I. Abschnitt
Mit dem von mir geprägten Begriff einer europäischen (nicht deutschen) Leitkultur als demokratischer, laizistischer sowie an der zivilisatorischen Identität Europas orientierter Wertekonsens zwischen Deutschen und Einwanderern habe ich als syrischer Migrant versucht, eine Diskussion über Rahmenbedingungen von Migration und Integration auszulösen
Zunächst sei jedoch eine Selbstverständlichkeit für diese Diskussion erwähnt: Eine ethnische Identität kann nicht erworben werden, beispielsweise kann ein Türke nicht Kurde oder ein Deutscher kein Araber werden
Was aber ist unter nationaler Identität zu verstehen? Es lässt sich hier zwischen gewachsenen und konstruierten Identitäten unterscheiden:
Die gewachsene Identität kann ethnisch-exklusiv sein - wie z. B. beim Deutschtum, Arabertum, Turktum - oder demokratisch offen wie z. B. die französische Identität des Citoyen
Konstruierte Identitäten sind sowohl in klassischen Einwanderungsländern (USA, Kanada und Australien) erforderlich als auch in Ländern der "Dritten Welt", die nach der Entkolonialisierung eine ethnisch gemischte Bevölkerung haben (z. B. Nigeria mit ca. 60 Ethnien oder Senegal mit 13 Ethnien). In den USA ist die übergeordnete und von allen geteilte Identität des Amerikaners: "color blind, ethnicity blind, religion blind"; sie basiert auf der Bejahung der Werte der American constitution und des American way of life
II. Abschnitt
In Westeuropa hat es schon im 19. Jahrhundert Einwanderung von Ost- nach Westeuropa gegeben
Anders ist die Situation unserer Gegenwart, wo die massenhafte Migration zu einem die Identität des Kontinents verändernden Prozess geworden ist
Nun ist diese z. T. dramatisch veränderte Situation in Europa der Hintergrund dafür, dass europäische Gesellschaften - also nicht nur die deutsche - sich mit der Problematik der Zuwanderung bzw. Einwanderung auseinandersetzen müssen. Dazu gehört auch, die europäische Identität neu zu bestimmen, um die Einwanderer zu integrieren. Hier ist der Unterschied zwischen denjenigen Gesellschaften in Europa von Belang, deren gewachsene Identität auf den Citoyen/Citizen bezogen ist, also nicht exklusiv ist (d. h. den Einwanderern nicht nur einen Pass, sondern auch eine Identität bietet), und solchen, die der Ethnizität verhaftet sind. Diese anderen europäischen Gesellschaften, die sich ethnisch-exklusiv definieren - wie etwa Deutschland als "Kulturnation" - können den Einwanderern keine Identität geben; sie müssen einen kulturellen Wandel vollziehen, um die Fähigkeit zu einer Integration von Einwanderern zu erlangen. Integration erfordert, in der Lage zu sein, eine Identität zu geben. Zu jeder Identität gehört eine Leitkultur!
Als in Deutschland lebender Einwanderer und Muslim möchte ich mit meinem Konzept einer europäischen Leitkultur (oder auch europäischen Identität) für Deutschland eine Grundlage zum friedlichen Miteinander, nicht Nebeneinander, zwischen Einwanderern und Deutschen schaffen. Diese Grundlage ist kulturpluralistisch
III. Abschnitt
Trotz vieler Irrwege hat die deutsche Debatte um die Leitkultur gleichermaßen bei Gegnern und Befürwortern des Konzepts zu positiv einzuschätzenden Veränderungen in den Einstellungen beigetragen. Der Begriff wurde von mir erstmals in dieser Zeitschrift 1996 geprägt und in seiner Bedeutung angesichts der Zuwanderung dargestellt
Das Problem der - oft beabsichtigten - Missverständnisse fängt damit an, dass Deutsche sich eine Leitkultur sowie die hierzu gehörige eigene kulturelle Identität versagen. Es wird unterstellt, dass Leitkultur von einer homogenen Bevölkerung ausgeht und eine "Unter-/Überordnung in der Beziehung zu den Fremden" beinhaltet. Das ist nicht korrekt. Es ist eine in allen anderen Demokratien selbstverständliche Tatsache, dass ein Gemeinwesen - gleich, ob monokulturell oder kulturell vielfältig - einen Konsens über Werte und Normen als eine Art innere Hausordnung benötigt. Dies ist die unerlässliche Klammer zwischen den in diesem Gemeinwesen lebenden Menschen, unabhängig von ihrer Religion, Ethnie oder Ursprungskultur. Diejenigen, die eine Leitkultur als Klammer zwischen Deutschen und Einwanderern ablehnen, verweisen auf die Gesetze und meinen, deren Befolgung durch Einwanderer sei ausreichend. Dies wäre praktisch eine Gleichsetzung von Verfassungspatriotismus (Sternberger und Habermas) mit einem "BGB-Patriotismus". Das ist natürlich sehr skurril. Anlässlich einer Debatte im niederländischen Leiden zu einem Projekt über Islam und islamische Migranten in Europa
Meine These einer Leitkultur wird bei der Diskussion hierzulande von dem Gedanken geleitet, dass Einwanderer durchaus eine Chance für die Deutschen sein können. Wenn Deutsche erkennen, dass ein demokratisch stabiles und funktionsfähiges Gemeinwesen sich nicht in einem Land entfalten kann, welches sich seine eigene Identität verbietet und durch zunehmende Migration ohne Leitkultur zu einem multikulturellen, d. h. wertebeliebigen - im Gegensatz zu kulturell vielfältigem - Siedlungsgebiet zerfällt, werden sie einsehen, dass eine Leitkultur im Sinne eines Wertekonsenses als Klammer zwischen ihnen und den Migranten benötigt wird. Es ist nun an der Zeit, diese Debatte ernsthaft zu führen und hierbei zwischen demokratischen und undemokratischen Werten und nicht etwa zwischen "Sauerkraut" und "Knoblauch" zu unterscheiden
Anstatt auf absurde Vorwürfe wie "Unwort des Jahres" einzugehen, möchte ich anhand von zwei Leserbriefen aus den Reihen der CDU und SPD noch einmal das derzeitige Niveau der Debatte um eine Leitkultur veranschaulichen. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hatte auf dem bisherigen Höhepunkt dieser Debatte in ihrer Ausgabe vom 29. Oktober 2000 die Seiten 180-183 meines Buches "Europa ohne Identität?" abgedruckt als einen Versuch, die Diskussion zu versachlichen. Es folgten zahlreiche Leserzuschriften, von denen keine auf den europäischen Inhalt des Begriffes - also die europäisch-zivilisatorischen Werte - einging. Besonders bemerkenswert sind die diametral entgegengesetzten Stellungnahmen von zwei hessischen Politikern. Der CDU-Politiker Heinz Daum nimmt die Leitkultur-Debatte unter Berufung auf meinen Beitrag zum Anlass, zu einem Wahlkampf aufzurufen, "um Roten und Grünen die multikulturellen Flausen auszutreiben". Dagegen schreibt der SPD-Politiker Kadelbach auf derselben Leserbriefseite: "Eine deutsche Leitkultur . . . knüpft offen und schonungslos an den gewalttätigen Imperialismus von Wilhelm II. an . . . So wurde für die Nazis der gesellschaftlich-kulturelle Boden bereitet . . . Das ist die deutsche Leitkultur."
Bei meinem Konzept von Leitkultur geht es mir jedoch darum, eine wildwüchsige Zuwanderung in eine an den Bedürfnissen des Landes orientierte Einwanderung zu verwandeln und diese Einwanderer im Rahmen einer europäischen Identität zu integrieren, d. h. nicht - diese Unterscheidung ist von elementarer Bedeutung -, sie zu assimilieren. Genau darin besteht das Erfordernis einer rationalen Bewältigung unbestreitbar vorhandener Unterschiede und zugleich der Schaffung eines Konsenses über zentrale Normen und Werte hierzulande. Auch erkenne ich an, dass Einwanderung Grenzen hat sowie die Tatsache, dass das aufnehmende Land eine - wenngleich beschädigte - nationale Identität besitzt
In der deutschen Debatte empfand ich es darüber hinaus als sehr beunruhigend, dass sogar anerkannte Politikwissenschaftler wie Dieter Oberndörfer sich unter der Überschrift "Vom Unsinn der Integration" zu Wort meldeten
Im Kontrast dazu erkennt in einer Verbandsdemokratie eine Gewerkschaft etwa des DGB oder die Evangelische Kirche die Werte des Grundgesetzes an; in einer islamischen Parallelgesellschaft hingegen - das weiß ich als Muslim - herrschen andere Werte. Ein Ziel der Islamisten ist, die Schari'a, die sich zum Grundgesetz wie Feuer zu Wasser verhält, gelten zu lassen. Das ist kein kultureller Pluralismus, sondern der Sieg der Wertebeliebigkeit. Nur wer dies nicht bedenken will, kann behaupten, "tückisch ist die Forderung nach Integration".
Eines der Haupthindernisse für die erfolgreiche Integration von Migranten in Deutschland besteht in der nach wie vor ethnischen Bestimmung des Bürgers, die sich z. B. vom französischen Verständnis des Citoyen unterscheidet. Dieses Denken gilt es zu entromantisieren, was am einfachsten dadurch gelingen könnte, dass wir das Thema in den europäischen Kontext einordnen. Das von mir entwickelte Konzept der Leitkultur hat absolut nichts mit Deutschtum oder irgendwelchen deutschen Sonderwegen zu tun. Statt dessen geht es um eine Errungenschaft des okzidentalen Europa, die Jürgen Habermas "kulturelle Moderne" nennt
Mit dieser Bestimmung des Begriffs der Leitkultur wird aber auch deutlich, dass ein wertebeliebiger Multikulturalismus für mich nicht als Alternative in Betracht zu ziehen ist. Zivilisatorische Selbstverleugnung mag gut gemeint sein, ist aber keine Lösung, ebenso wenig wie ethnisch-religiöse Parallelgesellschaften die Alternative zu einer ausschließlich ethnischen Nation sein können. Pluralismus entspricht gerade nicht dem Prinzip des "anything goes", das Europa im Zeitalter der Migration und einer kulturell zunehmend vielfältigen Bevölkerung in Konflikt stürzen würde. Pluralismus bezeichnet vielmehr ein Konzept, nach dem Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen zusammenleben und das Recht auf Anderssein und Andersdenken besitzen, sich gleichzeitig aber zu gemeinsamen Regeln - im Besonderen der gegenseitigen Toleranz und des gegenseitigen Respekts - verpflichten. Dies erfordert ein "Rethinking of Multiculturalism" und eine Versöhnung von "Religious Commitment and Secular Reason"