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Lesung von Imre Kertesz | Presse | bpb.de

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Lesung von Imre Kertesz Begleitprogramm zur Ausstellung "Idee Europa"

/ 4 Minuten zu lesen

Im Jahre 2002 wurde dem ungarischen Schriftsteller Imre Kertesz der Nobelpreis für Literatur verliehen. In seiner Rede verknüpft bpb-Präsident Thomas Krüger das Werk von Kertesz mit der Idee Europas.

Berlin


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte erst einmal erklären, wie man den Schriftsteller Imre Kertesz mit der Idee Europa überhaupt in Verbindung bringen kann. Immerhin hat Europa, ehe es dazu kam, ihn als Schriftsteller zu feiern, diesem nicht nur eine, sondern gleich zwei Diktaturen beschert: eine Vorkriegsdiktatur, - schrecklicher als je ein Herrschaftssystem zuvor -, und eine zweite Nachkriegsdiktatur, die erschreckend wenig aus der gerade Erlebten wirklich verarbeitet hat.

Trotz alledem: Herr Kertesz hat die Erfahrung des Nobelpreisbekommens als eine "Glückskatastrophe" bezeichnet. Und ich denke, dass der Glücksbegriff von Kertesz, wenn auch selbstverständlich im Kern ein allgemein menschlicher, im Laufe der Zeit eine zutiefst europäische Prägung erhalten hat.

Als der jugendliche Kertesz in die nationalsozialistischen Absonderungs- und Vernichtungsmaschinerien hineingezwungen wurde, spürte er natürlich ein einfaches und noch kindliches Verlangen nach Glück. Dieses Glück folgte Imre Kertesz beharrlich wie ein Schatten. Als er mit 15 aus Budapest deportiert wurde, schien ihn in den ersten Momenten das Glück der ersten Freiheit zu umwittern, - ähnlich wie jeden Wandergesellen auch. Betrachtete er in Buchenwald mit 16 distanziert die Glieder seines zusehends sich vergreisenden Körpers, so sah er vor seinem geistigen Auge die eigentlichen Verwandlungen einer gesunden Jugend. Schließlich entscheidet er, Jahre danach, in seinem Meisterwerk "Kaddisch für ein nicht Geborenes Kind", selbst niemals Kinder zu bekommen, so kommen ihm, ohne zu zögern zwei Bilder entgegen. Bilder von Kindern, die ihm trotzdem vorschweben: von einem Mädchen "dunkeläugig und sommer-sprossig" und einem "trotzigen Jungen, mit Augen so fröhlich und hart wie graublauer Kiesel."

Ein solches Mädchen war Anne Frank, mit einem ebenso kindlich-naiven Verlangen nach Glück, und ebenso wie Kertesz im Unglücksjahrgang 1929 geboren. Als 14jährige kurz vor ihrer Deportation und ihrem Tod hat sie das Verlangen nach Glück so ausgedrückt: "Glaub mir, wenn man eineinhalb Jahre eingeschlossen sitzt, dann kann es einem an manchen Tagen mal zuviel werden. Aller Berechtigung oder Undankbarkeit zum Trotz; Gefühle lassen sich nicht wegschieben. Radfahren, tanzen, pfeifen, die Welt sehen, mich jung fühlen, wissen, dass ich frei bin, danach sehne ich mich und doch darf ich es nicht zeigen, denn stell dir vor, wenn wir alle 8 anfingen, uns zu beklagen oder unzufriedene Gesichter zu machen, wohin soll das führen?" Das kindliche Glück blieb sowohl Frank wie Kertesz in der Wirklichkeit verwehrt, doch für Kertesz kam ein anderes, seltsameres Glück an seine Stelle.

Es gibt ein Leitmotiv in dem Werk von Kertesz, das er in seiner Nobelpreisrede wieder aufgegriffen hat: es bildet für ihn gewissermaßen einen künstlerischen Gründungsmythos. Als junger Mann, in den 50er-Jahren, wartet er in einem Budapester Amtsgebäude, er wartet auf irgendeine amtliche Bestätigung.

Er ist Mitte 20, schon ausgestattet mit dem Nervenkostüm eines Überlebenden, plötzlich hört er um die Ecke auf dem Flur Fußtritte, die dumpf widerhallen. Diese ergreifen ihn, und bald hört er nicht nur diese Schritte eines einzelnen Beamten, sondern von mehreren schreitenden Menschen und dann von Dutzenden und Hundertschaften. Er fühlt den Drang, sich in den Sog dieses zivilistischen Zapfenstreichrhythmusses hineinzubegeben. Doch er schafft es, der Versuchung nicht nachzugeben, und im selben Moment erkennt er, wie schwach das verbindende Gedächtnis zu seiner eigenen Vergangenheit, seiner Jugend in den Konzentrationslagern geworden ist. Er beschließt, an Ort und Stelle einen Blick zurück zu werfen, das heißt sein Leben zu rekonstruieren.

Eine seltsame Vision, die in dem Frühwerk "Fiasko" aufscheint und die in veränderter Form im späteren Werk "Der Spurensucher" wiederkehrt. Hier ist es schon in den 60er-Jahren und der hypersensible Beobachter und Erzähler befindet sich in Weimar, auf einer Recherchereise nach Buchenwald. Der große Schock dieser Reise ist dann, dass es sein Buchenwald nicht mehr gibt: alles ist geglättet und wegradiert. Wieder merkt er, dass er die Vergangenheit aus sich selbst schöpfen muss. Nicht die Welt, sondern er selbst ist der eigentliche Steinbruch. Dann, mitten in einem höllischen Verkehrsstau in der Stadt Weimar, in einer Masse von motorisierten Nachkriegsmenschen, stillstehend - in ihrer Eile zum Glück, hat er eine Vision, das Jüngste Gericht, vor Augen.

Er beobachtet am Rande des Staus einen jungen Mann mit langen strähnigen Haaren, seidigem kleinen Bart und pelzverbrähmter Jacke, der ernsthaft ins Geschehen blickt. Der Erzähler meint, das Gesicht zu kennen; es ist das Gesicht von Albrecht Dürer. Doch hätte es nicht auch François Villon aus dem 15. Jahrhundert sein können, oder Albert Camus aus dem 20. Jahrhundert? Ist es nicht ein europäischer Archetyp?

Für einen Denker seines Jahrhunderts ist es durchaus ungewöhnlich, dass Imre Kertesz das Glück nicht in irgendwelchen öffentlichen Utopien oder kollektiven Heilsversprechungen gesucht hat. Die reine private Utopie, ein ausschließlich von seinem Besitzer zu kultivierender Garten, wir wissen es schon, wurde ihm nicht gegeben und war ihm irgendwann einmal egal. Für Imre Kertesz wurde es das Glück, Zeuge der Wirklichkeit und des Schicksals zu werden, und zwar ein Zeuge mit hochentwickelten handwerklichen Fähigkeiten. Dieser Blick, der europäische Blick im besten Sinne, ist höchst individuell und subjektiv. Doch es ist kein Blick in irgendwelche morgenländischen Traumwelten, und auch nicht in irgendeine neuweltliche virtuelle Matrix. Es ist ein Blick in die allen gemeinsame Wirklichkeit, und der Respekt, den dieser Blick dieser harten Wirklichkeit zollt, ist der Respekt des Handwerkers vor der unnachgiebigen Materie. Wie Holz ist diese Wirklichkeit gewachsen, - knüppelhart und unnachahmbar schön. Europa ist zu alt und zu schuldig, um vor seinem Schicksal weglaufen zu können. Imre Kertesz beharrt auf das Schicksal aus Prinzip.

Fussnoten