Einleitung
"Deutschland kann und will keinen Sonderweg gehen. Wir sind im Bündnis ... erwachsen
geworden. Wir wollen das auch bleiben. Deshalb sind wir heute ohne jedes Wenn und Aber bereit,
als 'normale' Alliierte Verantwortung zu übernehmen - ob in der EU oder in der NATO."
"Das Deutschland, für das ich arbeite, ist ein stolzes, ein solidarisches Land ... ich nenne es
'unser Deutschland' ... Unser Deutschland vertraut auf seine eigene Kraft. ... Unser Deutschland ist ein selbstbewusstes Land. ... Unser Deutschland genießt Respekt und Ansehen in der Welt.
Weil wir Partner und Vorbild sind. Weil wir das Europa der Völker bauen und weltweit Frieden
und Menschenrechte sichern und schützen helfen. Und weil wir deshalb unsere nationalen
Interessen nicht verstecken müssen. Das ist unser deutscher Weg. Für diese Vision kämpfe und arbeite ich."
Einleitung: "Deutsche Wege"
Die "Weg"-Metapher hat im Zusammenhang mit Deutschlands Rolle in der Welt immer wieder für Unruhe gesorgt. Historisch tauchte sie zumeist dann auf, wenn "Deutsches" von "Nicht-Deutschem" abgegrenzt werden sollte. Vor dem Zweiten Weltkrieg ging es dabei weniger um Fragen der Außenpolitik. Im 18. und 19. Jahrhundert etwa musste die vermeintliche Differenz zwischen dem "deutschen" und dem "westlichen" Geist herhalten, um "Deutsches" gegenüber "Nicht-Deutschem" hochhalten zu können. Später war es die Gegenüberstellung einer idealtypischen "deutschen" Verschmelzung des "Kriegers" und des "Denkers", die mit einem westlichen "Händlerideal" kontrastiert wurde. In der jüngeren ("Nachkriegs-") Vergangenheit waren allerdings die früher vorherrschenden positiven Konnotationen eines "deutschen Weges" durch die erdrückende Überlagerung "deutscher" Assoziationen mit Hitler und dem "Dritten Reich" weitgehend desavouiert. "Deutsche Wege" waren "sonderwegsverdächtig" - und entsprechend abwegig. Da sich diese Sonderwegsverdächtigungen zumeist gegen konservative oder "rechte" Kräfte richteten und die Tabuisierung "deutscher Wege" lediglich am äußersten rechten Rand in Frage gestellt wurde, fand die "Weg"-Metapher im außenpolitischen Diskurs Deutschlands bis in die Gegenwart keinen großen Widerhall. Dies änderte sich erst mit Gerhard Schröders Wahlkampfauftritt im August 2002.
Im Folgenden werde ich kurz jene machtpolitischen Konnotationen rekapitulieren, mit denen diese Formel bei ihrer Neuprägung durch den Bundeskanzler absichtsvoll versehen wurde. Ferner werde ich im nächsten Abschnitt kurz erörtern, warum sie auf eine genauso breite wie widersprüchliche Resonanz traf. In einem zweiten Schritt argumentiere ich, dass die Debatte um einen "deutschen Weg" keineswegs nur ein Oberflächenphänomen darstellt, sondern auf grundlegendere Verschiebungen in der außenpolitischen Orientierung sowohl deutscher Eliten wie auch der breiteren deutschen Öffentlichkeit verweist. Sodann entwickle ich die These, dass die Intuitionen und Überzeugungen über die zukünftige Ausrichtung deutscher Außenpolitik, die der Formel vom "deutschen Weg" zugrunde liegen, an alte Themen anknüpfen, die mit Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt seit dem späten 19. Jahrhundert verknüpft sind. Ich werde dabei die "Weg"-Metapher aufgreifen und in der üblichen politisch-instrumentellen Verwendung als gefährlich und irreführend kritisieren, in analytischer Hinsicht jedoch als nützlich ausweisen, weil sie wertvolle Perspektivenerweiterungen liefern und zu einem besseren Verständnis deutscher Außenpolitik in einem größeren historischen Zusammenhang beitragen kann.
Zugespitzt läuft dieses Argument auf die These hinaus, dass der "deutsche Weg" aus strukturellen Gründen nie jenem mythischen - in vieler Hinsicht sehr deutschen - stillen und einfachen "Feldweg" glich, den beispielsweise der Philosoph Martin Heidegger Anfang der fünfziger Jahre in einem schmalen Bändchen geradezu hymnisch besungen hat. Vielmehr glich er in aller Regel zwei gefährlichen Abschnitten eines Bergweges: dem Anstieg zum Gipfel und der Wanderung auf dem Grat. Wie man diese Bergweg-Metapher im Blick auf die Geschichte deutscher Außenpolitik typologisch nutzen kann, wird in diesem Abschnitt diskutiert. Dabei wird zumindest angedeutet, warum eine klare typologische Zuordnung der Außenpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung nicht leicht fällt. Ähnliches gilt für den derzeitigen außenpolitischen Diskurs in einem breiteren Sinne. In beiden Fällen gibt es zahlreiche Hinweise, welche die gegenwärtige Phase als eine entscheidende Weggabelung in der deutschen Außenpolitik erscheinen lassen.
Abschließend werde ich diese Weggabelung im Hinblick auf die gegenwärtige Strategiediskussion etwas genauer beleuchten und zeigen, wie selbst in "unverdächtigen" Zirkeln jenes machtpolitische Vokabular restauriert wird, das bedenklich an alte Gipfelstürmerzeiten erinnert. Abschließend werde ich kurz darstellen, warum es für die Zukunft der deutschen Außenpolitik wichtig ist, die von weiten Teilen des gegenwärtigen Berliner Establishments schlecht geredete außenpolitische Traditionslinie der Bonner Republik zu rehabilitieren. Statt das Heil in einer "multipolaren" Welt zu suchen, die ein "Europa" der "UN-Willigen" unter deutsch-französischer Führung gegen alle "US-Willigen" (E. Bahr) in Stellung bringt, sollte sich Deutschland auf die Vorzüge bewährter Bonner Einbindungsstrategien besinnen. Dass diese allerdings unter den veränderten internationalen Rahmenbedingungen in einem "karolingischen" Europa mittlerweile weit schlechter aufgehoben sind als in einem Europa, welches das "Weimarer Dreieck" zwischen Polen, Deutschland und Frankreich zum neuen europäischen Kerns schmiedet, kann abschließend nur noch skizziert, aber nicht mehr detailliert begründet werden.
Schröders "deutscher Weg" als "Heimkehr"
In auffälligem Kontrast zu seinen Vorgängern bezeichnete Bundeskanzler Schröder zu Beginn der "heißen Phase" des Bundestagswahlkampfes 2002 "unseren deutschen Weg" als seine ganz persönliche "Vision", für die er in Zukunft "kämpfen und arbeiten" wollte. So konkretisierungsbedürftig die Rede vom "deutschen Weg" auch war, kaum ein Beobachter hatte Zweifel, dass der subtile Verweis auf das vermeintliche "Verstecken" "nationaler Interessen" unter der Vorgängerregierung Helmut Kohls eine deutlich "nationalere" Akzentsetzung signalisierte - und signalisieren sollte. Prompt stellten sich auch jene Reaktionen ein, die angesichts der historischen Konnotationen wie auch der politischen Instrumentalisierung des Begriffes zu erwarten waren. Die "Neue Rechte" applaudierte, die alte "Linke" suchte irritiert Deckung in passfähigen Deutungen. Das Interessanteste am Reaktionsspektrum jedoch war, wie sehr die "links-rechts"-Koordinaten der Republik durcheinander gewirbelt wurden.
Auf der einen Seite fand sich eine numerisch kleine, politisch aber sehr breite Koalition der Mitte, die in den Zeiten der Bonner Republik nie zusammengefunden hatte, die sich aber in ihrer Wertschätzung dieser Phase bundesrepublikanischer Geschichte bei allen vergangenen Grabenkämpfen weitgehend einig war. In ihrem Widerspruch gegen den Bundeskanzler einte sie vor allem die Überzeugung, dass sie sich von Schröder nicht einreden lassen wollte, Deutschland sei vor 1998 "selbstbewusstlos" durch die Welt getorkelt und erst mit seiner Wahl richtig "erwachsen" geworden. So unterschiedliche Intellektuelle wie der konservative Historiker Michael Stürmer oder Jürgen Habermas fanden in ihrer Kritik zu ähnlichen Formulierungen. Stürmer etwa machte sich über die "nationalen Donnerworte" lustig, die als "Echo" des "Wilhelminismus" aus dem Kanzleramt schallten. Habermas hatte seinerseits bereits Anfang 1999 die "linksnationale Sinnverschiebung" eines "ebenso medienempfindlichen wie normativ entkernten Kanzleramts" gebrandmarkt und die "flotten nationalen Sprüche" kritisiert, mit denen "der Kanzler ... die verdutzten Leitartikler der FAZ ihrer Lieblingsfloskeln" "enteignet" habe.
Die bunte Mischung dieser alten "Bonner Republikaner" wurde jedoch in ihrer Farbenpracht durch die neue Unterstützer-Koalition des Bundeskanzlers noch deutlich übertroffen. Von Vertretern der Friedensforschung über Prominente aus der intellektuellen Szene bis zur "Neuen Rechten" fand Schröders "deutscher Weg" regen Anklang. Die Assoziationen, die hier wie dort geweckt wurden, hatten zwar häufig nur den kleinsten gemeinsamen Nenner einer "deutschen" Worthülse, die inhaltlich nicht nur unterschiedlich, sondern teilweise gegensätzlich gefüllt wurde. Im eher "linken" Lager wurde der "deutsche Weg" vor allem von jenen unterstützt, welche die "selbstbewusste Nation" mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes gekoppelt sehen wollten. Hier blieb der Blick auf die Vorbereitungen eines "Präventivkrieges" der USA fixiert, der mit dem grundgesetzlichen Verbot von Angriffskriegen unvereinbar schien. So argumentierte beispielsweise der Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Dieter S. Lutz, dass "bereits ein knapper Streifzug durch die nunmehr fast fünfzigjährige bundesdeutsche Geschichte belegt, dass es in Fragen der Friedens- und Sicherheitspolitik tatsächlich eine Vielzahl spezifischer deutscher Elemente gibt". Diese Elemente ließen es zu, "ja verlangen sogar danach, von einem ,Deutschen Weg` zu sprechen". Zudem könne man einen solchen Weg "zu Beginn des 21. Jahrhunderts eben auch als modern und dynamisch" bezeichnen.
Für eine zweite Gruppe eher unkonventioneller Intellektueller steht der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk, der sich trotz seines Bekenntnisses als Wähler von Bündnis 90/Die Grünen vor allem deshalb als eifriger Unterstützer Gerhard Schröders empfahl, weil dieser die Deutschen gleichsam aus einer selbstverschuldeten "europäisierten" Psychose erlöst habe: "Deutschland ist nach dem Krieg groß geworden in einer Rhetorik der Leugnung deutscher Sonderwege. Wir haben uns quasi selbsttherapeutisch europäisiert und eine Art Quarantäne über die deutsche Mentalität verhängt, wenn es darum geht, nationale Interessen auszusprechen. ... Bis tief in die Ära Kohl hinein war deutsche Außenpolitik von dem Bewusstsein geprägt, dass wir uns auf der Sonderschule der Demokratie den Abschluss erst mühsam erarbeiten müssten. Schröder war, wenn man so will, der erste Kanzler der Normalität. Mit seiner Wahlkampfwendung vom deutschen Weg wurde sozusagen die Heimkehr der deutschen Demokratie in die Familie der nicht neurotischen Gesellschaften gefeiert." In seinem Widerstand gegen die Bush-Administration habe sich der "Undiplomat Schröder" dabei geradezu zu "einem legitimen Sprecher des europäischen Typs von Westlichkeit" aufgeschwungen, denn das für manche "ärgerliche Wort vom ,deutschen Weg`" würde erst durch sein "ruhiges, immanent europäisches Format verständlich".
Dieses "europäische Format" war bei aller Wertschätzung, die man Sloterdijk in rechten Kreisen entgegenbrachte, allerdings gerade nicht das, was man auf diesem Flügel an Schröders "deutschem Weg" schätzte. Bei dieser dritten Fangemeinde, die beispielhaft durch die sich selbst der "Neuen demokratischen Rechten" zuordnende Wochenzeitung "Junge Freiheit" (JF) vertreten wurde, glänzte der Kanzler vielmehr deshalb, weil er mit "sicherem Instinkt" die neue Lage richtig erkannt "und eine dafür adäquate Sprache gefunden" hatte. Mit einer Reihe "recht interessanter Begriffe" - "Schröder benutzte Worte wie ,souverän` und ,selbstbewusst`" - habe er Amerika gegenüber deutlich gemacht, "dass nicht die rheinisch-westlerische Perspektive mehr das Handeln eines deutschen Kanzlers bestimmt". Gegen den vielerorts zu vernehmenden Vergleich Gerhard Schröders mit Wilhelm II. nahm die JF den Kanzler ausdrücklich in Schutz. Ein solcher Vergleich sei "deplatziert und unpassend". Sie fügte allerdings sogleich hinzu, dass "auch Wilhelm II. ... keineswegs so ,blöd` (war), wie ihn die heutige konformistische Geschichtsschreibung darstellt". Schröders Leistung stach aus diesem Blickwinkel jedenfalls umso mehr hervor, als die Vertreter von CDU und CSU nur "satellitenhaft die Treue gegenüber Amerika" beschwören und "in der Begriffswelt der achtziger Jahre" rechtfertigen wollten, warum sie als "Sühnedeutsche" ihre Amerikatreue noch immer mit der Befreiung nach Auschwitz verknüpften.
Der "deutsche Weg" als weltpolitischer Geltungsdrang
Die kurze Skizze des Reaktionsspektrums auf Schröders "deutschen Weg" zeigt, dass der Bundeskanzler mit seiner Forderung auf ein genauso heterogenes wie aufnahmewilliges Publikum trifft - ein Publikum, das nach dieser Art der "deutschen Erlösung" geradezu lechzt. So unterschiedlich Schröders Unterstützer auch motiviert sein mögen, was sie vom linken bis zum rechten Rand eint, ist allem Anschein nach ein ungestilltes weltpolitisches Geltungsbedürfnis. Für diese Vermutung lassen sich diverse Belege anführen.
Die von Schröder in jüngster Zeit häufiger zu vernehmende Formulierung, dass Deutschland den USA "auf gleicher Augenhöhe" begegnen will, ist hier nur die Spitze eines Eisberges. Ähnliche Indizien mangelnden Selbstwertgefühls finden sich gehäuft am rechten Rand, aber auch bei den prominenten Stichwortgebern im konservativen Spektrum (A. Baring, G. Schöllgen) wie auch im linken Lager (E. Bahr). Sie zeigen sich zweitens darin, wie sich die Wunschvorstellung einer "Verschweizerung" deutscher Außenpolitik, wie sie von den Deutschen noch 1990 geäußert wurde, in heutigen Umfragen geradezu ins Gegenteil verkehrt hat. Damals wollten sich die Deutschen im Blick auf die Jahrtausendwende noch zu 75 Prozent aus internationalen Konflikten "eher heraushalten" und nur zu 25 Prozent "eher einmischen". Im Frühjahr 2003 bot sich ein deutlich anderes Bild. Im Kontext der sich zuspitzenden Irakkrise meinten 45 Prozent der Deutschen, dass "Deutschland und Europa" den USA "zukünftig bei der Neuordnung der Welt Einhalt gebieten" sollten. Nur 14 Prozent wollten die USA bei der Neuordnung "unterstützen", "sich heraushalten" wollte aber auch nur ein Drittel der Befragten. Diese Verkehrung der Einschätzung spiegelt sich auch in den Antworten auf die seit den frühen neunziger Jahren wiederholt gestellte Frage, ob Deutschland "mehr Verantwortung in der Welt übernehmen" oder sich eher "zurückhalten" sollte. Meinten 1991 noch 56 Prozent der Deutschen, dass ihr Land sich zurückhalten sollte (31 Prozent wollten bereits damals "mehr Verantwortung" übernehmen, votierten 2002 nur noch 29 Prozent für "zurückhalten", nun aber 41 Prozent für "mehr Verantwortung".
Gerade diese Zahlen deuten drittens aber auch darauf hin, welche fundamentalen Widersprüche zwischen Gestaltungsanspruch einerseits und einer entsprechenden materiellen Untermauerung andererseits durch kraftmeierische Rhetorik überdeckt werden. Als die Deutschen 1990 gefragt wurden, aus einer langen Liste von Aufgaben jene zu nennen, für die sie "deutlich mehr" aus dem Bundeshaushalt investieren würden, rangierte der Umweltschutz mit 86 Prozent unangefochten an der Spitze, gefolgt von Sozialstaatsausgaben mit immer noch beeindruckenden Mehrheiten sowie Infrastrukturausgaben mit Unterstützungswerten zwischen einem Drittel und einem Fünftel der Befragten. Nur 16 Prozent wollten demgegenüber mehr für Entwicklungshilfe und kein einziger ("0 Prozent") mehr für die Bundeswehr ausgeben.
Neuere Umfragedaten lassen mittlerweile zwar erkennen, dass sich eine Mehrheit der Deutschen nach den drastischen Kürzungen bei der Bundeswehr im Laufe der neunziger Jahre gegen weitere Einschnitte ausspricht und nur noch ein Viertel bei der Bundeswehr sparen will. Wenn allerdings direkt danach gefragt wird, ob der Verteidigungshaushalt erhöht werden soll, wird diese Option höchstens von einem Drittel befürwortet, während sich die Hälfte der Deutschen dagegen ausspricht. Diese Daten sind deshalb nicht sehr verwunderlich, weil einer anderen, neueren Umfrage zufolge die Deutschen weltweit zu jenen zu rechnen sind, die sowohl ein vergleichsweise optimistisches Bild von ihrer "nationalen" wie auch der "internationalen Sicherheit" zeichnen. Umso erstaunlicher ist dann allerdings wiederum, dass mittlerweile 70 Prozent der Deutschen meinen, dass "die Europäische Union ... wie die USA zur Supermacht werden" sollte und von diesen immerhin noch die Hälfte selbst dann bei dieser Forderung bleiben würde, "wenn das größere militärische Ausgaben mit sich bringen würde". Zwischen den realen Aufwendungen deutscher Steuergelder für internationale Aktivitäten einerseits und dem durch Umfragen wie auch Kanzlerreden reklamierten gesteigerten Gestaltungsanspruch andererseits klaffen also Welten. Wenn man zudem in Betracht zieht, dass die entsprechenden Ausgaben in den USA nicht nur um ein Vielfaches höher liegen, sondern im Unterschied zu Deutschland auch steigen, erscheint der Anspruch, den USA "auf gleicher Augenhöhe" zu begegnen, wenig überzeugend.
Gratwanderungen in der Geschichte der deutschen Außenpolitik
Dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutscher Außenpolitik Widersprüche bestehen, ist historisch nicht neu. Sie sind für einen bestimmten Typus sogar kennzeichnend. Es ist zwar eine Vereinfachung, die wichtigsten Perioden deutscher Außenpolitik seit der Reichsgründung auf einen von zwei Typen zu reduzieren, für einen ersten Zugriff ist diese Aufteilung aber deshalb recht instruktiv, weil sie mit Blick auf die gegenwärtige Krise sowohl einige wichtige Aspekte akzentuiert wie auch erste Hinweise liefert, was getan werden könnte, um die mit dieser Widersprüchlichkeit einhergehende Krise der deutschen Außenpolitik zu meistern. Wenn man den politisch überfrachteten Begriff des "deutschen Weges" analytisch in die Metapher vom "Bergweg" wendet, könnte dies in diesem Sinne hilfreich sein.
Der "Bergweg" steht in dieser Bildsprache für ein schwieriges, mitunter gefährliches Terrain, das zahlreiche Unwägbarkeiten birgt und daher Ausdauer und Geschicklichkeit erfordert. Dies gilt zumal für jene beiden Abschnitte des Wegs, die hoch zum Gipfel und oben auf dem Grat entlang führen. Auf diese beiden Abschnitte können in einem übertragenen Sinne alle wichtigen Perioden deutscher Außenpolitik seit der Reichsgründung verteilt werden. Auf der einen Seite stehen dabei jene Phasen, in denen die Deutschen ungeduldig zum Gipfel strebten. Den drei wichtigsten außenpolitischen Gipfelstürmern - Wilhelm II. und Hitler, in Teilen aber auch Bismarck - gelang dabei im ersten Anlauf zumeist ein eindrucksvoller Aufstieg. So sahen es jedenfalls viele ihrer Zeitgenossen. Sie führten Deutschland aber auch jeweils direkt oder indirekt aufgrund gewagter oder gar verbrecherischer Manöver in den Abgrund. Im Falle von Wilhelms II. Streben nach einem "Platz an der Sonne" ist dies genauso augenfällig wie bei Hitlers europäischen und Welteroberungsplänen. Aber selbst bei Bismarck lässt sich unschwer nachvollziehen, wie machtpolitische Ambitionen letztlich ins Verderben führen können. Zwar genießt er unter Historikern noch immer den Ruf, wie wenige andere das Geschick besessen zu haben, die seit der Ausrufung des Kaiserreichs 1870/71 prekäre machtpolitische Lage in der Mitte Europas durch ein ausbalanciertes Netz von Bündnissen zum Vorteil Deutschlands abgesichert und in Teilen sogar ausgebaut zu haben. Bismarck war aber auch derjenige, der durch seine unübersehbar machtpolitisch motivierten Einigungskriege jene Situation erst schuf, die später zum Absturz führte. Seine Kriegserfolge machten es notwendig, eine prekäre europäische Machtbalance zu erhalten. Anders formuliert: Bismarcks Gipfelbesteigung trieb Deutschland in solch Schwindel erregende Höhen, dass sich dort selbst ein diplomatisches "Genie" wie er auf Dauer nur mit viel Glück hätte halten können. Hinzu kommt, dass ohne die von ihm betriebene Machtakkumulation im Zentrum Europas jene "Einkreisungsängste", denen Wilhelm II. nur durch einen Krieg zu entkommen wähnte, nicht so einfach hätten entstehen können. Kurzum, jene Perioden deutscher Außenpolitik, die (versteckt oder offen) als Machterweiterungsprojekte betrieben wurden, haben Deutschland im Ergebnis stets unsicherer gemacht und zumindest in zwei Fällen Gegenmachtbildungstendenzen hervorgerufen, die in einer Eskalationsspirale in den Krieg mündeten.
Den Gipfelstürmern gegenüber stehen die außenpolitischen Gratwanderer. Im Unterschied zu jenen gehen diese in einer zentralen Hinsicht von einer gänzlich anderen Situationsbeschreibung aus. Wo die Gipfelstürmer - getrieben entweder von "Verfolgern" oder angezogen von den vermeintlichen Verlockungen der höchsten Höhen - kraftstrotzend den Aufstieg forcieren, wähnen sich die Gratwanderer bereits auf einer Höhe, die nur schwerlich zu überbieten ist. Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit ist hier nicht gefordert, um nach oben zu kommen, sondern um die Höhe zu halten und die Wanderung auf einem gefährlichen Grat zu bestehen, ohne links oder rechts abzustürzen. Zu solchen außenpolitischen Gratwanderern zählte in der Zeit nach der erfolgreichen Reichsgründung gewiss auch Bismarck. Zu ihnen zählten aber vor allem die Kanzler von Adenauer bis Kohl. Gewiss, das Streben nach "Gleichberechtigung", das älteste Thema deutscher Außenpolitik seit der Reichsgründung, markierte auch ihren Weg. Insbesondere in der Adenauer-Zeit kam dies in der Forderung zum Ausdruck, bestehende "Singularisierungen" abzubauen, die den Deutschen als Folge der NS-Verbrechen auferlegt worden waren. Die Lehren der Vergangenheit, die eingeschränkte Souveränität und ein drohender nuklearer Krieg im Zentrum des Ost-West-Konflikts fokussierten jedoch die ganze Aufmerksamkeit nicht nur darauf, einen Absturz zu vermeiden, sondern die ganze Gruppe auf sicherere Höhen hinabzuführen. An Gipfelbesteigungen war nicht zu denken, und selbst als sich die unerhoffte Möglichkeit der Vereinigung ergab, wurde sie von nahezu allen deutschen Entscheidungsträgern nicht als Vorstufe zu einem neuen deutschen Aufstieg, sondern als Chance betrachtet, alle Europäer auf das sichere Plateau einer weiten Hochebene hinabzugeleiten, wo Abstürze für niemanden mehr drohen konnten. Dieser Höhepunkt war möglicherweise Mitte der neunziger Jahre erreicht, als Helmut Kohl im Bundestag auf die historisch einzigartige Situation hinwies, dass Deutschland mit den USA, Frankreich, Großbritannien und Russland nicht nur jeweils einzeln, sondern kollektiv "sehr gute, herzliche und freundschaftliche Beziehungen" pflegte.
Die falsche Blickrichtung bei der "Operation Augenhöhe"
Die Unterscheidung zwischen Gratwanderern und Gipfelstürmern ist sicherlich stark vereinfachend. Wenn man sie allerdings - unabhängig davon, ob die Verortung der historischen Perioden im Einzelnen jeweils gerechtfertigt erscheint - alles in allem für einigermaßen hilfreich erachtet, könnten darin einige wichtige Erkenntnisse für Gegenwart und Zukunft deutscher Außenpolitik enthalten sein. Zu fragen wäre dann etwa, auf welchem Abschnitt des Weges wir uns derzeit befinden, d.h., welche Situationsbeschreibung heute in der Wahrnehmung außenpolitischer Entscheidungsträger und Experten, aber auch der breiteren Öffentlichkeit handlungsleitend ist: Befinden wir uns (im Bild des Bergwegs) am Anfang eines neuerlichen Gipfelanstiegs, in einer anhaltenden Gratwanderung oder entspannt auf einem Hochplateau?
Die Beantwortung dieser Frage wird sicherlich kontrovers ausfallen. In meiner Deutung überwiegen alles in allem jedoch die Warnhinweise auf verlockende neue Gipfelabenteuer. Gewiss, wenn Gerhard Schröder den europäischen Nachbarn ein "stolzes", "starkes" und "normales" Deutschland ankündigt, das mehr "Respekt" erwartet und seine Interessen zukünftig "so wie die anderen auch" vertreten wird (beispielsweise dadurch, dass die ungleichen Beitragsleistungen in der EU zu Lasten Deutschlands "ganz selbstbewusst und interessengerecht ... in Ordnung" gebracht werden), dann droht damit in einer hoch vernetzten und weitgehend integrierten Union noch nicht der Rückfall in das Zeitalter europäischer Großmachtrivalität im 19. Jahrhundert. Es kann allerdings auch keine Rede davon sein, dass sich deutsche Außenpolitik mit dieser Haltung von jener "Verantwortungspolitik" leiten lässt, die der frühere Außenminister Genscher der klassischen "Machtpolitik" gegenüber stellte und die zumeist auch mit Deutschland als selbst stilisierter "Zivilmacht" oder gar als weltweit angesehenem "Partner und Vorbild" (G. Schröder) assoziiert wurde. Die in Berlin zunehmend beobachtbaren, zumeist mit dem "Selbstbewusstseins"-Etikett überklebten Eigenmächtigkeiten, sprechen hier eine eindeutige Sprache. Es sind dies nämlich genau jene Verhaltensweisen, die sich "Großmächte" immer schon meinten herausnehmen zu können - und als Ausweis ihrer Großmächtigkeit eben auch herausnahmen. Im deutschen Fall gehören zu solchen Großmachtgebärden beispielsweise die vom Bundeskanzler propagierte Nicht-Beteiligung Deutschlands an Maßnahmen gegen Saddam Husseins Irak, denn in einem klaren Bruch mit der bundesrepublikanischen Tradition schloss der Kanzler im Wahlkampf eine Teilnahme Deutschlands selbst für den Fall aus, dass im UN-Sicherheitsrat ein gemeinsamer Beschluss herbeigeführt werden würde. Ähnliches gilt für die jüngste Suspendierung des EU-Stabilitätspaktes.
Nicht minder wichtig für die außenpolitische Situationsbeschreibung ist allerdings auch, wovon sich die außenpolitische Expertengemeinschaft und die deutsche Öffentlichkeit leiten lassen. Auch hier sind die Warnsignale unübersehbar. Trotz einer deutlichen Kluft zwischen deutschem Gestaltungsanspruch und deutscher Gestaltungsfähigkeit wird in zahlreichen Strategieempfehlungen eine Politik befürwortet, die einer seriösen Fundierung entbehrt. Die außenpolitische Seriosität eines Landes ist dabei relativ einfach zu bestimmen: Sie ist umso größer, je kleiner die Kluft zwischen Gestaltungsanspruch und Gestaltungsfähigkeit ist. Wenn beispielsweise der Bundeskanzler den USA "auf gleicher Augenhöhe begegnen" will, dann ist dieser Anspruch in dem Maße seriös, wie Schröder im Vergleich zu den USA vergleichbare oder zumindest äquivalente Ressourcen aufwenden kann. Diese Ressourcen müssen dabei keineswegs vordergründig militärischer Art sein. Wenn es den Deutschen etwa gelänge, eine überwältigende Staatenkoalition zustande zu bringen, die eine andere Weltordnung anstrebte als die USA, so wäre dies durchaus eine beachtliche Ressource, die den weltpolitischen Gestaltungsanspruch glaubwürdig untermauern könnte. Eine solche Ressource deutete sich zumindest kurz an, als Deutschland zusammen mit Frankreich und Russland eine Ablehnungsfront gegen die amerikanischen Irak-Pläne formierte. Die "Augenhöhe" der USA erreichte Schröder in diesem Fall allerdings trotzdem nicht. Zudem stand er gegenüber dem amerikanischen Präsidenten machtpolitisch auch nur deshalb etwas erhöht, weil er rechts und links von Chirac und Putin gestützt wurde.
Da sich die Irak-Konstellation nur schwer wiederholen lassen wird, wird sich der "Augenhöhen"-Anspruch auf diesem Wege nicht einlösen lassen. Mehr noch, zu seiner Verwirklichung fehlt es auch an jenen klassischen Machtressourcen, die Großmächte traditionellerweise auf die Waagschale werfen, wenn sie ihren Machtansprüchen "Respekt" verschaffen wollen. Zum einen fehlen den Deutschen - gewollt und aus guten Gründen - die entsprechenden militärischen Ressourcen. Zum anderen fehlen ihnen aber immer öfter (und gewiss ungewollt) auch jene ökonomischen Ressourcen, mit denen es in bundesrepublikanischen Blütezeiten noch gelang, deutsche Zielvorstellungen eher unwilligen Kooperationspartners politisch schmackhaft zu machen. In der Konsequenz bedeutet diese doppelte Ressourcenlücke, dass die sich zunehmend öffnende Schere außenpolitischer Seriosität nur auf zwei Wegen geschlossen werden kann: a) indem die ambitionierten Ansprüche den deutlich eingeschränkteren Fähigkeiten angepasst und entsprechend reduziert oder b) die Fähigkeiten ausgebaut werden.
Ein zentrales (und Besorgnis erregendes) Kennzeichen des gegenwärtigen außenpolitischen Diskurses besteht nun darin, dass nahezu ausschließlich die zweite Variante ins Auge gefasst wird, um die Glaubwürdigkeitskrise der deutschen Außenpolitik zu überwinden. Besorgnis erregend ist dies aus zwei Gründen: zum einen, weil die überambitionierten Ziele deutscher Außenpolitik als solche gar nicht mehr in Frage gestellt werden; zum anderen, weil die empfohlenen Mobilisierungsstrategien in realistischer Anerkennung der begrenzten innerstaatlichen Ressourcen in der Regel nach außen gerichtet werden und dann zumeist offen mit mindestens einem von zwei (nicht selten aber mit beiden) traditionellen Pfeilern deutscher Außenpolitik, der europäischen und der atlantischen Orientierung, kollidieren. Die erste Kollision resultiert aus einer Strategie, der zufolge deutsche Ressourcen (z.B. in Form des Stimmengewichts in der Europäischen Union) verstärkt zum Zwecke der innereuropäischen Durchsetzung eng definierter "nationaler Interessen" mobilisiert werden sollen. Dabei geht es beispielsweise darum, die "Nettozahler"-Belastungen zu reduzieren oder (nach britischem oder französischem, mittlerweile aber auch spanischem oder polnischem Vorbild) deutsche Interessen notfalls auch mit entsprechendem Druck durchzusetzen. Auch hier gibt das deutsche Verhalten im Zusammenhang mit der Suspendierung des Stabilitätspakts einen Vorgeschmack. Nicht immer, aber häufig läuft diese Strategie im Ergebnis darauf hinaus, dass sich Deutschland angesichts der härteren Gangart, die die europäischen Partner zu erwarten hätten, weiterhin möglichst eng an die USA anlehnen sollte.
Die zweite Kollision resultiert aus einer Strategie, bei der die USA in die Rolle desjenigen gerückt werden, gegen den ambitionierte "europäische" Weltordnungsvorstellungen durchgesetzt werden sollen. Hier wird häufig auf ein älteres (ursprünglich jedoch mit anderen Intentionen erstelltes) "Kerneuropa"-Konzept zurückgegriffen, um die von den "US-Willigen" abgegrenzten europäischen "UN-Willigen" (E. Bahr) zu einer schlagkräftigen Formation zusammenzuschweißen. Gerade dieser zweite, selten offen antiamerikanische, in letzter Konsequenz aber immer gegen amerikanische Vormacht gerichtete Mobilisierungsversuch findet zunehmend breite Unterstützung. Auffällig ist daran vor allem die breite intellektuelle Unterstützung von der Linken (J.Habermas) bis weit ins rechte Lager (E. Nolte).
Sowohl die Anlehnungs- wie auch die Auflehnungsstrategie im Blick auf die USA besitzen insofern einen realistischen Kern, als sie die Grenzen innerstaatlicher Ressourcenmobilisierung ahnen. Besorgnis erregend sind sie allerdings deshalb, weil sie statt einer Reduzierung der Ambitionen auf eine nach außen gerichtete Ressourcenmobilisierung setzen, die in der einen oder anderen Form unweigerlich mit machtpolitischen Durchsetzungsstrategien einhergehen muss - Strategien, die bislang nicht zum Repertoire bundesdeutscher Außenpolitik gehörten und in einer längeren historischen Linie schon gar nicht mit außenpolitischen Erfolgen Deutschlands verknüpft sind.
Das "Weimarer Dreieck" als neuer europäischer Kern
Die Dramaturgie der bisherigen Argumentation muss konsequenterweise zu einer Alternative führen, welche die Seriosität deutscher Außenpolitik dadurch wiederherzustellen empfiehlt, dass nicht die Fähigkeiten den Ambitionen, sondern die Ambitionen den Fähigkeiten angepasst werden. Diese Empfehlung basiert aber nicht nur auf einem nüchternen Ressourcenkalkül, sondern auch auf einer Situationsbeschreibung, die sich von den meisten anderen unterscheidet. Im Unterschied zu jenen, die entweder neue Gipfelbesteigungen favorisieren oder Deutschland bereits auf einem sicheren europäischen Hochplateau angekommen sehen, basiert diese Empfehlung auf der Einschätzung, dass das Bild der Gratwanderung die gegenwärtige Lage noch immer besser trifft. Gewiss, von überlebensbedrohenden Gefährdungen wie zu Zeiten des Kalten Krieges ist Deutschland weit entfernt - ja, mehr noch: gemessen an alten Ambitionen hat das vereinigte Deutschland im Grunde alles erreicht. Einheit in Frieden und Freiheit, jene lange Zeit utopisch anmutende Formel außenpolitischer Ambitionen aus Bonner Tagen ist heute weitgehend Wirklichkeit. Und doch lauern angesichts der zunehmenden Risse in der atlantischen Allianz sowie der bevorstehenden, alle bisherigen Erweiterungsrunden in den Schatten stellenden Vergrößerung der Europäischen Union neuartige Gefahren, die anstelle der allseits propagierten expansiven außenpolitischen Strategie, die auf die USA fixiert bleibt, eher eine defensive Strategie der europäischen Konsolidierung nahe legen.
Die begrenzten Ressourcen und die Lehren der Vergangenheit, die eine nach außen gerichtete, auf machtpolitischen Durchsetzungsstrategien basierende Ressourcenmobilisierung als selbstschädigend erscheinen lassen, legen also eine Reduzierung der Ambitionen nahe. Was bedeutet dies konkret? Wenn man Gerhard Schröders "Augenhöhen"-Metaphorik übernehmen wollte, bestünde die Kernempfehlung dieser Alternative darin, die Fixierung auf die USA aufzugeben und den Blickkontakt mit unseren beiden wichtigsten Nachbarn, Frankreich und Polen, zu verstetigen. Statt einseitig entweder a) zusammen mit Frankreich "karolingische" Kerneuropa-Visionen zu verfolgen, die aufgrund klassischer französischer Fixierungen auf den weltpolitischen "Rang" Frankreichs in der einen oder anderen Form notgedrungen in eine Konkurrenz zu den USA degenerieren müssen, oder aber b) ein "britisches" Europa zu favorisieren, in dem Deutschland sich langfristig mit einer Reduzierung der Europäischen Union auf eine Freihandelszone zufrieden erklärt, die nicht nur Platz für eine weitere "nationale Normalisierung" schafft, sondern aufgrund der damit einhergehenden europäischen Entsolidarisierung ("Nettozahler"-Rabatt) auch deutsche Gelder von Brüssel nach Berlin zurückverlagert, sollte c) einer Strategie den Vorzug gegeben werden, die den neuen "Kern des europäischen Kerns" im sogenannten "Weimarer Dreieck" lokalisiert - jener Anfang der neunziger Jahre begründeten trilateralen deutsch-französisch-polnischen Kooperation, die nach dem Aussöhnungs- und Einbindungsmodell der deutsch-französischen Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde. Statt strategisch in die Ferne zu schweifen würden sich deutsche Energien auf das konzentrieren, was nahe liegt, wichtig und machbar ist und für eine weitere Konsolidierung des europäischen Friedens- und Wohlstandsmodells auch Gutes verspricht.
Das "Weimarer Dreieck" bietet sich aus mehreren Gründen als neuer Kern eines außenpolitischen Gesamtkonzeptes an. Erstens können sich auf diesem Weg nicht nur die auf die Europäische Union gerichteten Leitbildvorstellungen eines "solidarischen", als "Partner und Vorbild" fungierenden Deutschlands bewähren. Nicht minder wichtig wäre, dass ein nach außen geschlossen auftretender "Weimarer Kern" der EU international erhebliches Gewicht hätte, weil durch die unzweifelhaft proamerikanische Positionierung der Polen eine Spaltung der EU in ein "altes" (Amerika-kritisches) und ein "neues" (Amerika-freundliches) Europa wenig überzeugend wäre. Ein "Weimarer Kern" würde speziell aus deutscher Sicht damit zweitens auch den Vorzug haben, den zunehmend schwierigeren Spagat zwischen europäischer und atlantischer Orientierung aushalten zu können, weil mit Frankreich in glaubwürdiger Weise die EU und mit Polen in nicht minder glaubwürdiger Weise die NATO starke Fürsprecher hätte. Die Aufgabe Deutschlands bestünde darin, diese Spannung soweit zu mindern, dass sie produktiv werden könnte. Sie würde damit drittens nicht nur die Chance eröffnen, sowohl den europäischen wie auch den atlantischen Pfeiler deutscher Außenpolitik zu stabilisieren, sondern sie hätte auch den Vorzug eines Übungsfeldes für das, was unter den zukünftigen Bedingungen einer erweiterten Europäischen Union noch mehr als früher zum zentralen "nationalen" Interesse Deutschlands werden wird - nämlich die spannungsreichen "nationalen" Interessen der europäischen Nachbarn auszugleichen. Zudem würde sie auch jenen beiden Partnern, mit denen in den kommenden Jahren im Rahmen der Europäischen Union möglicherweise härtere Ressourcenkonflikte auszutragen sind, signalisieren, dass an der grundsätzlichen Verpflichtung Deutschlands zu einer solidarischen und fairen Partnerschaft ohne machtpolitische Attitüden keinerlei Zweifel besteht.