigen, was in der Vergangenheit - vor allem im Hinblick auf die Universitätsreform - nicht genügend geschehen ist. Wären Reformvorschläge in eigener Sache aus der Soziologie heraus entwickelt worden, würde die gegenwärtige Reformdiskussion möglicherweise anders aussehen.
Die Zahl derer, die an der Seriosität der Soziologie zweifeln, ist groß. Beschwörungsformeln, Appelle und Aufrufe, mit denen die gesellschaftliche Bedeutung der Soziologie gepriesen wird, werden jedoch solange verhallen, wie sich diese nicht auf Forschung, Lehre und Expertise konzentriert und beschränkt. Von der Hoffnung, irgendwie aufklärerisch zu wirken, muss sie sich verabschieden, wenn sie als Wissenschaft ernst genommen werden will. Dann werden sich auch mehr Wissenschaftsjournalisten für die Forschung interessieren, darüber gut informiert berichten und einem interessierten Laienpublikum die Erkenntnisse soziologischer Forschung nahe bringen