I. Der undemokratische Oktroi der Grundrechtscharta
Die Staats- und Regierungschefs hatten in Köln am 3. und 4. Juni 1999 und in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 beschlossen, dass ein Konvent eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union erarbeiten solle. In weniger als einem Jahr hat dieser den Entwurf im Auftrag der führenden Politiker Europas erarbeitet. Mitglieder des Konvents waren je ein persönlich Beauftragter der fünfzehn Staats- und Regierungschefs, je zwei Mitglieder der Parlamente der fünfzehn Mitgliedstaaten, fünfzehn Mitglieder des Europäischen Parlaments und je ein Mitglied der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs. Roman Herzog wurde mit dem Vorsitz des Konvents betraut. Kein Mitglied des Konvents ist für die Erarbeitung einer Grundrechtscharta vom Volk gewählt worden.
Ohne Rücksicht auf die Anforderungen eines demokratischen Verfassungsgebungsverfahrens sind die Terminierungen wieder einmal die entscheidenden Vorgaben für das Verfahren. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Notwendigkeiten, die sich aus der für die große Sache unabdingbaren Beteiligung der Menschen und Völker Europas ergeben. Eine (vermeintliche) Avantgarde von Integrationisten meint das Recht zu haben, den Menschen und Völkern Europas ihren Text oktroyieren zu dürfen, obwohl dieser Text das gemeinsame Leben in Europa langfristig bestimmen, ja Europa schweren Schaden zufügen wird. Der Entwurf ist in keiner Weise ausgereift. Ihm fehlt nicht nur der philosophische Zuschnitt, sondern auch die rechtsdogmatische Durchdringung. Er verbirgt kleine Politik, die dem Zeitgeist verpflichtet ist. Handwerklich ist die Charta nicht gerade das Werk von Meistern, sondern macht eher den Eindruck von Hilflosigkeit.
Die Proklamation der Charta durch den Europäischen Rat verschafft dieser keine Rechtsgeltung, aber eine politische Verbindlichkeit. Falls es zur völkervertraglichen Verbindlichkeit der Charta kommt, um diese in das Primärrecht der Europäischen Union einzufügen, werden die Legislativorgane der Mitgliedstaaten, vor allem die Parlamente, zwar eine rechtliche, aber kaum eine politische Möglichkeit haben, die Charta zu ändern. Der Erfahrung nach sind die Volksvertretungen auf die Integrationsentwicklung ohne wirklichen Einfluss. Sie können nur akklamieren und damit den Verträgen eine demokratische Legitimation geben, die über die Form nicht hinausgeht, also keine demokratische Substanz hat. Die Integrationspolitik ist Regierungssache. So werden den Europäern auch die Grundrechte von ihren Staats- und Regierungschefs verordnet. Dementsprechend ist der Entwurf auch gegen die Bürgerlichkeit der Bürger gerichtet. Vor allem gesteht er den Menschen die Freiheit nicht wirklich zu. Die Obrigkeit gewährt ihren Untertanen Freiheiten und Rechte und verpflichtet sich Grundsätzen. Dass diese der Menschheit des Menschen gemäß sind, obwohl die Menschen, die es angeht, bei der Erarbeitung des Textes übergangen wurden, ist kaum zu erwarten, aber anhand der Texte zu prüfen.
Allein schon das Verfahren, in dem die Charta der Grundrechte für die Europäische Union vorbereitet worden ist und durchgesetzt wird, nimmt ihr die freiheitliche, also demokratische, Legitimation. Ein völkerrechtliches Vertragsverfahren, welches die Zustimmung der Legislative zu dem Grundrechtsvertrag voraussetzt (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG), wird diesen Mangel nicht (mehr) heilen, vor allem weil die repräsentativen Legislativorgane wegen der Parteienoligarchie nicht mehr demokratisch zu legitimieren vermögen, jedenfalls nicht in Deutschland
II. Die Grundrechtslage in der Europäischen Union
Nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG darf Deutschland nur an der "Entwicklung der Europäischen Union zur Verwirklichung eines vereinten Europas" mitwirken, welches u. a. "einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen gleichen Grundrechtsschutz gewährleistet". Sowohl das Bundesverfassungsgericht in den Solange-I- und Solange-II-Entscheidungen und vor allem im Maastrichturteil als auch der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung haben entschieden, dass die europäischen Rechtsakte an den Grundrechten der europäischen Mitgliedstaaten, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben, überprüft werden und dass der Wesensgehalt der Grundrechte geachtet wird
Zur Achtung der Grundrechte ist die Europäische Union durch Art. 6 Abs. 2 EUV verpflichtet. Der Grundrechtsschutz gegenüber der integrierten Ausübung der Staatsgewalten der Völker ist somit durch den "kooperativen Grundrechtsschutz" zwischen den mitgliedstaatlichen Grundrechtsgerichten, vor allem den Verfassungsgerichten, und dem Europäischen Gerichtshof der Rechtslage nach gewährleistet
Der grundrechtliche Stand soll denn auch nach Art. 53 des Entwurfs nicht eingeschränkt werden. Vielmehr wird er durch Punkt fünf der Präambel bekräftigt und es soll der Schutz der Grundrechte nach Punkt vier der Präambel dadurch gestärkt werden, dass die Grundrechte "in einer Charta sichtbarer gemacht werden". Der europarechtliche Menschenrechtsgehalt der Grundrechte wird durch Punkt fünf der Präambel und durch Art. 53 akzeptiert. Das deutsche Volk bekennt sich jedoch in Art. 1 Abs. 2 GG zu "den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Dieses Bekenntnis ist nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich. Die Grundrechtsformulierungen des Entwurfs bleiben aber hinter internationalen Menschenrechtserklärungen, insbesondere hinter Menschenrechten der zweiten und dritten Generation, den sozialen und den ökologischen Rechten, zurück. Beispielsweise wird im Gegensatz zu Art. 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) kein Recht auf Eigentum, das richtigerweise auch aus Art. 14 Abs. 1 GG folgt
Angesichts dessen, dass die Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bisher keine verbindliche Textgrundlage hat, wird die Charta sich zum maßgeblichen Text zunächst der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und dann auch der Gerichte der Mitgliedstaaten entwickeln; denn die Charta soll nach Art. 51 Entwurf für "die Organe und Entscheidungen der Union", aber auch für die Mitgliedstaaten "bei der Durchführung des Rechts der Union" gelten. Das "Recht der Union", die vielen Richtlinien und Verordnungen, vor allem aber das primäre Vertragsrecht, etwa die wirtschaftlichen Grundfreiheiten
III. Die Grundrechte als Erkenntnisse der praktischen Vernunft
Die Menschenrechte sind gewissermaßen wie die Freiheit mit dem Menschen geboren. Die Grundrechte sind die gesetzliche Form der Menschenrechte, jedenfalls der Wesensgehalt der Grundrechte
Dem Entwurf jedoch fehlt die philosophische Fundierung, welche die Aufklärung auf der Grundlage des Christentums geleistet hat und die bestens in der Rechtslehre Kants zu studieren ist. Die entworfene Charta meint, mit ihrem ökonomistischen Liberalismus Europa das Recht für das 21. Jahrhundert geben zu können. Im 19. Jahrhundert war der konstitutionalistische Liberalismus ein großer Schritt zur Freiheit. Heute ist diese Unzeitigkeit nicht zukunftsweisend, denn das monarchische Prinzip ist Vergangenheit. Heute nutzt der Liberalismus den Interessen der Unternehmen. Er macht den Bürgern die Bürgerlichkeit streitig, deren Sache der Staat ist. Res publica res populi. Den Untertanen gesteht er freilich eine erträgliche Obrigkeit zu.
Die Rechtslehre ist schon aus Gründen der philosophischen Erkenntnis der Tradition der Menschenrechte verpflichtet, welche die Erkenntnisse der Menschheit des Menschen zur Sprache bringen; es ist Hybris, Grundrechtstexte schreiben zu wollen, wenn diese nicht auf langer Erfahrung oder zumindest auf ausgiebiger Erörterung beruhen. Der Grundrechtsdiskurs muss alle Menschen, deren Leben von den Grundrechten bestimmt werden soll, und alles Wissen, welches über das gemeinsame Leben der Menschen besteht, einbeziehen. Praktische Vernunft setzt theoretische Vernunft voraus. Republikanische Politiker hätten ihre Texte bestmöglich der Öffentlichkeit zur Kritik unterbreitet, um Hilfe zu erbitten, nicht aber die Auseinandersetzung um die große Politik allein schon durch den Terminplan so gut wie unmöglich gemacht. Ein demokratisches Verfahren ist ein Verfahren bestmöglicher Rechtserkenntnis. Die Öffentlichkeitsarbeit des Konvents hatte allenfalls Alibifunktion - abgesehen davon, dass es eine europäische Öffentlichkeit, eine wesentliche Voraussetzung eines europäischen Verfassungsstaates, nicht gibt. Wie wenig der Entwurf bedacht war, zeigen die schnellen, zum Teil bedeutsamen Änderungen, welche der Entwurf vom 28. Juli in den Texten vom 21. und vom 28. September gefunden hat. Die Menschen und Völker werden durch die Charta, deren Verabschiedung ihr, wie die Grundrechtsgeschichte erweist, langdauernden und schwer abänderbaren Bestand geben wird, eingeengt. Das Procedere zeigt erneut, dass die Politiker Europas in ihrem Integrationseifer keinerlei demokratisches Ethos wahren.
Ein menschenrechtlicher Grundrechtstext muss ein Text großer Worte sein, welche den großen Erkenntnissen der Menschheit des Menschen genügen. Praktizistischer Minimalismus ruiniert eine Charta von Grundrechten. Die Alltagspraxis hat viel Übung darin, die großen Texte auf die Alltagsfragen herunterzubrechen. Aber ein Grundrechtstext darf kein Verwaltungsgesetz sein. Vielmehr soll er, gerade wenn er identitätstiftende Symbolik entfalten will, ein Manifest der großen Werte sein, die angemessen zur Sprache zu bringen sind. Dem widerspricht schon die Menge der Sätze, die der Entwurf benötigt hat, um die Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Charta zu formulieren. So viele Grundsätze gemeinsamen Lebens hält die Rechtsordnung nicht bereit. Wer die Praxis der Verfassungsgerichte kennt, weiß, dass nur wenige Grundsätze die Rechtsordnung bestimmen. Vorbildlich ist wiederum die Erklärung von 1789. Die Verfassung besteht aus den Rechtsprinzipien, welche die Menschheit des Menschen ausmachen, welche mit dem Menschen geboren sind, vor allem die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber auch aus dem in einem freiheitlichen Gemeinwesen apriorischen Prinzip des Eigentums. Wer außerdem das Leben und die Gesundheit, das elementare Eigentum des Menschen, und das Recht der freien Rede schützt, hat schon alles Wesentliche getan.
IV. Liberalistische statt republikanischer Konzeption
Im Punkt 2 Satz 1 der Präambel kennt der Entwurf der Charta auch die "Freiheit", welche neben den Grundsätzen der "Würde des Menschen", "der Gleichheit und der Solidarität", die zu Recht als "unteilbar und universell" bezeichnet werden, neben den "Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit" genannt wird. In Satz 2 dieses Punktes stellt die Charta "die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet". "Anerkannt" werden nach Punkt sieben der Präambel jedoch "die nachstehend angeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze". Nach dem Kapitel I über die "Würde des Menschen" folgt demgemäß das Kapitel II zu den "Freiheiten". Im Kapitel III wird die "Gleichheit", im Kapitel IV die "Solidarität" und schließlich im Kapitel V und Kapitel VI werden die "Bürgerrechte" und die "Justiziellen Rechte" geschützt. Auch die so genannten Freiheiten des Kapitel II sind meist als "Rechte" bezeichnet. Es sind im Großen und Ganzen die klassischen liberalen Grundrechte der ersten Generation, nicht aber die politische Freiheit, nicht die Freiheit als Autonomie des Willens
Der Entwurf der Charta anerkennt die politische Freiheit in dem Begriff der Willensautonomie, der allein einer Republik entspricht, allenfalls in Punkt 2 der Präambel und verwehrt dieser damit den Grundrechtsschutz. Freilich ist die politische Freiheit durch das Menschenwürdeprinzip geschützt. In den Gundrechtsformulierungen vermag der Entwurf die "Freiheiten" und "Rechte" nicht zu unterscheiden. Die Freiheit ist mit dem Menschen geboren. Sie ist das Urrecht des Menschen, zu handeln, wenn er anderen nicht schadet, wenn er also die Freiheit aller anderen Menschen achtet. Die äußere Freiheit ist eine Einheit mit der inneren Freiheit. Die äußere Freiheit ist die "Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür"
Die Freiheit findet ihre Wirklichkeit in der allgemeinen, dem Recht gemäßen Gesetzlichkeit
"Freiheiten" und "Rechte" identifiziert ein Liberalismus, welcher die politische Freiheit des Menschen nicht zur Wirkung kommen lassen will, sondern den Staat als Einrichtung der Herrschaft missversteht, der Freiheiten vornehmlich als "Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat" (BVerfGE 7, 198 (204))
Freiheit, Grundrechte, Menschenrechte, Grundfreiheiten, Freiheiten, Rechte, Ansprüche sind in einer inkonsistenten Begrifflichkeit nebeneinander gestellt, welche Verwirrung bei den Interpreten und in der Praxis stiften wird. Schwer zu durchschauen, aber sicher folgenreich stuft der Entwurf mit den Verben "garantieren", "schützen", "einhalten", "gewährleisten", "anerkennen und achten", "das Recht auf Achtung haben", "achten", "gewähren können", "niemand darf . . . werden", "verboten sein", "das Recht haben", "frei sein", "die Freiheit haben", "Freiheit anerkennen", "Anspruch haben", "Anspruch auf Schutz haben", "das Recht auf Zugang haben", "sicherstellen", "besitzen" (das Wahlrecht) die Schutzintensität der Freiheiten, Rechte und Grundsätze ab. Ganz unklar bleibt, aus welchen "Grundrechten" überhaupt subjektive Rechte, also Klagemöglichkeiten der Unionsbürger folgen sollen. Die Grundsätze, mit denen etwa der Umweltschutz (Art. 37) und der Verbraucherschutz (Art. 38) sichergestellt werden, gehören wohl nicht dazu. Elementare Prinzipien wie "die akademische Freiheit" (Art. 13) und die "Freiheit der Medien" (Art. 11 Abs. 2) werden lediglich "geachtet", nicht etwa gewährleistet oder gar garantiert oder wenigstens als Recht anerkannt. Ob differenzierte Gesetzesvorbehalte der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten bestehen oder ob in Art. 52 Abs. 1 ein allgemeiner Gesetzesvorbehalt gemacht ist, ist zweifelhaft. Die häufigen grundrechtsimmanenten Gesetzesvorbehalte sprechen dafür, dass die vorbehaltlosen Grundrechte wie die Rechte auf Leben und körperliche und geistige Unversehrtheit uneinschränkbar sein sollen. Freiheiten, die nur gedacht werden, sind ohnehin, auch ohne Gesetzesvorbehalt, nicht wirkungsstark. Nach der in Deutschland praktizierten allgemeinen Grundrechtslehre kann ein vorbehaltloses Grundrecht (nur) zugunsten anderer Gemeinwohlbelange eingeschränkt werden, welche ihrerseits den Schutz des Verfassungsgesetzes genießen
V. Soziale Rechte
Während die liberalen Rechte in den Kapitel I, II und V eine weitgehende, der Grundrechtstradition verpflichtete Aufnahme in den Entwurf gefunden haben - freilich mit beunruhigenden Einschränkungen wie in Art. 13, der die Freiheit der Lehre, die keinesfalls durch die in der neuen Fassung aufgenommenen Achtung der "akademischen Freiheit" hinreichend geschützt ist, nicht nennt -, hat der Entwurf der Charta die sozialen Grundrechte der zweiten Generation weitgehend verschwiegen, obwohl das Kapitel IV die Überschrift "Solidarität" trägt. Das Sozialprinzip als das Prinzip der Brüderlichkeit
Vor allem fehlt das Recht auf Arbeit, welches in dreizehn Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (außer Deutschland und Österreich) genannt ist, das die meisten Landesverfassungen Deutschlands kennen und das bei richtiger Lesweise sowohl aus dem Sozialprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG als auch der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG folgt
Zur Anerkennung der Arbeitnehmer als Miteigentümer der Unternehmen schreitet die Charta nicht fort, obwohl die Unternehmen genauso das Eigentum der Arbeitnehmer sind wie das der Anteilseigner
Die Arbeitnehmer werden in dem Kapitel IV, das "Solidarität" verspricht, nur in kleinen Rechten geschützt. Sie sollen human behandelt werden, nämlich Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, freilich nur "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" (Art. 30), Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen, auf Begrenzung der Höchstarbeitszeiten, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub (Art. 31) und auf Mutterschafts- und Elternschutz, um das Familien- und das Berufsleben in Einklang bringen zu können (Art. 33 Abs. 1), haben. Art. 32 verbietet die Kinderarbeit und schützt die Jugendlichen vor allem vor "wirtschaftlicher Ausbeutung".
Dem entspricht es, dass auch das "Eigentumsrecht" des Art. 17 auf den Bestands- und Gebrauchsschutz des Eigentums reduziert wird, während die Menschenrechtstexte (Art. 17 AEMR) und, wiederum bei richtiger Lesweise, auch das Grundgesetz ein Recht auf Eigentum gewährleisten
VI. Auf dem Weg zum Verfassungsstaat Europäische Union
Ein Grundrechtstext ist klassischer Bestandteil eines Verfassungsgesetzes, welches ein Volk zum Staat verfasst. Außerdem regelt ein Verfassungsgesetz die Ziele, Aufgaben und Befugnisse eines Staates und die Organisation des Staates, welche gewaltenteilig sein muss, um einer Verfassung der Freiheit und des Rechts zu genügen. Die organisationsrechtliche Verfassung (im funktionalen Sinne) enthalten die primärrechtlichen Verträge der Union, vor allem der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft. Dennoch sind diese Verträge im Gegensatz zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs und einer früheren, inzwischen nicht wiederholten Äußerung des Bundesverfassungsgerichts keine Verfassungsgesetze, eben weil sie die Europäische Union nicht zu einem Staat, einem Bundesstaat
Mit der entworfenen Charta der Grundrechte (letzter Entwurf vom 28. September 2000) wird die Europäische Union ihre existentielle Staatlichkeit vertiefen. Im Laufe der Zeit sind die Europäischen Gemeinschaften zum Staat im existenziellen Sinne entwickelt worden
Die Charta der Grundrechte verfolgt scheinbar nur den Zweck, der Existenz eines europäischen Staates ein weiteres Symbol zu verleihen. In Wahrheit will man aber einen weiteren Schritt auf dem Wege zu einer existenziellen Staatlichkeit der Europäischen Union gehen, der seit Jahrzehnten mit den Mitteln des Völkerrechts, aber weitestgehend ohne die Völker selbst zu fragen, beschritten wird. Durch ein Verfassungsgesetz soll die existenzielle Staatlichkeit der Union weiterentwickelt werden, indem in einer Regierungskonferenz nach Nizza die Gemeinschaftsverträge einschließlich des letztlich angestrebten Grundrechtsvertrages zum Verfassungsvertrag zusammengefasst, jedenfalls als ein einen Verfassungsstaat begründendes Verfassungswerk ausgegeben werden.
Die existenzielle Staatlichkeit der Europäischen Union können jedoch nur die Völker der Mitgliedstaaten ermöglichen, weil sie, jedes Volk für sich, die eigene existenzielle Staatlichkeit (seine Souveränität) aufgeben müssen. Das setzt Verfassungsreferenden der Völker voraus. Ein Verfassungsgesetz für Europa bedarf einer Vorbereitung durch eine eigens für diese Aufgabe von allen Unionsbürgern gewählte europäische Nationalversammlung. Durch diese Wahl würden sich die Europäer zu einem Staatsvolk konstituieren. Über das Verfassungsgesetz müsste schließlich das europäische Volk abstimmen. Die gegenwärtigen Vertreter der mitgliedstaatlichen Völker in den Regierungen und Parlamenten haben weder die Aufgabe noch gar die Befugnis, die Union zu einem existenziellen Staat zu entwickeln. Das "vereinte Europa" im Sinne des deutschen Integrationsprinzips (Präambel, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG) ist eine Union als Staatenverbund