I. Fit für die Osterweiterung?
Die Europäische Union ist ein Produkt aus Erweiterung und Vertiefung. Seit Bestehen der Montanunion im Jahre 1951 hat sich ihre Mitgliederzahl in drei Beitrittswellen kontinuierlich vergrößert, wobei parallel dazu, wenn auch zeitlich versetzt, Integrationsschritte in den unterschiedlichsten Politikfeldern stattgefunden haben. Auch wenn in dieser Zeit manch eine Supranationalisierung hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückgeblieben ist, so lesen sich die ersten 40 Jahre der EU dennoch als Erfolgsgeschichte. Die Ideen von einer Friedens-, Wohlfahrts-, Werte- und Rückversicherungsgemeinschaft waren so stark, dass manch nationaler Egoismus hinter supranationale Interessen zurückgestellt wurde. Unter diesen Vorzeichen war es der "alten EU" möglich, Erweiterung und Vertiefung miteinander zu vereinbaren
Seit 1989 steht die EU vor einer Vielzahl neuer Herausforderungen, die sich durch fünf zentrale Bereiche beschreiben lassen und die erneut im Spannungsfeld von Erweiterung und Vertiefung stehen.
Erweiterung: Mit dem demokratischen Umbruch in Osteuropa klopfen die Staaten des ehemaligen Ostblocks an die Pforte der EU. Eine Erweiterung um die Länder des ehemaligen Ostblocks würde jedoch die Dimension sämtlicher bisheriger Erweiterungsrunden übersteigen. Eine "konsequent" nach Osten ausgedehnte Union hätte 35 und nicht mehr 15 Mitglieder. Es gilt dabei, die Länder bei ihrem Übergang zur Demokratie nachhaltig zu unterstützen und zugleich die mit einer Neuaufnahme erwarteten Probleme für die EU-Staaten zu lösen
Institutionelle Reformen: Auch ohne eine Erweiterung ist die Dysfunktionalität und Selbstblockade der alten EU in zentralen institutionellen Fragen unübersehbar. Insbesondere die Entscheidungsmechanismen im Europäischen Rat sowie im Ministerrat verhindern immer wieder Problemlösungen in zentralen Politikbereichen (Steuerrecht, Industrie-, Kultur, Regional- und Sozialfonds, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik). Was man jedoch mit 15 Mitgliedern nicht schafft, wird mit 20 oder sogar 35 wohl kaum umzusetzen sein. Ähnlich große Probleme, die sich erneut durch eine Erweiterung um ein Vielfaches potenzieren würden, finden sich in der derzeitigen Organisation und Finanzierung der Agrar- und Strukturfonds. Die entstehenden Mehrkosten durch eine Erweiterung würden den EU-Haushalt in den Ruin treiben.
Demokratisierung: Eng verknüpft mit den institutionellen Defiziten ist das bestehende Demokratie- und Legitimationsdefizit der alten EU, wie es sich z. B. im sinkenden Interesse der Bürger an der EU (Stichwort Wahlbeteiligung) zeigt. Für viele der derzeit 375 Mio. EU-Europäer ist es nicht mehr nachvollziehbar, dass 15 Präsidenten und Premiers Entscheidungen von größter Tragweite treffen und die europäische Zivilgesellschaft dabei kaum ein Mitspracherecht hat. In diesem Zusammenhang ist auch die fehlende politische Bedeutung des Europäischen Parlamentes zu nennen, das zwar in einigen Politikbereichen seit dem Amsterdamer Vertrag aufgewertet wurde, im Kern bleiben die Mitgliedstaaten jedoch die "Herren der Verträge"
Gemeinsame Außenpolitik: Seit 1989 sind Nationalismus und kriegerische Auseinandersetzungen nach Europa zurückgekehrt, wie man sie zuvor nur noch aus Geschichtsbüchern kannte. Angesichts des Bosnien- und Kosovokrieges wurde die Handlungsschwäche der EU offensichtlich. Glaubte der luxemburgische Außenminister Jacques Poos noch am Vorabend des Jugoslawien-krieges, "die Stunde Europas hat geschlagen", so entpuppte sich der "ökonomische Riese als politischer Pygmäe" (Michael Gorbatschow)
Verwirklichung der ökonomischen Projekte: Hinzu kommt die Verwirklichung des Binnenmarktes und der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) unter den Bedingungen der Globalisierung. Die anhaltende EURO-Krise zeigt, dass auch dieser Gemeinschaftsbereich, der gemeinhin als der am weitesten fortgeschrittene gilt, noch lange nicht wirklich stabil ist
Die aufgeführten zentralen Herausforderungen (Erweiterung, institutionelle Reformen, Demokratisierung, Gemeinsame Außenpolitik und die Verwirklichung der ökonomischen Projekte) zeigen deutlich, dass die EU in Zukunft vor großen Aufgaben steht. Das Kernproblem scheint dabei in einem "Zwang zur Parallelität" zu liegen. Alle Probleme müssen gemeinsam und am besten umgehend gelöst werden. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Ende des Kalten Krieges fielen jedoch einige der wichtigsten Punkte weg, die den "Gemeinschaftskitt" der alten EU ausgemacht hatten und als Motor zur Zusammenarbeit wirkten: Heute besteht kaum noch eine Notwendigkeit, als "Bollwerk" der westlichen Demokratie näher aneinander zu rücken, von Deutschland geht keine Gefährdung mehr aus, genauso wenig muss man eine kriegerische Auseinandersetzung innerhalb Westeuropas oder mit den östlichen Nachbarn fürchten. Auch wenn Europa seit 1989 vor der historischen Möglichkeit steht, in Frieden, Freiheit und Wohlstand vereint zu werden, so besteht dennoch die Gefahr, dass das Zusammenspiel von Erweiterung und Vertiefung scheitern könnte.
II. Zurück nach Europa?
Welchen Charakter die EU im 21. Jahrhundert haben wird, hängt im Wesentlichen davon ab, wie die Erweiterung nach Osten bewältigt wird. Aus diesem Grund sollen die mit der Erweiterung verbundenen Herausforderungen im Folgenden im Mittelpunkt stehen.
Die positiven Gründe für eine Osterweiterung aus Sicht der EU scheinen evident. Es geht um Sicherheit und Wohlstand in ganz Europa, um die Unterstützung der Transformation der osteuropäischen Reformstaaten und wesentlich auch um die Erschließung neuer Märkte. Und dennoch, gerade aus westeuropäischer Perspektive wird man den Eindruck nicht los, dass man den Erweiterungsprozess eher widerwillig verfolgt. Die Problembeschreibungen erscheinen gigantisch, die bisherigen "Reformschritte" (Amsterdamer Vertrag, Agenda 2000 und jüngst der Gipfel in Nizza) sind jedoch eher bescheiden
Der bisherige "erweiterungspolitische Schlingerkurs" der EU hat daher unkontrollierbare Konsequenzen, die sich exemplarisch am Beispiel der Tschechischen Republik verdeutlichen lassen: Tschechien gehört neben Polen, Ungarn, Estland, Slowenien und Zypern zu den Kandidaten, die in einer ersten Osterweiterungsrunde bis spätestens 2006 aufgenommen werden sollen
Die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt sind jedoch an eine Reihe politischer und vor allem wirtschaftlicher Kriterien ("Kopenhagener Kriterien") gebunden, die sich am EU-Standard orientieren. Gefordert wird ein weit vorangeschrittener demokratischer Konsolidierungsstand, also stabile staatliche Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte. Zudem wird eine weitreichende wirtschaftliche Reform in Richtung Marktwirtschaft vorausgesetzt sowie die Fähigkeit der nationalen Volkswirtschaft, dem Wettbewerbsdruck der EU standzuhalten. Schließlich erwartet man, dass der bisherige "gemeinsame Besitzstand" (aquis communautaire) der EU auch von den Beitrittskandidaten übernommen wird.
Insbesondere bei der Forderung nach einer stabilen, konsolidierten Demokratie und der erfolgreichen Einführung der Marktwirtschaft ergibt sich aufgrund der EU-Anforderungen ein "Circulus vitiosus". Das "Dilemma der Gleichzeitigkeit" wird nicht dadurch entschärft, dass eine bedingungslose Unterstützung von Seiten der EU angeboten wird - also eine sofortige Aufnahme -, sondern sogar noch verschärft, da man einen Beitritt erst dann in Aussicht stellt, wenn man den Kraftaufwand der gleichzeitigen Einführung und Konsolidierung von Marktwirtschaft und Demokratie bewältigt hat. Der externe, die Konsolidierung in Tschechien und den anderen mittelosteuropäischen Reformstaaten unterstützende Einfluss einer raschen Integration in die EU ist somit nur sehr bedingt gegeben.
Hinzu kommt, dass der Erweiterungsprozess nicht dynamisch verstanden wird. "Die beitrittswilligen Länder haben bedingungslos die EU-Normen zu übernehmen, eine Aussicht, die bei vielen Menschen in Osteuropa nicht gerade Begeisterung auslöst, denn viele hatten unter der Rückkehr nach Europa nicht einfach nur eine Erweiterung des Bestehenden verstanden. Sie hatten einen Prozess erwartet, in den beide Seiten etwas einzubringen haben."
Aber auch die konkrete Akzentuierung der Erweiterungsstrategie beinhaltet eine Reihe von Problemen, die sich zum Teil kontraproduktiv auf die Beitrittsvorbereitung der Länder, aber auch auf den Charakter der bestehenden Union auswirken. So empfiehlt die Kommission in ihrem "composite paper" die kurzfristige Übernahme jener EU-Normen, die den Beitrittsländern eine möglichst rasche Beteiligung am Binnenmarkt erlauben sollen. Für die Übernahme des acquis in den Bereichen Umwelt, Energie, Infrastruktur sollen dagegen längere Übergangsfristen gelten. Man konzentriert sich aus diesem Grund in den regelmäßig erscheinenden "Berichten über die Fortschritte jedes Bewerberlandes auf dem Weg zum Beitritt" auf diese "Binnenmarktkriterien" und kommt dabei zum Teil zu ernüchternden Ergebnissen
Zudem gibt es immer wieder Anzeichen dafür, dass man sich von Seiten der EU mit der Osterweiterung durchaus Zeit nehmen möchte. Die Kopplung der EU-internen Reformen an die Osterweiterung (Agenda 2000) und ihre nur schleichende Realisierung sind Ausdruck eines neuen westeuropäischen Desinteresses, das sich nach der Anfangseuphorie eingestellt hat. Der Reformgipfel unter französischer Ratspräsidentschaft in Nizza sollte diesbezüglich einen Durchbruch erzielen, nach Nizza sollte die EU der 15 auf die bevorstehende Erweiterung vorbereitet sein. Auch wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Nizza verkündete: "Wir sind aufnahmefähig", so scheint dennoch offensichtlich, dass "die 15 Regierungen . . . eifrig jedes (vermeintliche) nationale Interesse gegen allerlei (vermuteten) Unbill aus Brüssel [verteidigten] - und vergaßen ihren Auftrag: die fragile Maschinerie der Brüsseler Institutionen für die Ost- und Südosterweiterung zu präparieren"
Zwei für die Erweiterung wichtige institutionelle Neuerungen standen mehr oder weniger zur Debatte: zum einen die Einführung von Mehrheitsregeln für Abstimmungen im Ministerrat und eine damit einhergehende Neugewichtung der Stimmen der Länder, zum anderen die Neuakzentuierung der EU-Kommission
Was aber mindestens so schwer wiegt wie die wenig weitgehenden Kompromisse ist der atmosphärische Eindruck, den der EU-Gipfel hinterlässt. Die zum Teil vehement artikulierten Eigeninteressen der derzeitigen EU-Staaten, wie der gesamte Gipfel, wurden in den Beitrittsländern ernüchternd aufgenommen. So titelte die liberale tschechische Tageszeitung "Lidové Noviny" nach Nizza: "Das Treffen in Nizza ist für den Westen eine Enttäuschung. Die Funktionsfähigkeit der EU hat verloren, die Kandidatenländer haben nur wenig dazugewonnen."
Neben den Signalen der Regierungschefs und EU-Institutionen zeigt sich auch ein sinkendes Interesse der EU-Bevölkerung. Einer Umfrage des Eurobarometers (Erhebung April 2000, Publikation Oktober 2000) in Westeuropa zeigt, dass lediglich 27 Prozent der EU-Bevölkerung glauben, die Aufnahme von neuen Mitgliedern sollte eine Priorität in der Politik der EU haben, 60 Prozent sehen diese Notwendigkeit nicht. Ende 1999 waren es nur unbedeutend mehr (28 Prozent). Der Favorit für eine baldige Aufnahme in die EU ist in den Augen der Westeuropäer Malta (49 Prozent), gefolgt von Ungarn (47 Prozent)
III. Europa: Nein Danke!
Für die Beitrittskandidaten hinterlassen die letzten Jahre der "EU-Heranführungsstrategie" einen bitteren Nachgeschmack. Fast schon resignierend wirken die Worte des polnischen Außenministers Bartoszewski: "Polen ist bis Ende 2002 sprungbereit, aber ob und wohin wir springen werden, wissen wir immer noch nicht."
Diese "europaskeptische Haltung" der Bevölkerung ("euroskepticismu")
Westeuropa, d. h. die bisherige Union der 15, darf sich mit einer solchen Entwicklung, die keinesfalls nur tschechienspezifisch ist, nicht abfinden. Es steht zuviel auf dem Spiel. Die erwartungsvolle Stimmung, die sich nach der Vergrößerung der Runde der Beitrittskandidaten eingestellt hatte, ist inzwischen der Enttäuschung über Nizza gewichen. Es fehlt an Signalen, die zeigen, dass eine schnelle und konsequente Reform der EU-Institutionen angegangen wird, denn ein solches Signal würde der Ernsthaftigkeit der Absicht wesentlichen Nachdruck verleihen. Letztlich ist die Erweiterung der EU eines der effektivsten Mittel, die Konsolidierung der Demokratie in den osteuropäischen Reformländern voranzutreiben. Ihr Aufschub wirkt dagegen kontraproduktiv und stärkt nur die radikalen und antidemokratischen Kräfte in Osteuropa. Postkommunistische Denk- und Aktionsformen sind in allen ehemaligen kommunistischen Staaten präsent und können bei einem langfristigen Ausbleiben von politischen und wirtschaftlichen Erfolgen jederzeit zu einer ernsthaften Destabilisierung der politischen Systeme führen
IV. Quo vadis Europa?
Die Ausführungen zeigen, dass ein verhängnisvolles Wechselspiel aus sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren Europa in Zukunft vor die Alternative von "Erosion oder Integration" stellt, wie es Außenminister Joschka Fischer in seiner Rede an der Humboldt-Universität im Mai 2000 skizziert hat
Wesentlich erfolgversprechender scheint der Vorschlag, einen "europäischen Konvent" einzurichten, den u. a. der Chefredakteur der Zeit, Roger de Weck, formuliert hat: "Ein Konvent wie derjenige, dem seit 1999 Altbundespräsident Roman Herzog vorsaß; dieser repräsentative Kreis von 62 Fachleuten hörte Dutzende gesellschaftliche Gruppen an, prüfte Hunderte Eingaben und informierte laufend im Internet, als er Europas Charta der Grundrechte erarbeitete, die jetzt in Nizza proklamiert wurde."